Der Feuereifer des Florian H.

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Der Feuereifer des Florian H.
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Andreas Hoffmann

Der Feuereifer des Florian H.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Samstag, 1. Mai

Sonntag, 2. Mai

Montag, 3. Mai

Dienstag, 4. Mai

Mittwoch, 5. Mai

Donnerstag, 6. Mai

Freitag, 7. Mai

Sonnabend, 8. Mai

Sonntag, 9. Mai

Montag, 10. Mai

Dienstag, 11. Mai

Mittwoch, 12. Mai

Donnerstag, 13. Mai

Freitag, 14. Mai

Sonnabend, 15. Mai

Sonntag, 16. Mai

Frankfurt a. M., 17. Mai

„Frankfurt am Main, 18. Mai […]

„Neukölln, 19. Mai

Freitag, 20. Mai

Impressum neobooks

Samstag, 1. Mai

„Aufstehn, Alter. Wie lange solln wir noch warten?“

Es knurrt. Irgendwoher.

„Avanti popolo! Wird‘s bald, mein Freund?“

Florian erwacht: Neben sich auf der Bank, wer weiß woher, zwei kühle Klare, Wodka, Korn oder so etwas, und eine umgekippte Cola. Vor sich zwei Körper in Uniform, ein bulliger, ein weiblicher, dazwischen ein Schäferhund.

„Ans Werk! Schlaf deinen Rausch woanders aus. Hier ist nicht das Adlon.“

Der Hund zerrt an der Leine, der Maulkorb reibt an Florians gebügelter Hose. Gehorsam erhebt er sich.

Seine gepunktete blaue Krawatte schlappt aus dem Sakkoausschnitt. Hinter ihm rote Blumen in Folie. Florian fingert nach seiner Monatskarte. Die wollen sie wohl sehen.

Der Bullige sieht die Rosen, dann den Zeitfahrschein, dann seinen Fehler ein, riskiert grinsend noch einen scharfsinnigen Witz, „Nicht so viel schlafen, sonst schläft die Freundin auf einmal woanders“, murmelt „schön Tach noch“, dann dreht der dreiköpfige Wachdienst ab, als sei nichts gewesen. War was?

Oh ja! Es war das erste Mal, dass Florian Haselbach den Hütern jener Ordnung auffiel, die ihm an sich sehr heilig ist. Zum zweiten Mal soll ihm dies vierzehn Tage darauf passieren, heftiger und aus Gründen, die er meint nicht verantworten zu müssen. Doch liegt das, als er auf dem Bahnsteig umständlich Jackett, Hose und Rosen glatt streicht, noch so fern wie zwei Menschenleben, von denen das eine schon zu Ende, das andere noch nicht einmal gezeugt ist.

Haselbach gähnt in seine Handfläche und guckt sich um, ratlos wie immer, wenn er vor einer Entscheidung steht und niemand da ist, sie ihm abzunehmen. Alles ist wie vorhin, als er einnickte. Die regelmäßigen schlanken Pfeiler des hauptstädtischen Hauptbahnhofs, das Glasdach darüber, die im Tunnel verschwindenden Gleise, immer brav parallel, bis sie sich im Unendlichen treffen. Ob die Züge dort entgleisen? Fahrstühle in Glasröhren, auf und ab und ab und auf. Rolltreppen, deren Stufen sich unablässig auftürmen und verflachen wie Wellen am Strand. Wartende einzeln und in Gruppen, Gepäck bei Fuß, Hastende mit eiernden Kofferkulis, ein Flaschensammler mit Plastiktüten. Zwischen alledem er, Florian, mit seinem Blumenstrauß, der seit anderthalb Stunden seiner gar nicht mehr sein soll. Eingetauscht gegen eine Umarmung und einen Kuss. Verpasst. Leo ist nicht gekommen.

Fernab eine Lautsprecherdurchsage: Vorsicht bei Einfahrt des Zuges sowieso aus Soundso nach Daunddahin, verspätet oder zu früh, auf diesem, jenem oder einem anderen Gleis. Stimmte seine Uhr? Um 18.58 Uhr hätte Leos Zug einfahren müssen. ICE 7264 aus Frankfurt am Main. Als er nicht kam, legte er noch eine Stunde zu, bis zum nächsten Zug. Dazwischen muss er eingeschlafen sein.

Was tun? Leo anrufen? Haselbachs Handy liegt daheim. Kein Guthaben mehr. Einen der rar gewordenen Münzfernsprecher suchen? Zehn Euro drei Cent im Portemonnaie, zum Telefonieren zu viel und zu wenig. Den Zehner wechseln lassen? Zu peinlich, zu schwierig für einen, der so ungern auffällt wie er. Ach was! Wird schon alles seine Richtigkeit haben.

