Theatergeschichte

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

1.4.2 Gladiatorenspiele

Über die Herkunft der Gladiatorenspiele gibt es keine sicheren Nachrichten. Sie sind möglicherweise im unteritalienischen Kampanien aus bei Bestattungen dargebrachten Menschenopfern hervorgegangen und wurden dort auch bei Gelagen für Gäste abgehalten. Rom kam fast 500 Jahre ohne Gladiatorenspiele aus, und danach sah man sie bis Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. nur zu Begräbnisfeiern. Im Jahre 264 v. Chr. ließen bei der Bestattung des Junius Brutus Pera dessen Söhne Marcus und ­Decimus zum ersten Mal drei Paare Gladiatoren auf dem Ochsenmarkt fechten. 22 Paare fochten auf dem Forum anlässlich der Leichenspiele des Marcus Aemilius Lepidus 216 v. Chr., 174 v. Chr. fanden mehrere kleine Gladiatorenspiele statt, wobei an einem bereits 74 Mann drei Tage lang kämpften. Ab 105 v. Chr. wurden Gladiatorenspiele offiziell ausgerichtet, am Anfang vermutlich gerechtfertigt durch den Zweck militä­rischer Schulung in der Fechtkunst. Die Pracht der Ausstattung stieg parallel zur Zahl der Anlässe. Die Gladiatoren waren verurteilte Verbrecher, Kriegsgefangene, Sklaven und angeworbene Freiwillige. Die Verurteilung zum Gladiator und zum Kampf gegen wilde Tiere gehörten zu den verschärften Todesurteilen, die nur gegen Nichtbürger, Ausländer und in der späteren Kaiserzeit gegen Personen niederen Standes verhängt wurden. Doch konnten die Verurteilten sich in den Arenen „frei schlagen“, was ihre Motivation stärken und Selbstmorde verhindern sollte.68

Theaterwissenschaftlich interessieren die örtliche und gestische Hervorhebung, auch dingliche Attribute wie Waffen und Netze. Der Spielanteil jedoch schwindet graduell gegenüber den Wagenrennen und noch stärker gegenüber den Bühnenspielen. Lustvoll spielerisch handeln hingegen die verschiedenen Publikumsgruppen, wenn sie schreiend [<< 53] für Kämpfer Partei ergreifen und sich zusätzlich zum Geschehen an der Ausstattung und Exotik der Spiele ergötzen. Mit der Ausdehnung des Reiches holt man die Menschen – wie die Tiere für die Tierhetzen (Krokodile, Flusspferde, Elefanten, Löwen, Tiger, Bären) – aus immer entlegeneren Gebieten. Mit den fremden Kämpfern werden auch ihre Waffen, Trachten und Kampfarten eingeführt. Die Gladiatorenspiele mutieren zur Völkerschau als einem Mittel der Selbstverherrlichung Roms.

Durch Schauspiele jährlich besetzte Tage:

• Republik: sieben mehrtägige Spiele jährlich.

• Spiele unter Augustus (27 v. Chr.–14 n. Chr.): 65 Tage, 13 Tage Rennbahn, zwei Tage Prüfung der Rennpferde, zwei Tage Opfermahlzeiten, 48 Tage Bühnenspiele.

• unter Marcus Aurelius (161 – 180) circa 135 Tage.

