Theatergeschichte

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Einteilung der Kapitel

Die Kapitelstruktur darf also weder nur einem Kriterium folgen (Monokausalität), noch darf sie zu viele Aspekte einbeziehen (Eklektizismus). Wenn sie sich aber periodisierend ganz auf die Nennung von Jahrhunderten zurückzieht, fehlt den Lesenden eine Wiedererkennungs-, Vergleichs- und Erinnerungsebene. Das schnelle Auffinden thematischer Komplexe wird erschwert. Deshalb sollten die Titel einen Orientierungscharakter besitzen. Taucht der Begriff „Nationaltheater“ auf, so wird ein ganzer Komplex von Ereignissen, Materialien und Literatur darüber angesprochen. Man hat davon gehört, vermag mit anderen Publikationen zu vergleichen und findet schnell den Abschnitt, in welchem darüber gehandelt wird. Es wird mittels solcher Signalwirkung die Auswahl von Beispielen offen gelegt, aber nicht behauptet, dass diese nun als die Leitthemen des Jahrhunderts gelten müssen.

Eine weitere Strukturierung nach einer übersichtlichen Anzahl von Kriterien erfolgt innerhalb der Kapitel, indem deren Abschnitte vorsichtig nach den Bereichen des [<< 20] inzwischen für die ältere Theatergeschichte erprobten Theatralitätskonzepts von Rudolf Münz ausgerichtet werden.13 Münz hatte Ende der 1980er-Jahre vorgeschlagen, die Thea­tralität einer Epoche zu ermitteln, indem Darstellungsweisen im außerkünst­lerischen Bereich („Theater“), zum Beispiel Fürsteneinzüge oder öffentliche Hinrichtungen, zu den Spielweisen des Kunsttheaters (Theater) in Beziehung gesetzt würden; Gegenströmungen (‚Theater‘), die den Kunstbetrieb oder das alltägliche „Theater“ in seinen Macht stabilisierenden Zielen bloßstellen, wie etwa Formen der Giulleria oder der Commedia all’improvviso, müssten dabei ebenso berücksichtigt werden wie zu Theater eingenommene Haltungen, darunter Theaterablehnung (Nicht-Theater). Das Ganze sei ein sich veränderndes Gefüge: „Theatralität in diesem Sinne drückt ein Verhältnis aus, kein Verhalten, und ist zunächst wertfrei zu sehen; sie bezeichnet die historisch veränderliche, dynamische Relation von Theater und „Theater“; sie ist ein System, dessen Elemente ständig ineinander greifen oder korrespondierend nebeneinander bestehen; man darf sie nur aus Gründen der Analyse isoliert betrachten“14, sonst immer im Zusammenhang mit ‚Theater‘ als Reaktionsweise auf „Theater“ und Theater sowie Nicht-Theater.

Zu Stefan Hulfelds Weiterentwicklung des Konzeptes gehört vor allem das Ersetzen der einander zu ähnlichen Begriffe durch solche von höherer Trennschärfe: Lebenstheater, Kunsttheater, Theaterspiel und Nichttheater. Er weist auch darauf hin, dass grundsätzlich die Theatralität eines jeden „konkreten Zeit / Raums“ ermittelt werden kann.15 In diesem Sinne geht es in jedem ersten Abschnitt eines Kapitels der Einführung vornehmlich um die Beziehungen zwischen Lebensprozess und Theater, speziell um die Modi, wie sich Letzteres aus Ersterem herauslöst oder Ersterer durch Letzteres theatralisiert wird, es geht um „Lebenstheater“. Im zweiten Abschnitt eines jeden Kapitels werden in ästhetischem Kontext Beispiele eines wie auch immer gearteten „Kunsttheaters“ angesprochen oder verglichen. Der dritte Abschnitt gehört besonders starken spielerischen Impulsen, dem „Theaterspiel“, das sowohl die Formen von „Lebenstheater“ als auch jene von „Kunsttheater“ konterkariert. „Theaterspiel“ fluktuiert im öffentlichen Raum oder formiert sich zu einer Theaterform wie zum Beispiel zur Commedia dell’arte. Bevor der fünfte Abschnitt unter dem Gesichtspunkt „Nicht­theater“ wesentliche Haltungen, die im angegebenen Zeitraum gegenüber Theater eingenommen werden, versammelt, erschien es ratsam, einen vierten Abschnitt ei [<< 21] nzufügen, der sich jeweils einer weiteren oder dem Nebeneinander von „Theaterformen“ widmet, ihr synchrones Vorhandensein herausstellt, das in asynchron-entwicklungsbetonter Theaterhistoriografie oft unbeachtet bleibt. Außerdem fragt ein abschließender sechster Abschnitt eines jeden Kapitels nach den äußeren Aufführungsbedingungen, den Bühnen, Dekorationen und der Technik, also nach jenen Faktoren, die man zu einer Mediengeschichte von Theater zusammenfassen könnte.