Langsam setzt sich Florian in Bewegung. Die Flaschen auf der Bank, die schon vor ihm da waren, stören noch immer die Ordnung. Die Klaren zum Altglas und die Pfandflaschen in die Tüte des Sammlers. Aufgeräumt muss sein. Florians Devise.

Nach Hause also, sagt er sich, durch das Labyrinth der Treppen und Rolltreppen, Geschosse und Zwischengeschosse, zur richtigen Bahnsteigkante, zur richtigen S-Bahn. Volle Konzentration. Den Faden nicht verlieren. Nur nicht ablenken lassen, schon gar nicht von den Appellen der Werbeplakate, die zu befolgen ihm die nötigen Noten sowieso fehlen. Schlaufinanzierer aufgepasst. Endstation für teure Anschlussfinanzierung. Gib Deiner Zukunft ein Zuhause. Oder: Einfach sicherer verlieben. Das ist NEU. Entdecke die neue Version. Mit Ariane.

Am Ende des Hoch und Höher der Stufen wartet Haselbach wieder auf die Bahn, diesmal seine. Neben ihm eine Gruppe von Männern mit Nelken, Transparenten und eingerollten Fahnen. Ach ja, erster Mai, schmunzelt Florian, Kampftag der Arbeiterklasse. Wäre Leo da gewesen, wäre die Kundgebung um eine Person machtvoller ausgefallen. Dies Jahr aber nicht. Leo fehlte.

Ein paar Stationen mit der S-Bahn, dann mit der U-Bahn, wo er sich im schwarzen Schacht in der Scheibe des Wagenfensters gegenüber täglich selber trifft, wie ein Selbstporträt in Kohle: Florian Haselbach, punkt dreißig, schlank, schmalschultrig, volles, dunkles Haar, von Wirbel und Scheitel nach hinten geworfen. Eine Narbe wie eine Schneise in seiner linken Braue. Kindheitserinnerung. Kein Bart, nicht eine Stoppel. Glatt rasiert wie stets.

In Neukölln steigt er aus. In seinem Kiez, oder besser gesagt: da, wo er besserer Tage harrt. Die Ampel an der Karl-Marx-Straße: Immer rot, wenn er kommt. Immer wartet er als Einziger auf die nächste Phase. Grün. Die letzte Etappe zur Wohnung: Durch die kahl barbierten Fassaden einstiger Wohnpaläste in der schrill schreienden Straßenschlucht. Calling worldwide for less money – Posten-Center Neukölln. Konkurse Insolvenzen. Deutsches Marken Porzellan bei uns ab 0,50 € – Räumungsverkauf – Zu vermieten – Jasmin Bistro Thailändische Spezialitäten – Tattoo & Piercing – Alles muss raus – Teppich Paradies! At?n! At?n! Esk? Hal?lar?n?z? at?n! – Plakate kleben untersagt. Vor den Läden lauthals palavernde Männer, breitbeinig, energiegeladene Drinks in Händen, auf den Bänken flüsternde Frauen, betucht vom Scheitel bis zur Sohle. Oh, Maria Magdalena, vor dem Haus Deines HERRN steht grün und rund ein Pissoir und Deiner Kita gegenüber groß und breit und deutsch: Guardian Schutzengel – Die Waffe – Sport und Selbstverteidigung. Am Eingang zum Gemeindehaus: Neuköllner Tafel. Übermorgen früh stehen ihre Gäste wieder an. An der Existenzschwelle, knapp davor oder dahinter.

Plastikpullen stauen sich vor dem verrosteten Gitter des Kirchhofstores, an dem zwei alternde Jugendstil-Cherubim mit lodernden Fackeln Wache halten wie Mitarbeiter der Müllverbrennung. Über die Friedhofsmauer hinweg verpulvern Birken ihre Pollen im Überfluss. Haselbach niest. Jedesmal im Mai fliegt was in der Luft, auf das er sensibel reagiert.

Florians Kiez? Nun ja, es lebt sich billig hier. Wäre mehr Luxus für Leo und ihn drin, zwei Kinderzimmer auf Vorrat, Balkon, Wintergarten, Grünblick, sie wären längst draußen. Rechts hinein also in eine offene Durchfahrt mit eisernen Fahrrillen, gemäß Bauverordnung von anno dannunddann (Haselbach könnte das genaue Jahr sagen) breit genug für eine Löschkutsche. Geradeaus geht es zu Hof und Gartenhaus, zu Teppichstange, Mülltonnen und einer nach Sonne lechzenden, dürren Birke. Zu Haselbach bitte rechtslang, durch ein zerstoßenes Portal ins Vorderhaus. Der stille Portier verrät als Mietpartei im ersten Stock F. Haselbach/ Dr. L. Baken und um sie herum Duman, Ahcin, Öczan, Franziska Schudoma, Bülbüloglu. Auf den leuchtend roten Lichtschalter zu drücken lohnt seit Monaten nicht, die Birnen brennen erst ab dem dritten Stock.