• Mitte 4. Jahrhundert: 176 Tage, zehn Tage Fechterspiele, 64 Tage Zirkus,

102 Tage Bühnenspiele; dazu „außerordentliche Schauspiele“.69

1.4.3 Bühnenspiele

Ludi scaenici, eingeschlossen Tragödie und Komödie, Mimus, Pantomimus, die gegenüber den Zirkusspielen und den Gladiatorenkämpfen wesentlich weniger kosten und keine organisatorischen Schwierigkeiten verursachen, finden zwar am häufigsten statt, jedoch ist das Interesse an ihnen geringer als jenes an den großen Spektakeln. Rom besitzt in der Kaiserzeit drei stehende Theater. Sie fassen zusammen kaum die Hälfte der Zuschauer eines Amphitheaters.70 Das älteste steinerne Theater Roms ist das des Pompeius, erbaut im Jahre 55 v. Chr. für etwa 12.000 Zuschauer. Das des Balbus, 13 v. Chr. eingeweiht, fasst 6 – 7.000 und jenes des Marcellus, gleichzeitig errichtet, etwa 10.000. Vermutlich wird nur ausnahmsweise an großen Festen in allen drei Theatern zugleich gespielt, für gewöhnliche Aufführungen genügt wohl das Pompeiustheater. Der römische Festkalender expandiert. Neue Feste wie die Ludi Plebeii, die Ludi Apollinares, die Ludi Megalenses oder die Ludi Cereales kommen hinzu, ein Teil bereits bestehender Feste wird verlängert, und außerhalb des regulären Festkalenders veranstaltet man weitere Spiele zum Beispiel anlässlich von Trauerfeierlichkeiten, ­Triumphen oder kaiserlichen Geburtstagen. [<< 54]

Erste Tragödien und Komödien werden als Übersetzungen aus dem Griechischen bereits im Jahr 240 v. Chr. aufgeführt. Man nutzt in der Regel einfache Podiumsbühnen auf öffentlichen Plätzen. Mit den Komödien des Plautus und Terenz, den Tragödien des Quintus Ennius (239 – 169 v. Chr.) und Marcus Pacuvius (219 – 130 v. Chr.) löst man sich zögerlich von den griechischen Vorbildern. Es entstehen zwar eigene römische dramatische Gattungen, doch die Zensur ist so ausgeprägt, dass selbst die harmlosen Angriffe eines Plautus sich auf die Griechen beziehen mussten: Der Händler, dessen Sklave klüger ist als er selbst, der seine Frau beschimpft, den Sohn hintergeht. Kupplerei, Wucher, Hetärenwesen wird nach Griechenland verlegt, als wäre es kein römisches Problem. Als Terenz Plautus in dieser Tendenz nachfolgt, muss er bald in seinen Prologen beklagen, dass Aufführungen seiner Stücke abgebrochen wurden, weil das Publikum lieber Faustkämpfer, Seiltänzer und Gladiatoren sehen möchte. Krach und Weiberkreischen zwingen ihn zunächst zur Aufgabe, dann heißt es: Gladiatoren kommen! Und die Massen „prügelten sich um die Plätze; weiterspielen konnte ich da nicht“.71

Außerhalb eines kleinen Kreises von Gebildeten ist das Interesse für die Schicksale aus der Frühzeit Griechenlands abhanden gekommen. Den Zuschauenden erscheinen der Kothurn, die langen bunten Schleppkleider und die Masken mit der Mundöffnung hässlich oder lächerlich. Zumindest eine prunkvolle Ausstattung, Triumphzüge und Prozessionen braucht es, auch Tiere sind erwünscht; im Grunde alles, was man aus dem Zirkus und der Arena gewohnt ist. Sänger und Tänzer bieten ihre Leistungen selbstständig an, getrennt vom Wort der Tragödie, die vier Stunden und länger dauert. Pantomimen oder einzelne Tragöden offerieren bekannte Ausschnitte aus Dramen, was Beifall findet, selbst wenn sie in Maske und herkömmlichem Kostüm erscheinen. Unter solchen Umständen versteht man Cicero, der die römische Schauspielkunst als eine banale Voraussetzung für die wesentlich bedeutsamere Rhetorik ansieht. Ungeachtet dessen bleiben Dramen ein Bestandteil des Festspielprogramms. Von den Komödientexten mit römischem Stoff (fabula togata) scheint nur die Komödie Der Brand des Lucius Afranius noch während der Kaiserzeit aufgeführt worden zu sein, und zwar bei einem von Nero gegebenen Fest: Die Mitwirkenden durften die Einrichtung eines bei offener Szene abbrennenden Hauses plündern und als Eigentum behalten.72