Eine solche Abfolge der Abschnitte betont das exemplarische Herangehen. Die unterschiedlichen Aspekte erhellen in ihren reichen Beziehungen untereinander das Theatralitätsgefüge des jeweils in der Kapitelüberschrift ausgewiesenen Zeitraumes, welches jeweils am Kapitelende knapp umrissen wird. Das Theatralitätskonzept bietet Lesenden den Vorteil, in verschiedenen Jahrhunderten zu ähnlichen Themenkomplexen Aussagen vorzufinden, die in jeder selbst gewählten Abfolge rezipiert werden können: Wen zum Beispiel die Entfaltung des Bühnenwesens und der Theatertechnik interessiert, der nimmt die jeweils letzten Abschnitte der Kapitel zur Kenntnis. Durch solche Wechsel von Synchronizität und Asynchronizität kann vielleicht in gezielter Collage doch die Ganzheitlichkeit der Theaterentfaltung in den Blick genommen werden, die auf beschreibendem Wege nicht auszudrücken wäre.

Die dargelegten Ziele, vor allem die Vermeidung von Normativität, sind mit der Vorgabe eines festen Theaterbegriffs als ordnender Instanz nicht erreichbar. Daher wird das dynamische Konzept der szenischen Vorgänge benutzt, welches das spiele­rische Hervortreten von Theater aus dem Lebensprozess betont. Spiel ist insofern die genuine Komponente von Theater, indem es szenische Vorgänge hervorbringt, von denen Zuschauende dann einige als Theater bezeichnen. Sie urteilen einerseits abhängig von der Konsequenz des Geschehens, deren Steigerung oder Verminderung, und andererseits abhängig von den Arten der Hervorhebung des Geschehens, also, wenn man so will, vom Spiel- und vom Zeichenaspekt her. Szenische Vorgänge sind im Vergleich graduell unterscheidbar, was in der Theatergeschichte viele Theaterreformer und Theatergegner auf den Plan rief, die den Namen Theater zielgerichtet vergaben oder verweigerten. Ihnen gilt unter solcher Perspektive besondere Aufmerksamkeit.

Als ein lehrend Lernender bin ich dankbar für die Unterstützung und Förderung, die mir 30 Jahre lang durch meinen verehrten Lehrer Rudolf Münz zuteil wurde, mit dem ich 2006 das Vorgehen, die Beispiele und das beim Verlag gerade eingereichte Inhaltsverzeichnis des Buches noch ausführlich diskutieren konnte. Ebenso dankbar bin ich für die Anregungen und Ratschläge der jüngeren Generation, insbesondere von Stefan Hulfeld, Freund und Weggefährte, die sich bis auf den gegenseitigen Austausch von Materialien ausdehnte. Ohne die Neugier einzelner Berner Studierender, [<< 22] die mehrjährige Hilfe in Recherche und formaler Bearbeitung durch Maria-Elisabeth Heinzer, studentische Durchsicht von Corinna Hirrle, ein kritisches Probelesen von Beate Hochholdinger-Reiterer, die Korrekturen von Tobias Hoffmann, den ermutigenden Beistand meiner Frau Edit und schließlich die Hartnäckigkeit des Verlages, wäre der Band nicht entstanden.

Andreas Kotte

Bern, im Januar 2013 [<< 23]

1 Dubech 1931 – 1934. Kindermann 1957 – 1974. Berthold 1968. Brockett 1968. Frenzel 1984. Brauneck 1993 – 2007. Wickham 1999. Simhandl 2001. Brown 2001. Williams 2010 usw.