Stolperfrei erreicht Florian seine Wohnungstür. Dann abruptes Stoppen: Unter der Tür greift Licht durch den Spalt. Florian lauscht. Drinnen kein Geräusch. Nichts zu hören. Von der Straße her jodelt ein Martinshorn durchs immerdustere Treppenhaus zu ihm hinauf. Sonst Totenstille.

 

Hauptkommissarin Lena Odenthal zöge jetzt entschlossen ihre Dienstwaffe aus dem Holster und würde, die Pistole mit beiden Händen vor sich gestreckt, von Tür zu Tür durch die Wohnung springen, erst an den Beginn des langen Flurs mit den endlos vollgepressten Bücherregalen, dann links vor die Küche, als nächstes ins Bad und hinter den verdächtig sich vor dem undichten Fenster bewegenden Duschvorhang, dann vor das Schlafzimmer mit dem Doppelbett und schließlich am Ende des Gangs in das ebenfalls mit Büchern vollgestellte Wohnzimmer. Dort würde die Polizistin alles registrieren, das Knarren der verkratzten Dielen, die Stuck gewesenen Unebenheiten an der Wohnzimmerdecke, das welke Laub des Fensterlacks, Schreibtisch, Drucker und PC, Clubsessel und Tisch, die Stehlampe, das Zweisitzersofa mit einem ewig schief hängenden Bild darüber, einem Stich vom Trödelmarkt, und in einer Ecke den Fernseher und Plattenspieler. Kurzum, sie befände sich an einem Tatort, der so spannend unspektakulär schiene, wie es eine kleine, enggewohnte Altbauabsteige nur sein kann.

Beklommen wagt sich Haselbach in seine Wohnung, zieht lautlos die Tür hinter sich zu. Dann Erleichterung! Neben seinen Schuhpaaren liegen zur Seite gekippt zwei Pumps, wie immer flüchtig von den Füßen gekickt. Florian stellt sie auf, richtet sie parallel aus, öffnet seine Schuhe, schiebt Spanner hinein und stellt sie daneben. Er liebt es, seine Freude vorfreudig zu unterdrücken, besonders wenn zuvor Dinge nach Ordnung rufen. Dann auf Zehenspitzen dem Licht entgegen ins Wohnzimmer. Er kiebitzt durch den Türspalt: Auf das Sofa geworfen, ihre gestreifte Hose und ihr Blazer.

Er lugt vorsichtig um den Türrahmen: Leo. In den Clubsessel gegossen. Ihre langen Beine angewinkelt, ihr Jeansrock ein knapper blauer Streifen. Das T-Shirt gibt eine Schulter frei, auf die ihre rötliche Haarflut prasselt. Lässig baumeln am Handgelenk Armreifen, auf der Brust ihr iPod, in den Haaren versteckt die Kabel der Kopfhörer. Auf dem Tisch liegen ihre Kreolen. Im Aschenbecher (ihrem, nicht seinem!) neben einem zerknautschten Stummel eine frisch gedrehte Zigarette, filterlos, Rauchspiralen zwirbelnd. Um den Sessel herum Pyramiden abgeworfener Zeitungsblätter. Leo mittendrin, vertieft, belustigt.

Lautlos schleicht sich Florian heran, so nah wie möglich. Fischer, Fischer, wie tief ist das Wasser? Ein Geräusch zu viel, er stoppt, sie springt auf, ist ihm schon um den Hals, an den Lippen, in seinen Haaren. „Endlich!“ Vier Tage, das sind, das waren 96 Stunden, gleich 5760 Minuten, etliche im Festnetz erduldet oder, wenn anders nicht mehr ertragbar, am Handy, endlos weit entfernt jedesmal, für Florian eine Ewigkeit.

Endlich. Sie ist wieder da. Belebt die Bude. Bringt Schwung. Tristans Isolde, das ist sie nicht. Keine Schwere, keine Schwüre. Mit Worten kitzeln, bis der Gekribbelte sich wehrt: Juckende Ironie erwartet ihn wieder.

Florians Krawatte, seine einzige, ist gleich der Aufhänger. Wozu bloß der Schlips? Sie zählt mit dem Finger die Pünktchen ab! Bei einer Neuen gepunktet? Wie ist sie denn?