Diese handfeste Rezeption eines Bühnendichters erklärt die Tendenz zum Lesedrama. Der in Literaturgeschichten beklagte niedrige Bildungsstand der Massen ist sicherlich in zweiter Linie verantwortlich zu machen, der Hauptgrund aber liegt in der [<< 55] unglaublichen Härte einer durch Eroberungskrieg definierten Gesellschaft im Verhältnis zu einer unangemessenen Dramatik. Das Drama des Lebens findet sich nicht im Drama der Bühne wieder. Sobald ein Schaumord diesen Mangel ausgleicht, füllen sich die Ränge. Schauspieler werden dann im Handlungsverlauf kurz vor dem Tod einer Figur durch einen „Verbrecher“, einen „Feind“ oder einfach einen Sklaven ersetzt, „der nun von den Tieren zerfleischt, lebend verbrannt oder nach verschiedenen Torturen ans Kreuz geschlagen wurde“.73 Für das Publikum erlischt das Spiel, es spürt den Nervenkitzel der Arena, sogar mit der Aussicht, im Anschluss an die grausame Tat wieder in eine spielerische Handlung eintauchen und auf dem Heimweg das Geschehen als eine spannende Theateraufführung diskutieren zu können. Der griechisch-römische Mythos bietet genug geeignete Szenen, aber man kann auch Dramatiker mit speziellen Variationen beauftragen oder Dramatiker kamen dem Auftrag zuvor.

„[Senecas] Medea bringt im Gegensatz zu den Meisterwerken des Sophokles und des ­Euripides all jene Gräueltaten auf die Bühne, die diese Autoren wohlweislich ‚im Off‘ stattfinden ließen. Da tötet die Mutter auf offener Bühne ihren Knaben, dann einen zweiten, und wirft die Leichen dem Vater vor die Füße. Da mordet Herakles in ähnlicher Weise seine Kinder auf offener Bühne. Da tötet sich Jokaste im Ödipus auf der Bühne, indem sie sich das Schwert in den Leib stößt. Im Thyestes wird ein Kind zerstückelt, dem Vater als Mahlzeit serviert.“74

Gewalt als Voraussetzung für die Akzeptanz von Dramen, ob gespielt oder gelesen, ist weniger ein Bildungs- denn ein komplexes Gesellschaftsproblem.

1.5 Theaterablehnung aus Konkurrenzgründen

Die Theaterpraxis vorgriechischer oraler Kulturen ist wie die griechische bis in die klassische Zeit (ca. 500 – 336 v. Chr.) hinein eine vielfältige, differenzierte und lustvolle. Theater wird als sinnvoll, bildend, anregend und der Gesundheit förderlich angesehen sowie als ganz selbstverständlich zum Lebensprozess gehörig variantenreich ausgeübt. Die allmähliche theoretische Abkehr von Theater und schließlich sein Ausschluss aus den ästhetischen Diskursen zählen deshalb zu den kulturhistorisch besonders bedeutsamen Einschnitten. Während Musik und bildende Kunst kaum Einschränkungen [<< 56] erfahren, argumentieren maßgebliche Persönlichkeiten gegen Theater. Es wird von ihnen nicht mehr als Teil der gesellschaftlichen wie individuellen Selbstfindungs- und Heilungsmechanismen oder Demokratie förderndes Element angesehen. Ihre zivilisationsbedingte Kulturleistung ist eine widersinnige, weil sie sich gegen ein natür­liches Bedürfnis nach Tanz, Gesang und körperlicher Darstellung richtet, aber gerade in der Reibung mit natürlichen Gegebenheiten entstehen die meisten Theorien und Glaubensinhalte. Sie formen Zeiten überdauernde Weltanschauungen und prägen Lebensweisen. Der philosophische Wahrheitsdiskurs nimmt sich der Theaterfrage an, schon bevor philosophisch gebildete Kirchenväter ihn instrumentalisierten.