2 Vgl. das Standardwerk zur Geschichte der Theatergeschichtsschreibung: Hulfeld 2007.

3 Vgl. Napoli-Signorelli 1777.

4 Vgl. dazu Steinbeck 1970, S. 161 sowie Bayerdörfer 1990, S. 41 – 63. Zum Herangehen an Theaterhistoriografie vgl. Lazardzig; Tkaczyk; Warstat 2012.

5 Vgl. Kotte 2005, S. 227.

6 Gut zusammengefasst bei Latacz 1993, S. 29 – 83.

7 Vgl. Simon 2003, S. 38.

8 Der Medienforscher Derrick de Kerckhove beantwortet die Frage, wo sich denn die zeitgenössische Bühne befinde, wie folgt: „Wir haben heutzutage zwei Bühnen: die Computerbildschirme und den gesamten Globus.“ Er erklärt: „Ein prägnantes Beispiel für globales Theater war die weltweite Trauer über den Tod von Prinzessin Diana.“ Oder: „Eine andere Form globalen Theaters ist der Krieg. […] Kosovo war ein globales Theater, eine globale Inszenierung.“ Kerckhove 2001, S. 501 – 525.

9 Acton 1988, S. 627.

10 Vgl. für Letztere die Kapitel zu Afrika und Asien in den neueren Auflagen der Theatergeschichte von Oscar G. Brockett.

11 Postlewait 1988, S. 299 – 318, 305f.

12 Platter 1968, S. 305 – 308.

13 Münz 1998, S. 66 – 103.

14 Münz 1998, S. 69f.

15 Hulfeld 2000, S. 394 – 401, 400. Vgl. auch S. 538 – 567.

1 Theater vor dem 5. Jahrhundert

Wo beginnt Theatergeschichte? Befreit von einem literarisch geprägten Theaterbegriff des 19. Jahrhunderts, der mit seinem Entwicklungszwang eine ‚erste Geburt‘ von Theater in Griechenland postuliert, und befriedet durch den Fortfall einschränkender thematischer Periodisierungen, können einige historiografische Anhaltspunkte für Theater in frühen Phasen der gesellschaftlichen Menschwerdung diskutiert werden (Kap. 1.1, Seite 26). Die griechische Komödie und Tragödie (Kap. 1.2, Seite 33) haben neben dem Mimus, das heißt Formen nicht-literarisch körperbetonten Stegreif­theaters, existiert (Kap. 1.3, Seite 44). In Rom gewinnen solche Formen sogar die Oberhand gegenüber Komödie und Tragödie, die sich innerhalb eines breiten Spektrums Römischer Spiele zu behaupten versuchen (Kap. 1.4, Seite 51). Schwerpunktsverlagerungen bei der Entfaltung spezifischer Formen geschehen aber nie ohne Widerstand. Während Theater bis in seine griechische Institutionalisierungsphase des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. unbefragt zum allgemeinen Lebensprozess gehörte, gerät es nun allmählich in den Verdacht, parallele kulturelle Anstrengungen, nämlich die Konzeptbildungen der Philosophie, der Historiografie und der Religion sowie die jeweiligen Herrschaftsstrategien durch seine ästhetische Eigenart, mehrere Wahrheiten gleichzeitig gelten zu lassen, zu unterminieren (Kap. 1.5, Seite 56). Philosophen halten Theater für unehrlich, weil es nur nachahme. Historiker halten es für unwahr, weil es Zeiten, Orte und Figuren vermenge. Rhetoriker werten es gegenüber ihrer eigenen Kunst ab. Christliche Kirchenlehrer verwerfen es als zu heidnisch und zu körperlich. Ohne auf das Sprichwort „Viel Feind‘, viel Ehr‘“ auszuweichen, ist zuzugestehen: Es muss schon etwas ganz Besonderes sein, dieses Theater, wenn es auf solch massive Ablehnung und erdrückende Gegenmittel wie die Zensur stößt. Historisch ist die Theaterfeindschaft ein Glücksfall, denn oft sind die Verbote die einzigen erhaltenen schriftlichen Quellen zum Theaterleben. Andere Zeugen der Theatergeschichte haben die Zeit besser überstanden, vor allem einige Spielstätten (Kap. 1.6, Seite 65). Sie erhellen die Aufführungspraxis und den Stand der Theatertechnik sowie einige Verknüpfungen zwischen Theaterformen und Lebensprozess. [<< 25]