Wie sie ist? Florian guckt schmunzelnd zur Decke, denkt schwer nach: Ein Meter zweiundsiebzig ist sie, rote Haare, nee, eher rotblond, Ende zwanzig, ledig, promoviert, Betriebswirtin, Praktikantin bei einem namhaften Chemieunternehmen, große Karriere vor sich, Strumpfgröße um die 90-60-90 …

Aha, sie lacht. „Deine Neue ist mir ja täuschend ähnlich.“

„Mein Typ eben. Und wie du, sollte sie kurz vor sieben am Hauptbahnhof ankommen. Aus Frankfurt. Von einem Vorstellungsgespräch. Kam aber nicht.“

„Kam doch!“

„Kam nicht. Nicht einmal der Zug kam.“

„Dann hat sie dich versetzt, deine Neue. Oder du hast sie verschlafen, mein lieber Flo. Ich war jedenfalls da. Okay, ein bisschen spät und auf einem andern Bahnsteig. War aber nicht meine Schuld: Personenunfall auf der Strecke.“

„Personenunfall?“

„Ja! Keine Ahnung. – Sag mal, die Blumen da: Sind die auch für die Neue?“

„Eigentlich ja, aber da sie nicht kam …“ Vorsichtig streift Florian die steife Folie ab.

„Gloria Dei! Und wie sie duften! Flo, mein Florian!“ Leonore nimmt die Rosen, dann seinen Mund, lässt Gloria Dei gleich wieder fahren und sich, Florian am Schlips fest im Griff, aufs Sofa fallen. Futsch ist Florians Frisur, Façon perdu.

Minuten später hat man sich gerappelt, Florian auf der Couch, Leonore liegt quer, seine Schenkel polstern ihren Kopf, ihre Beine baumeln über der Lehne. Gloria Dei duftet in einem mit Wasser gefüllten, vor Jahren leer gegessenen Würstchenglas, auf dem Plattenteller drehen sich ganz leise Bernstein und die Meistersinger.

„Und? Seid ihr gestern um die Häuser gezogen, wie ihr’s vorhattet?“

Leonore nippt an ihrer Weinschorle.

Ach ja, die Walpurgisnacht mit Corinna, ihrer Frankfurter Freundin. Die beiden Hexen auf dem Zug durch Sachsenhausens einschlägige Hexentanzlokale. Zwei Typen als Famuli im Schlepptau, von denen Leo einen ungewollt so bezirzte, dass der Zauberlehrling die Kontrolle über seine Hände verlor. Zwei Klapse auf dieselben, eine ihrer magischsten Formeln in sein Ohr gezischt, schon waren ihre Schenkel wieder frei.

Leo schaut zu Flo nach oben, er geradeaus. Sie streichelt ihm das Kinn.

„Ach, mein Flo und seine schlimme, schlimme Eifersucht. Glaub mir: Ich hab dem Gesellen mit ausgestrecktem Arm gutnacht gesagt. Oder frag Corinna.“

Flo nimmt einen Schluck Schorle.

„Und zu deinem Vorstellungsgespräch kam Bergner höchstselbst?“

„Bewerbungsgespräch“, korrigiert Leo. „Na ja, es fing ja mit Nowak an. Personalbüro. Also, Glaspalast, dreißigster Stock, alles glänzt. Ich in Nowaks Vorzimmer. Kommt so ein Typ heraus, völlig entnervt und rot im Gesicht, schnurstracks durch die Tür und weg. Mitbewerber, meint die Sekretärin. Fünf Minuten später geh ich rein. Drei Ledersessel, ein kleiner Tisch, darauf die Bewerbungsakte. Nowak erklärt nochmal, worum es geht: Assistenz des Vorstands für Forschung. Extrem wichtige Aufgabe, gerade jetzt, da Teile der Abteilung nach Indien verlagert werden. Dann die Fragerei: Wo meine Stärken und Schwächen liegen. Meine Doktorarbeit. Womit ich mich im Praktikum beschäftigt hätte. Das Klima unter den Kollegen. Wie ich den Vorstand unterstützen könnte und so weiter und so fort. Auf jede Frage eine passende Antwort. Nowak schreibt mit, nickt, lacht auch einmal. Ganz entspannt. Bis er mich nach privaten Plänen fragt: Wollen Sie Kinder?“

Florian spürt seinen Ingrimm – wieder dieses Thema. Leonore sieht’s und spitzt ihrerseits angriffsbereit die Lippen. Ein untrügliches Symptom: Alarmstufe eins, Unwetter. Dies blöde Thema! Das hatten sie schon am Telefon durch.

„Was hätte ich ihm denn flüstern sollen, Flo? Die Wahrheit, nichts als die lautere Wahrheit? Lieber Herr Nowak, mein Freund und ich warten schon ewig und drei Tage darauf, finanziell so gestellt zu sein, dass wir uns Kinder leisten können. Eins, wenn möglich sogar zwei. Na, da hätte ich gleich einen Knicks machen und auf Wiedersehen sagen können.“

Florian knebelt sich. Nur gemach! Nicht wieder Krach! Ein Kuss zur gegenseitigen Beruhigung.