 

1.5.1 Der philosophische Anti-Theater-Diskurs

Aussagen zu Theater finden sich in Platons Staat und in den Gesetzen; bei ­Aristoteles sowohl in der Poetik als auch in der Politik und besonders in der letzten Fassung seiner Rhetorik. Bevor Aristoteles in der Poetik dem Unwirklich-Unmöglichen, aber Wahrscheinlichen den Vorzug vor dem Wirklich-Möglichen, aber Unglaubhaften gibt und damit zumindest den ästhetischen Schein der Tragödie rehabilitiert75, hatte ­Platon diesen Schein noch ganz auf das Moment des Trügerischen und Betrügerischen reduziert. Platons ästhetisches Ideal der musischen Künste weist den bemerkenswerten Widerspruch auf, dass einerseits eine radikale Ablehnung aller nachahmend-darstellenden Künste erfolgt, andererseits aber die Forderung erhoben wird, der freie Bürger solle sein ganzes Leben in Feiern, Spielen und Tänzen verbringen. Denn „wir selbst sind Dichter eines Dramas, welches, so weit wir vermögen, das schönste und beste werden soll“. Der Lebensprozess ist der Kunstprozess, weshalb es keines weiteren Kunstprozesses bedarf. „Unsere ganze Staatsverfassung besteht nämlich in der Nachahmung des schönsten und besten Lebens, und eine solche soll eben nach unsern Begriffen das wahrhafte Drama sein.“76 Eine Tragödien-Kunst braucht es nicht, weil das Leben im Idealstaat sie übertreffen wird. Auf die gleiche Weise wird später Tertullian argumentieren: Demnächst wird das Jüngste Gericht ein solch gewaltiges Schauspiel bieten, dass es sowieso alle Schauspiele übertrifft, die daher überflüssig sind.77 Je stärker also eine Kunst zu einem weltanschaulichen Konzept in Konkurrenz tritt, desto heftiger wird sie abgelehnt. Dieser Grundsatz steht über allen vorgeschobenen Begründungen. [<< 57]

Platon will pädagogisch diejenigen äußeren Formen des menschlichen Verhaltens – Posen, Gesten, Rhythmen, Intonationen – herausarbeiten, die den Menschen sofort einen bestimmten ethischen Impuls, ein bestimmtes sittliches Erlebnis vermitteln; er will durch Äußeres auf das Innere in jedem Menschen einwirken und es formen. In seiner Beschreibung des Tanzes in den Gesetzen ist die Nachahmung unmittelbar mit dem Lebensprozess verflochten und wirkt als dessen Ritualisierung. So bestehe zum Beispiel kein Unterschied zwischen dem Kriegstanz, der alle beim Kampf auftretenden Bewegungen genau nachvollzieht, und dem allgemeinen Leben der Griechen etwa zur Zeit Homers. Diese Nachahmung ist ein notwendiges Mittel, um das Ethos zu schaffen, ohne welches die Kriegstaten jener Zeit unmöglich gewesen wären. Sie ist Bestandteil des kollektiven Erlebens. Schön ist daran allein der Zweck: Die Bewegungen des Tanzes, die das Verhalten des Menschen im Kampf, seinen Mut, seine Gewandtheit und seine Ausdauer beim Erreichen seines Zieles imitieren, müssen von allen in der entsprechenden Tradition Erzogenen unmittelbar als schön empfunden werden. Ähnlich fixiert und sozialisiert der Friedenstanz die Gesten und Posen von Menschen, die entweder nach eben erst überstandenen Mühsalen und Gefahren des Lebens zum Glück gelangt sind oder das früher schon vorhandene Glück mehren. Die „schönen Tänze“ werden nach zwei Gattungen unterschieden und erhalten einen geziemenden Namen, die kriegerischen den der Pyrrhiche und die friedlichen den der Emmeleia.