 

1.1 Frühe Theaterformen

Entstand Theater in Griechenland? – Es ist unbekannt, ob und wie die Menschen vor 40.000 Jahren die Jagd benannt haben, aber sie haben sie ausgeübt; analog verhielt es sich mit Theater. Sie benannten das Phänomen sicher nicht nach griechisch théa, die Schau, oder théatron, der Ort, von wo man schaut, sondern anders. Oder sie benutzten kein spezielles Wort für diesen Vorgang des Alltagslebens, diesen Teil des Überlebenskampfes zur Befriedigung sinnlich-vitaler Bedürfnisse nach Nahrung und Kleidung sowie produktiver Bedürfnisse nach Umweltkontrolle. Kommunikation geschah zum Zwecke der Koordination, szenische Vorgänge fungierten als Lernhilfen und Lustspender. Mit dem Zusammenprall von Homo sapiens und Neandertaler auf dem europäischen Festland geht die Phase zu Ende, in der der heutige Mensch seine Bedürfnisstruktur und seine kulturellen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausprägte. Er spielt Instrumente, wie die bei Blaubeuren in Süddeutschland gefundene Knochenflöte zeigt, das mit 36.000 Jahren älteste Musikinstrument Europas.16 Aber für diese Zeit nehmen auch die Funde kleiner Terrakottafiguren zu. Eine Reliefplastik aus Amphibolit­schiefer mit einem Alter von rund 32.000 Jahren stellt eine Frau, eventuell eine Schamanin, in bewegter Haltung nach oben weisend, dar. Sie wird die „Tanzende Venus vom Galgenberg“ genannt.17 Vor allem mehren sich die Felszeichnungen. Kreative Künstler, die das Löwenpanneau in der Höhle Chauvet im Süden Frankreichs zeichnen, haben vielfältige Bedürfnisse entwickelt, ihre Umwelt zu reflektieren, um sie zu kontrollieren.18 Sie vergewissern sich ihrer Andersartigkeit gegenüber den Tieren, sie kommunizieren über solche und mittels solcher Zeichnungen und Wandgemälde. Sie entwickeln damit produktive Bedürfnisse, um ihre Lage im Lebensumfeld zu verbessern. Musikinstrumente und Zeichnungen, auch Terrakottafiguren oder Abbildungen von Tänzerinnen und Schamanen beweisen nie zweifelsfrei, dass szenische Vorgänge stattgefunden haben. Aber die Ansicht, dass Menschen, die so hervorragend malen konnten und sogar Flöte spielten, daneben auch tanzten, sangen und mimisch darstellten, erscheint wesentlich plausibler als ihr Gegenteil. Die Kunst-, Musik-, Theater- und Tanzwissenschaft finden ihre Gegenstände spätestens in der Zeit vor etwa 40.000 Jahren. Da man nun annehmen muss, dass Schamanen [<< 26] oder Zauberer nicht stets nur allein für sich agierten, gibt es keinen Grund, die dann durch eine Verhaltensdifferenz zwischen Agierenden und Schauenden entstehenden szenischen Vorgänge nicht Theater zu nennen. Diese Menschen nehmen eine tätige Reflexion ihres eigenen und des gemeinschaftlichen Lebens vor und experimentieren mit ihrer Phantasie zu sozialen Zwecken.