Der liebe Gott hat Notlügen erlaubt, war ihr Konsens, nicht zu viele, aber hin und wieder mal eine. Dafür verpasst er einer jungen Bewerberin, die Kinderlein kommen lassen mag, nicht gleich Fegefeuer. Sie sei gestattet, die Heuchelei: Erst die Firma, die Firma und dann die Familie.

„Flo, es ging nicht anders. Und wenn ich den Job hab und richtig drin bin, drehen wir den Spieß um. Dann machen wir Nowak zum Paten.“

„Und Bergner noch dazu.“ Beide prusten los vor Lachen. Zu witzig die Vorstellung. Und der schönste Teil der Geschichte kommt erst noch, der mit Bergner, dem berühmten Arnold Bergner, mit Gottes Gnade Leos künftigem Chef.

„Tritt Bergner plötzlich in Nowaks Zimmer. Entschuldigt sich, dass er nicht früher kommen konnte. Sieht toll aus. Wirklich wie im Fernsehen und in den Illustrierten. Anfang fünfzig, schlank, Nadelstreifenanzug, Fliege, recht charmant. Setzt sich auf den freien Sessel und übernimmt das Gespräch. Ob ich mich in Indien auskenne. Ob ich gar Marathi spreche. Ich antworte: Sorry, Sir, not fluently. But don’t they speak English in India? Er lacht, dann geht‘s auf Englisch weiter. Nowak verstummt, versteht wohl Bahnhof, Bergner und ich uns dagegen sofort. Kam mir zumindest so vor. Nach anderthalb Stunden war ich wieder draußen. Handschlag. Freundliches Lächeln. Ich bekäme bald Nachricht.“

Manche Märchen sind so, dass man sie immer wieder erzählt haben möchte.

Unterdessen geht vor Florians undichtem Fenster der Abend in die Nacht über. Während irgendwo in der Stadt der „Revolutionäre 1. Mai“ tobt, Flaschen in Laternen , Pflastersteine in Schaufenster einschlagen, während es draußen und drinnen brennt, während Sirenen kreischen und Blaulicht kreist, während Polizisten mal diese, mal jene Straße abriegeln, die Autowracks nicht ohnehin schon sperren, während Augen feucht werden von Tequila oder Tränengas, während manche Cocktails werfen, manche Cocktails mixen, während ein Hupkonvoi die Karl-Marx-Straße herauffährt und Kinder sie bettelnd und Pfandflaschen sammelnd hinabstreifen, während des üblichen Wahnwitzes dieser Stadt also liegen Florian und Leonore beieinander und hegen glückliche Gedanken. Man trinkt verdünnten Wein, man küsst sich, man lässt den Herrgott einen guten Mann sein und Bernstein, Böhm und Barenboim so gute Dirigenten, wie sie der alte Plattenspieler noch eben hergibt.

Es dämmert schon, als sie ins Bett fallen, unmüde, erregt, abgespannt, ausgelaugt. Florian tastet zittrig nach dem Nachttisch, als leider, leider Leo noch der Anruf einfällt, der von Ali, als Florian noch auf dem Bahnhof schlief. Er möge morgen bei ihm vorbeikommen. Dringend! Weshalb? Wollte er nicht sagen. Typisch Ali. Florian will sich nicht eingestehen, dass er sich über dieses Gebaren ärgert, aber was hilft’s: Seine Erregung nimmt eine andere Richtung. Die Lust ist raus. Die Handschellen bleiben in Flos Nachttisch, das Kondom in Leos Schublade.

Sonntag, 2. Mai

Erster Augenaufschlag des Tages. Verschwommene neun Uhr erkennt Florian auf dem Wecker. Die Matratze neben ihm: leer. Das Zimmer ist dunkel, immer, auch bei hellichtem Tage, der Brandwand wenige Meter gegenüber geschuldet, die der Sonne den Zutritt verwehrt. Hinzu kommt diesmal, soweit erkennbar, eine Wolkenhaube, metallicgrau gespritzt, wie am Ende einer Karosseriereparatur.

We don’t need another hero. Von Weitem, aus der Küche, tönt Tina Turner. Florian reckt seinen Körper auf die zuletzt bei ihm gemessenen ein Meter neunzig. Dann die Hand vor den Mund zu einem vorletzten Gähnen.

Leonore und Tina Turner nunmehr im Duett, eine temperamentvoller als die andere: And I wonder when we are ever gonna change living under the fear. Florians Arme rutschen in den Morgenmantel, er bindet den Frotteegürtel zur Schleife und zieht die Schlaufen exakt gleichmäßig lang.