„Alle diese Dinge nun soll der Gesetzgeber in Mustern darlegen und der Gesetzverweser aufsuchen, und wenn er dergestalt alles Nötige aufgefunden, so soll er den Tanz mit der musischen Kunst in Verbindung setzen und so für alle Feste, ja für jedes Opfer den angemessenen Gesang und Tanz verordnen und so diesem Allem eine feste und geheiligte Ordnung geben, dann aber in der Folge sich weder mit dem was zum Tanze, noch mit dem was zum Gesange gehört die geringste Veränderung mehr erlauben, sondern die Gemeinde soll im gleichen Genusse der gleichen Freuden stets unverändert dieselbe bleiben und alle Bürger und in möglichster Gleichheit ein gutes und glückseliges Leben führen.“78

Kreativität ist genauso ausgeschlossen wie freie Zeit, über die die Bürger nach Gutdünken verfügen könnten. Die von oben erlassene Ordnung ritualisiert die in Festen und Reigentänzen hingebrachte Zeit ebenso wie Tanzbewegungen und Gesänge. Der Zwang zur Teilnahme verkehrt Freizeit in ihr völliges Gegenteil. Man entfernt alles [<< 58] nicht pädagogisch Wertvolle, das der Eigengesetzlichkeit und der Selbstgenügsamkeit eines Genusses dienen oder gar zur Muße verführen könnte. Dies erstreckt sich sogar auf Tragödie und Komödie.79 Für Platon stehen tragische Dichter und Schauspieler auf der einen und Gesetzgeber und Gesetzesbewahrer auf der anderen Seite: „Dichter in dem gleichen Fache“, aber „Nebenbuhler“ und „Mitbewerber“ bezüglich „des schönsten Dramas“.80 Da die tragische Kunst aber nur einen Trug, etwas Zeitliches und Vergängliches darstellen kann, vermag sie auch nur eine trügerische, falsche und illusorische Schönheit darzustellen, obwohl sie sie hartnäckig als wahr hinzustellen versucht. Die Gesetzgeber und Politiker des idealen Staates dagegen geben die eigentliche Wahrheit, die allgemeine Gerechtigkeit wieder; sie wirken nicht mit im trügerischen Theater, sondern auf der Bühne des Lebens (Lebenstheater), wo jedes ihrer Werke zum faktischen Sein wird. Darstellende Künstler, darunter auch die Dichter, laufen jedoch der Menge nach. Vor ihrem Werk sind alle gleich, ungeachtet ihrer persönlichen Fähigkeiten, und sie urteilen auch so. Wenn Sokrates im Staat den enormen psychologischen Einfluss der öffentlichen Meinung auf jedes einzelne Individuum schildert, wird Theater auch wegen seines Charakters einer Massenkunst abgelehnt, die zum Mitgenießen fremder Leidenschaft und zum Mitleiden führt. Überhaupt hält er Katharsis für gefährlich, weil sie im normalen Leben die Selbstkontrolle aufhebt. Die Tragödie ist absolut zu verwerfen, zur Komödie folgt die Einschränkung, dass es ohne das Lächerliche unmöglich sei, von dem Ernsten einen richtigen Begriff zu erlangen. Soweit sie nur auf das Lächerliche angelegt ist und in Sprache und Gesang, in Tanz und sonstigen Darstellungsmitteln zu diesem Zwecke die „Darstellung unschöner Körper und Gemüter“ zeigt, könne man ihre Darstellung „Sklaven oder gemieteten Fremdlingen“ überlassen. Man soll zwar wissen, wie Komisches zustande kommt, um das Ernste zu schätzen, aber Lächerliches selbst auszuführen muss man vermeiden.81

Die musischen Künste, insbesondere Tanz und Theater, besitzen schon lange etwas, was die Staatsutopie eines einzelnen Denkers rationalistisch umzusetzen sich erst anschicken will. Diese Künste – seien sie nun beliebt oder nicht, gehören sie zu den menschlichen Grundbedürfnissen oder nicht – sind proteisch, unausgerichtet, sie mäandern. Sie bilden das Gegenteil eines zielgerichteten Entwicklungsprojekts, stören oder verhindern es eher durch ihre Vielgestaltigkeit, weshalb sie auszugrenzen sind. Dafür wird ein eigener Wahrheitsdiskurs entworfen. [<< 59]