Es macht daher Sinn, in einem kleinen Exkurs zwischen Theater und szenischen Vorgängen zu unterscheiden. Die szenischen Vorgänge stellen das Faktische dar, während Theater ein Begriff oder ein Name ist, den Zuschauende vergeben – oder auch nicht.19 Die einen halten eine Taufe für Theater, die anderen würden das nie tun, weil sie vom Statuswechsel des Kindes überzeugt sind. Beide Gruppen können an der Taufe teilnehmen und sie als ein hervorgehobenes und konsequenzvermindertes Geschehen, einen szenischen Vorgang, akzeptieren. Sie denken über die Konsequenzen des Geschehens graduell unterschiedlich, doch das stört ihr Einvernehmen nicht. Unter den an der Taufe Beteiligten entsteht ein Beziehungsgeflecht, die Situation. In dieser sind durch Handlungsdifferenzen Hervorhebungen möglich. Die Situation ist die kleinste und kompakteste verstehbare Einheit menschlicher Handlungszusammenhänge, eine Beziehung zwischen Menschen zu gleicher Zeit am gleichen Ort. Durch Bewegung geht sie in den Vorgang über.20 Handlungen können in Vorgängen des alltäglichen Lebensprozesses gegenüber anderen Menschen örtlich (z. B. Bühne), gestisch (z. B. Handstand), akustisch (z. B. Marktschreier) oder durch dingliche Attribute (z. B. Prunkgewänder) hervorgehoben sein. So wird graduell eine Verhaltensdifferenz gegenüber Zuschauenden hergestellt, wofür schon eines der Merkmale ausreicht. Handlungen können zugleich auch spielerisch erscheinen, das heißt graduell in ihrer Konsequenz vermindert sein, wie etwa ein Turnier gegenüber einer Schlacht. Sobald man in Vorgängen nun Hervorhebung und Konsequenz untersucht, sind vier verschiedene Varianten zu unterscheiden:

1. weder hervorgehoben noch konsequenzvermindert (z. B. Schlacht)

2. hervorgehoben, aber nicht konsequenzvermindert (z. B. öffentliche Hinrichtung)

3. nicht hervorgehoben, aber konsequenzvermindert (z. B. Kartenspiel)

4. hervorgehoben und konsequenzvermindert (z. B. Kriegstanz) [<< 27]

Nur die eine Kombination von hervorgehoben und konsequenzvermindert generiert szenische Vorgänge. Dies bewahrt das Konzept vor rein metaphorischem Wortgebrauch. In der Hervorhebung verbindet sich sinnliche Körperbewegung mit Sinnfälligmachung, das heißt eine Handlung kann in der Hervorhebung über sich selbst hinausweisen. Die Aufmerksamkeit der Zuschauenden wechselt dabei von den Körperbewegungen der Agierenden zur Wahrnehmung des Spielerischen im Hervorheben selbst. Sie wechselt vom „Was geschieht hier?“ zum „Wie geschieht es?“. Ein physischer Handlungsablauf und eine Kette von Handlungsmodi werden zugleich wahrgenommen. Daraus entsteht Wirkung. Der Lebensprozess bringt unaufhörlich szenische Vorgänge hervor. Sie existieren als ein kontinuierlich gespeistes, unerschöpfliches Potenzial, das soziale Phantasie freisetzt. Sie heißen szenisch, weil darin Inszenierung anklingt, mise en scène. Denn wie Hervorhebungsmerkmale benutzt werden, ist Teil von Inszenierung im Alltag, wie stark die Konsequenzen ausfallen, ebenso, beides unabhängig von jeder Diskussion über Theater (bottom-up). Irgendwann entscheiden sich dann diese oder jene Zuschauenden, diese oder jene szenischen Vorgänge Theater zu nennen oder nicht. Einige Zuschauende können die Hervorhebung eines Marktschreiers als gering erachten und ihn als Verkäufer bewerten, während andere ihm die Bezeichnung Straßentheater zuerkennen. Der Ausdruck „theatrale Vorgänge“ hingegen betont, dass Vorgänge bereits aus der Sicht eines Theater- oder Theatralitätsbegriffes betrachtet werden (top-down). Von szenischen Vorgängen im Alltag bis zu hochartifiziellen und komplexen Vorgängen wie etwa einer Opernaufführung reicht das synchrone Spektrum, dem sich die Theatergeschichtsschreibung zusätzlich asynchron veranschau­lichend zu nähern versucht.