Rein in die Latschen, ab in die Küche. Beim Vorbeigehen ein kurzer Blick ins Wohnzimmer, zur Couch. Klar doch, das Bild hängt wieder schief. „Luther verbrennt die päpstliche Bulle“, ein Farbdruck, Schnäppchen vom Flohmarkt. Seit damals steht über dem Sofa hängend der Titan vor Wittenbergs Elstertor und hält das Papier des Papstes hoch in den Himmel, zu seinen Füßen ein Feuerchen, um sich herum Kollegen, Studenten, Neugierige. Gleich fliegt die Bulle in die Flamme. Barbecue 1520 – hinge das Bild nicht immer wie eine Raute. Luther fällt fast auf den Bauch und die Professores und Studiosi auf ihn drauf. Weiß Gott, warum. Rütteln Autos und U-Bahnen derart an der Hauswand? Was soll‘s! Florian legt Hand an. Luther muss ins Lot. Ordnung muss sein. Erst dann kommt das Vergnügen.

All we want is life beyond the thunderdome. Tina wird in der Küche noch mal richtig laut und Leo tanzt im Takt dazu im Tanga. Mit der Kreissäge schneidet sie Brotscheiben, plötzlich Florians Hände in den Hüften, im Rhythmus mitschwingend. Sie lässt die Kurbel los. Greift hinter sich und faltet die Hände hinter seinem Nacken.

„Auch schon auf, Murmeltier? Rate mal, wie spät es ist!“

„Neun.“

„Neun Uhr?“ prustet sie los. „Eben kamen die Elf-Uhr-Nachrichten.“

Wecker stehen geblieben. Läuft zurzeit alles schief?

„Und? Gibt‘s was Neues?“

„Mächtig Randale letzte Nacht in Kreuzberg. Und die Wirtschaftsweisen werden morgen voraussagen: Keine vier Millionen Arbeitslosen mehr am Jahresende …“

„Super!“

 

„… sondern vier Komma vier.“

Haselbach muss lachen. Ungewollt. Über sich, nicht über die Meldung. Was ihn an Alarm erreicht, tröpfelt meist durch Leonores Filter. Er ist kein großer Zeitungsleser, kein Fernsehkieker, und wäre nicht Leos Drang zu Panorama, Fakt und Monitor, hätte er mehr Zeit für Wagner, Liszt und Beethoven.

„Übrigens: Ali hat wieder angerufen. Er sei im Laden.“

Florians Brauen schnellen hoch. Schweigend grapscht er die Kanne von der Kaffeemaschine, füllt die Tassen und hockt sich an den Küchentisch.

„Diese Drängelei, die hab ich gern. Vor allem am Tag nach deiner Rückkehr.“

Leo setzt den Brotkorb ab.

„Kein Problem. Ich wollte eh heute in meine Wohnung und bei Bakens reinschauen. Vater will sicher wissen, wie Bergner drauf war. – Und ist nicht heute dein Schachabend?“

Ja, natürlich. Fast vergessen. Schon wieder zwei Wochen vorbei. Diesmal bei Heiner. Turnusmäßig ist der mit Bier und Stullen dran.

Die reibungslose Prozedur nach dem Frühstück verrät das eingespielte Duo. Jeder Handgriff sitzt, drei Jahre lang eingeübt. Der häusliche Alltag erfordert kaum noch Worte. Geschirr ins Becken, Brotkorb in den Eckschrank, Kaffeekanne ausspülen und stülpen. Längst vorbei sind die Kontroversen darüber, wer wann abwäscht, ob mit oder ohne Spülmittel, bei laufendem Wasser oder im gefüllten Becken, ob das Geschirr selbst trocknen kann oder mit dem Küchentuch poliert werden muss. Geklärt ist, wer die Mülleimer hinunterträgt, wie oft – nach Florians Ansicht: selten – sie die Fenster putzen und wo die Eier besser aufgehoben sind: in Speisekammer oder Kühlschrank. Fragen von bedrohlicher Bedeutung für zwei, die sich zusammenraufen! Florian und Leo haben sie ausdiskutiert.

Jetzt ist Ali dran, auch kein Thema mehr zwischen ihnen. Doch Florian ist mit ihm noch immer nicht im Reinen. Dabei ist er schon seit fast drei Jahrzehnten sein Sohn, seiner so gut wie der seiner Mutter, so wie früher sein Bruder Werner – und doch nicht so.