Dichter und Darsteller lügen. Die philosophische Rückschau aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. auf den Ablösungsprozess von der oralen Kulturstufe mündet in einem Paradox: Dichtung ist Fiktion mit einem gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad. Der Dichter teilt nicht unbedingt mit, „was wirklich geschehen ist“, wie es der Geschichtsschreiber tut, sondern eher, „was geschehen könnte“, „das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“.82 Fiktion ist nun aber genau das, was bisher als „Die-Unwahrheit-Sagen“ oder eben als „Lüge“ bezeichnet wurde. Lügen die nachahmenden Künstler, Dichter und Darsteller? Auf jeden Fall kann das tatsächlich Geschehene, wenn Dichtung Fiktion ist, nicht ihr Maßstab sein. Zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert diskreditiert die kritische Weltsicht der sich herausbildenden Philosophie und Geschichtsschreibung zunehmend die Dichtung, die man einem Legitimationszwang unterwirft. Durch die physische Anwesenheit des museninspirierten Sängers und den behauptenden Gestus des Rhapsoden schien anfangs die Wahrheit des Gesagten gewährleistet zu sein. Doch zwischen Homer und Aristoteles wandelt sich die Gesellschaftsstruktur, verbreitet sich die Schrift, löst sich die orale Kultur weitgehend auf, bricht sich wissenschaftliche Rationalität Bahn. Der durch die Musen inspirierte Dichter – oder der vom Fuchs inspirierte Äsop – rücken unwiederbringlich in die Vergangenheit. Lesende und Schauende differenzieren zunehmend zwischen faktischer und künstlerischer Wahrheit, die in der Mimesis (Darstellung) von Dichtung und Theater zu finden ist.

Auf den Bühnen werden die dramatischen Dialoge kontrovers geführt. An ihnen sind mehrere Sprecher beteiligt. Wer also hat Recht? Wer vertritt die Wahrheit? Den Dialog wörtlich zu nehmen hätte bedeutet, den Schauspieler mit dem dargestellten Helden zu identifizieren. Dies verhindern aber jene Spezifika der Präsentation, die an eine reflexive Einstellung des Publikums appellieren: das Tragen von Masken, das Spielen sämtlicher Frauenrollen durch Männer, die verfremdende Theatermaschinerie. Sie entrücken die Vorgänge dem, was unmittelbar als wahr anzunehmen ist. Ein Feuerwerk phantastischer Einfälle der Alten Komödie erhebt Irrationalität geradezu zum Prinzip. Vor allem aber: Wie wahr kann eine Dichtung sein, die immer neue tragische Stücke über die immer gleichen mythischen Stoffe zeigt, wobei sich die Innovationen nicht nur wie bei den Rhapsoden in neuen Akzenten und Sichtweisen erschöpfen, sondern auch neue Handlungselemente und neue Figuren erfunden werden?

Je mehr das Wahrheit-Lüge-Schema philosophisch zum Maßstab erhoben wird, desto unüberbrückbarer erscheint der Kontrast zwischen Dichtung und wissenschaftlicher [<< 60] Prosa. Wissenschaft fördert Erkenntnis, Dichtung höchstens Vergnügen. Letztere lügt, Geschichtsschreibung berichtet Wahres. Die Verschiebung erfolgt im 5. Jahrhundert, als in dichter Folge Dramen erscheinen. Tragödien- und Komödienwettbewerbe finden statt, Theater avanciert zur festen Institution der griechischen Polis. Die Theorie spricht von Lüge und die Praxis ignoriert dies. Platon schließt die Dichter aus seinem Staat aus, obwohl sie sich gerade im perikleischen Zeitalter so intensiv um die Verbesserung des Gemeinwesens verdient machen. Später erkennt Aristoteles die Bemühungen der Dramatiker an, aber erst zu einer Zeit, als Drama und institutionalisiertes Theater ihre gesellschaftliche Bedeutung schon einbüßen.