Die archäologischen Belege und Funde für szenische Vorgänge nehmen in der Jungsteinzeit drastisch zu. Yosef Garfinkel sammelte 400 Abbildungen von Tanzszenen der Jungsteinzeit allein im Gebiet zwischen Pakistan und dem Balkan.21 Fortschritte machen auch die Datierung von bereits bekannten west- und mitteleuropäischen Ausgrabungen. Vor allem werden immer mehr Kreisgrabenanlagen gefunden, also astronomisch orientierte heilige Plätze zur Bestimmung der Wintersonnenwende. Die Verbreitung der Anlagen reicht von Irland über Spanien bis nach Deutschland, Polen und Ungarn. Nicht die älteste, aber die bekannteste befindet sich im südenglischen Stonehenge. Die Datierung ist inzwischen gesichert: Baubeginn um 3000 v. Chr. Mehrere Umbauten erfolgten bis 1600 v. Chr. Man orientierte sich am Nachthimmel. Die Südosttore der Kreisgrabenanlagen weisen in Richtung der [<< 28] ersten Sonnenstrahlen am Tag der Wintersonnenwende. Diese Ausrichtung war zu errechnen, empirisch ermitteln konnte man nur die Zeitpunkte der Tag- und Nachtgleiche.22 Nach neuesten Forschungen wusste man in Stonehenge sogar schon um die um fünf Grad gegen die Erdbahn geneigte Mondbahn, man wusste, dass sich der Zyklus alle 18,6 Jahre wiederholt. Bisher wurde diese Erkenntnis dem griechischen Astronomen Meton zugeschrieben, der sie 432 v. Chr. erstmals aufzeichnete. Die Anlagen weisen auf Kulthandlungen hin, vor allem aber verdeutlichen sie einen Forschungstrend: Immer mehr Kenntnisse, die man bisher dem griechischen Entdeckergeist zurechnete, werden in den letzten Jahrzehnten um Tausende Jahre rückdatiert. Die Endausbauphase von Stonehenge liegt 500 Jahre vor dem mythischen trojanischen Krieg, den man im Griechenland des Thespis nur noch als Märchen kennen wird.

Anfänge von Schriftkultur, Ur-Hieroglyphen, finden sich in Ägypten um 3300 v. Chr. Der hier zur Zeit von Stonehenge ähnlich hohe Stand der Astronomie ist allgemein bekannt. Die auf drei Bogenminuten genaue Ausrichtung der Cheops-Pyramide nach Norden um 2580 v. Chr. hat sicher nichts mit Theater zu tun. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass Priester, die solche Rechenkünste vollbrachten, Theater nicht gekannt haben sollten. Ordnende Mythen treten an die Stelle animistischer Kulte. Tanz, Musik und Akrobatik dienen der Unterhaltung bei Hofe ebenso wie dem religiösen Kult. In Mesopotamien und Ägypten werden über Wochen dauernde Feste abgehalten, in deren Mittelpunkt szenische Vorgänge stehen, etwa Mysterienspiele um Leiden, Tod und Auferstehung des Gottes Osiris. Teile der Mysterien finden im geheimen Tempelbezirk statt, an anderen nimmt das Volk teil, ebenso an Schaukämpfen. Nichtreligiöses und religiöses Theater koexistieren, variieren Wiedergeburt – ein Kernmotiv der Theatergeschichte. Überliefert ist unter anderem der sogenannte Dramatische Ramesseumpapyrus. Er trägt seinen Namen zu Recht, insofern er nicht nur die Abfolge eines Rituals, das sich möglicherweise auf die Vorfeiern für das Sedfest bezieht, in Bildern zeigt, sondern dazu auch noch die Dialoge bietet. Für die Ausübung des Rituals war jeweils eine Festrolle benutzt worden, so auch unter Sesostris I., unter dessen Regierung von 1971 – 1925 v. Chr. das Festspiel einmal oder mehrmals aufgeführt wurde. Da der Papyrus wahrscheinlich um 1850 v. Chr. entstand, also aus der Zeit des Königs Amenemhet III. stammt, kann bei dessen Regierungsjubiläum das gleiche Ritual wieder stattgefunden haben. Die Auftritte in den 46 Szenen, die Rede sowie die Gegenrede, spielen sich an weit [<< 29] auseinander liegenden Orten ab. Die Figuren übernehmen auch Rollen mythologischer Gestalten.23

 

Abb 2 Ramesseumpapyrus, Ausschnitt, Umzeichnung von Kurt Sethe. Am Fuß jeden senkrechten Schriftblocks befinden sich bildliche Szenenanweisungen für die Darstellung des Mythos. (Quelle) [<< 30]