Es ist zum Verrücktwerden, aber diese U-Bahnfahrt zum Laden seiner Eltern, wo sein Vater auf ihn wartet, ist jedesmal eine vertrackte Zeit des Zorns und die Stationsschilder vor dem Fenster, jedem anderen lesenden, SMS-schreibenden, spielenden, schlummernden Fahrgast egal, es sei denn, er muss aussteigen, diese Schilder pieksen wie Stichwörter. Zurückbleiben, bitte!

Rathaus Neukölln.

Hier stieg er immer aus. Zwei Ecken weiter war sein Gymnasium. Seine Mutter kannte es gut, von den Elternabenden und den Gesprächen und Konferenzen her, wenn er mit Zündholz und Reibefläche oder Bunsenbrenner die Aufmerksamkeit der Anderen in der Klasse erregte – und den Ärger der Lehrer. Wie oft saß sie im Sprechzimmer, dorthin zitiert oder aus eigenem Antrieb! Aber Ali, sein Vater? Keine Spur!

Und Florian? Seine Deutschlehrerin stellte einmal die Aufgabe: „Beschreibe das Leben eines wichtigen Menschen.“ Die Auswahl war groß. Zum Beispiel Katharina von Bora, die reiche Erbin Luthers, oder Ottilie Müntzer, Thomas‘ hungernde, alleinerziehende Witwe. Florian wählte seine Mutter, der besseren Quellenlage wegen. Der Vater, Kurt Haselbach, war kein Thema für ihn. Dabei hätte er einige Episoden flüssig herunterschreiben können, so oft hatte er sie gehört, zum Beispiel die vom Boxen.

Haselbach Vater war Boxer, im Verein wie im Leben. Einmal besiegte er sogar den Weltmeister. Florian kannte die Geschichte auswendig, die von dem Samstagabend mit Muhamed Ali im ZDF-Sportstudio. Haselbach sitzt im Publikum. Ein Boxring ist aufgebaut, Scheinwerfer, Kameras. Ringrichter und Champion treten auf. Beifall. Der Moderator sucht einen Herausforderer. Dutzende Bizepse schießen hoch. Haselbachs ist angeblich der dickste. Ab in die Umkleide. Der Kampf ist kurz. Nach zwei Minuten (später lässt es die Sendezeit wohl nicht zu) liegt Muhamed Ali auf dem Boden. Sieben, acht, neun. Der Unparteiische reißt Haselbachs Arm hoch. Seither heißt er Ali. In Kreuzberg, seinem Kiez, gibt es mit Sicherheit keinen blauäugigeren Ali als ihn.

Hermannplatz. Übergang zur U8.

In einer Seitenstraße war die Autowerkstatt, in der Werner lernte. Sein Vater kannte sie gut, denn er holte den Azubi, wenn es spät wurde, oft ab. Manchmal versackten sie auf dem Heimweg irgendwo, und Florian und seine Mutter wunderten sich zu Hause, wo sie blieben. Eines Abends, Ali warf sich gerade in seine Jacke, kam aus der Werkstatt ein Anruf. Florian kann das Klingeln noch heute hören. Seine Mutter schrie wie von Sinnen, Ali riss ihr den Hörer aus der Hand und das Kabel aus der Wand. Florian wird nie vergessen, wie sie alle hinaus hetzten und zur Werkstatt fuhren, wo sie schon von Weitem das Blaulicht auf dem dunklen Hof blinken sahen, Werner lag im Büro auf einer Trage, schwer verletzt, ohne Bewusstsein. Er starb noch in derselben Nacht. Seine Mutter sprach tagelang nicht ein Wort. Florian hatte Angst, sie würde nie wieder sprechen. Er schrieb Nächte hindurch Briefe an seinen Bruder, weinend, die Tinte zerlief immer wieder, aber sie trocknete auch. Und sein Vater stürzte sich in Aktivität, sinnlos, als käme es darauf an, die Todesanzeige persönlich aufzugeben, als erweckte der Ärger mit den Friedhofsverwaltungen um die schönste Grabstelle seinen Sohn zum Leben. Werner war tot. Florian lebte. Er war nun auch der Sohn seines Vaters, eine ungewohnte Rolle, in die er sich nie finden konnte.

Schönleinstraße. Ausstieg links.

Dieses Stationsschild vor dem Fenster, gerät Florian ins Schmunzeln, denn witzigerweise ist dies der Mädchenname seiner Mutter, Susanne Schönlein, verheiratete Haselbach. Ali, gerade Zimmererlehrling, lernte sie im Vereinsheim kennen, Tochter seines Trainers. Zahnarzthelferin. Einen „steilen Zahn“ nennt Ali sie noch immer, wenn er einen Kalauer auf der Zunge hat, unbekümmert von dem höflichen Lächeln älterer und den diesen Begriff nicht mehr begreifenden jüngeren Zuhörern. Ein steiler Zahn? Diese sanfte, ruhige Frau mit ihren tiefschwarzen Haaren, ihrem dunklen Teint, ihrer mittlerweile leicht oval gerundeten Gestalt? Wieso Zahn, wieso steil? Sie sei ihm eine Walz lang treu geblieben, weiß Ali (woher eigentlich), und danach begleitete sie ihn zum Standesamt, zum Arbeitsamt, zum Sozialamt. Bis er sich selbstständig machte. Als Geschäftsführer eines Kiosks. Da quittierte sie ihren Dienst beim Dentist und begleitete Ali in seinen Laden, samt zwei Söhnen, die sie ihm mittlerweile geschenkt hatte. „Geschenkt“? Florian schüttelt es den Kopf.

Kottbusser Tor. Vorsicht an der Bahnsteigkante.

Nicht weit weg von hier haben sie gewohnt. Nicht weit weg passierte das andere große Unglück der Familie. Florian sieht ihn noch vor sich, seinen Vater vor dem Sturz, parademäßig in Kluft mit Staude, Ehrbarkeit und Ohrring, ein stolzer, kräftiger Zimmerer. Am Baugerüst ohne Leiter hinauf hangeln, das konnte keiner wie er. Jede Wette! Die letzte ging verloren. Sie änderte sein Leben, ihr Leben. Auch diese Geschichte kennt Florian zur Genüge. So schlimm sie nach Eintreten des Ereignisses war, so gut lässt sie sich, sind die Folgen erst überwunden, erzählen, immer wieder, immer ausgeschmückter. Also, es regnete an jenem Tag, Bier und Korn flossen im Bauwagen literweis. Keiner ging mehr aufs Gerüst. Nur noch aufs Klo. Außer Ali. Der wollte hangeln. Die Wette galt. Die Einsätze im Hut, Modder an den Stiefeln, sprang er das Gerüst an und zog sich mit Kraft und Schwung von Stange zu Stange. Die oberste jedoch war zu viel. Ali rutschte ab und stürzte rücklings auf einen Sackstapel. Das Gejohle der Wettgegner verstummte jäh. Der Zimmerer bewegte sich nicht mehr. Der Radiologe fand die Frakturen extraordinär, das Labor aber einen zur Arbeitszeit ungemäß hohen Alkoholgehalt im Blut. Für Ali und seine junge Familie war dies der grausamste anzunehmende Unfall. Halbwegs genesen (der linke Arm hängt auch heute, zwanzig Jahre später, ziemlich schlaff) verließ er die Reha in die Erwerbslosigkeit. Vorbei war es mit Boxen und Beruf.

Moritzplatz. Einsteigen bitte. Die Türen schließen.

Florian steigt aus, orientiert sich kurz und wählt den richtigen Ausgang. Die Oranienstraße einige Hausnummern weiter, da ist der Laden, der Stolz des einstigen Zimmerers. Doch wie hat er damals gefleht. Florian kriegte es durch den offenen Türspalt mit, wie er seine Frau bekniete, ihre Stelle aufzugeben und mit ihm einen Kiosk zu eröffnen. Was der Steppke nicht wissen konnte: Sein Vater kämpfte um sein Gesicht bis zur Selbstverleugnung, bis Susanne aufging, dass Ali nicht mehr Ali gewesen wäre, hätte nicht er, sondern sie, die Frau des großen Weltmeisterbezwingers, die Familie über Wasser gehalten. Sie stritt nicht. Sie lenkte ein und stellte sich in den Laden, seinen Laden. Geklagt hat sie darüber später nie. Zumindest den Kindern gegenüber nicht. Eine Freude sei es ihr gewesen, meint Ali, unmittelbar für die Familie zu arbeiten, hautnah mitzuerleben, wie sich sein Geschäft entwickelt. Mit Zeitungen, Kaugummis und Zigaretten fing es an. Lottoscheine kamen hinzu, Fahrscheine, dann selbstbelegte Brötchen, heiße Getränke und kleine warme Mahlzeiten aus der Mikrowelle. Sie übernahmen auch den Nachbarladen, als Internet-Café, sommers mit Tischen und Stühlen auf dem schmalen, belebten Bürgersteig davor.

Wahnsinn. Das alles hat er geschafft, posaunt Ali, der Boxweltmeister mit der baumelnden Linken. Kein Straßenfest, das er nicht mit organisiert, kein Bürgertreffen, auf dem er nicht das Wort ergreift, kaum eine türkische Hochzeit, auf die er und seine Frau nicht eingeladen sind. Ali bewundert in sich den König von Kreuzberg. Ohne Susanne, seine linke Hand, wäre er so weit nicht gekommen. Darin ist sich Florian sicherer als seine Mutter selbst, und als sein Vater ohnehin.