Im Zuge der Erforschung wurde die Reihung der einzelnen Ritualszenen gegenüber der Erstausgabe von Kurt Sethe 1928 verändert.24 Der Ritus bestimmt die Abfolge der Szenen. Er ist mit Mythen aus dem Osiriskreis unterlegt: „Der begleitende Mythos interpretiert den Ritualablauf in der Art eines Spiels“25, dessen Handlungen dem Osiris-Horus-Mythos entstammen. Als Hauptfiguren treten die Götter Horus und Thot und die Horuskinder auf, im irdischen Bereich der König, einige königliche Beamte und die Priesterschaft. Damit werden im frühen 2. Jahrtausend vor Christus ganz konventionelle Theatervoraussetzungen erfüllt, die man sogar noch im 19. Jahrhundert als Theater akzeptiert hätte. Wenn der ‚alte König‘ begraben werden muss, damit der ,neue König‘ den Thron besteigen kann, beide aber in geschichtlicher Zeit miteinander identisch sind, handelt es sich um ein Jubiläumsfest. Die bestätigende Wiederholung lässt einerseits klar an ein Ritual denken, zugleich schaffen die Rollenübernahmen, das Spielen von Göttern sowie die Mythologisierung Theater in einem ganz traditionellen Sinne.

Die Ambivalenzen geistlicher Spiele sind kein Spezifikum des Mittelalters. In der minoischen Kultur weisen zum Beispiel auf Kreta die örtlichen Bedingungen des im 17. Jahrhundert v. Chr. errichteten neuen Palastes von Knossos – ein Labyrinth mit 1.000 Kammern und Fluren – auf weitere Formen von Theater hin: An der Schautreppe vor dem Palast endet die Prozessionsstraße. Dies ist ein idealer Platz für Zeremonien, für die Übergabe von Geschenken befreundeter Herrscher oder den Tribut abhängiger Gebiete sowie für Unterhaltung, Versammlung, Tänze, Ring- und Boxkämpfe oder den Empfang auswärtiger Gesandter.26

Die mykenische Kultur mit ihrem Höhepunkt um 1450 v. Chr., Bau der Burg von Mykene auf dem Peloponnes, überlagert die minoische Kultur. Noch ist man schriftkundig (Linear B). Um 1190 kommt es zum Trojanischen Krieg. Danach beginnt das große Schweigen. Es folgen bis 800 die sogenannten dunklen Jahrhunderte. Ein ungeklärter demografischer und wirtschaftlicher Zusammenbruch trifft die Mittelmeervölker. Auch die Schrift wird vergessen. Nach der Gründung Spartas verstärkt sich ab etwa 800 schlagartig die griechische Kolonisation. 776 finden die ersten olym­pischen Spiele statt. Die Griechen melden sich plötzlich kulturell zurück, kräftiger [<< 31] und raumgreifender denn je. Homer versucht 720 – 710, mit der Odyssee und der Ilias die dunklen Jahrhunderte mythisch zu überwinden, indem er dichtend aufschreibt, was Aöden und Rhapsoden oral-szenisch überliefert haben.

Bisher angedeutete frühe Theaterformen sind der Tanz und die Akrobatik, Kult wird im Ritus zelebriert, Anführer vollziehen Machttheater mittels Kostüm und teilweise Maske, daneben wird von Schamanen, später Rhapsoden, öffentlich erzählt. Die orale Kultur bedingt, dass der Rhapsode sich mit seinem Vortrag unmittelbar an die Zuhörer wendet, sie ganz in das Geschehen einbezieht. Damit engt er ihre Vorstellungswelt insofern ein, als eine Reihe von Faktoren die Aufnahme des Textes gleichsam kanalisiert. Beispielsweise wirkt der äußere Anlass, etwa ein Fest, für den Auftritt des Sängers innerhalb der Gemeinde sinngebend. Das Erscheinungsbild des Rhapsoden, würdig bis autoritär, beeindruckt das Publikum ebenso wie die Vortragsweise, die Gesten, die möglichen Verweise auf das Hier und Jetzt. Nicht zuletzt vertieft das vom Sprecher vorgegebene Tempo das Erlebnis der Rezeption. So fungiert der Rhapsode, wie vor ihm der Schamane, der Trickster, der Medizinmann, der Aöde, in der oralen Kultur lange vor jeder Tragödie als Schauspieler.27 Der Rhapsode gilt als Benutzer, ja als Besitzer des Wissens um die Vergangenheit, später als Bewahrer des homerischen Epos. Rezitiert er die Ilias, so trägt er ein langes rotes Gewand, erzählt er von den Taten des Odysseus, trägt er ein violettes. Die Rhapsoden führen in der Regel ein Wanderleben, ziehen von Ort zu Ort, von Fest zu Fest – wie später die mittelalterlichen Skopen im germanisch-fränkischen Raum. Während des Vortrages trägt der Sänger zu seinem reichen Gewand einen Kranz, bei berühmten Sängern aus Gold gefertigt. Er steht oder sitzt erhöht oder er geht umher, die Zuhörer und Zuschauer bilden einen Kreis um ihn. Er singt sprechend, spricht singend. Er nutzt Gestik und Mimik, weint bei traurigen Stellen der großen Erzählung, versucht Stimmungen auf die Zuschauer zu übertragen. Bei Wettbewerben wird er nach diesen Fähigkeiten beurteilt. Den Gesang – das Rezitieren von Hexametern, in denen die Epen geschrieben sind, bezeichnen die Griechen als Gesang – leitet ein Vorspiel auf der Leier ein. Auf das Vorspiel folgt ein Anruf der Musen oder des Apollon mit der Bitte um Hilfe und Beistand. Dann beginnt der Rhapsode, an einem von ihm selbst gewählten oder vom Publikum vorgegebenen Punkt im großen Zusammenhang des Mythos seine Erzählung. Der Gebrauch des Stabes verstärkt dieses spielerische Moment. Sein Handeln wird dadurch gegenüber jenem der Zuhörenden hervorgehoben. Den Stab nennt bereits der Dichter Hesiod, der auch die Abstammung des Rhapsoden von den Musen und [<< 32] Apollon erwähnt, während Könige direkt von Zeus abstammen.28 Bei Pindar heißt es später im 5. Jahrhundert v. Chr.: „Aber Homer hat ihm [Aias] ja die Ehre bei den Menschen wiedergegeben, der seine ganze Tüchtigkeit aufgerichtet und verkündet hat nach dem Stabe göttlicher Worte, sodass sie die Kommenden besingen können. Denn dies schreitet unsterblich klingend dahin, wenn jemand etwas schön sagt.“29 Der Rhapsode schreitet durch den Mythos wie durch eine ferne, wechselvolle, den gegenwärtig Zuhörenden nur teilweise bekannte und deshalb zu erklärende Gegend. Den Stab nutzt er als Wanderstab und als Symbol dichterischer Autorität; er ist das Erkennungsmerkmal des Trägers göttlicher Worte. Der Stab gilt – wie im Mittel­alter – als ein Zeichen von Herrschaft. Neben dem Rhapsoden halten ihn der König oder der Richter, auch der Redner in der Volksversammlung, jeweils also derjenige, dem alle zuhören müssen. Vom Baum des Apollon geschnitten erhebt er auch den Sänger zu göttlicher Würde; so erscheint er als Sprecher einer ganzen Gemeinschaft.

Der Rhapsode zeigt paradigmatisch, wie szenische Vorgänge, die Theater genannt werden können, aus dem Lebensprozess erwachsen. Denn das Erzählen vor anderen im Kreis der Familie ist kulturelles Allgemeingut. Es erfährt beim Rhapsoden eine Steigerung durch besonderes Talent, eine außergewöhnliche Gedächtnisleistung, Übung, Charisma sowie durch rhetorische und spielerische Fähigkeiten. Während ein literarisch geprägter Theaterbegriff des 19. Jahrhunderts einen Thespis benötigte, der Theater erfunden haben soll, so genügt es innerhalb eines Konzeptes mit synchron existierenden Theaterformen, auf Beispiele wie den Rhapsoden zu verweisen, die zeigen, wie sich Theater seit einigen tausend Jahren aus Alltagsvorgängen herausgebildet hat.