Der Sound der Provence

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Der Sound der Provence
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Impressum

Der Sound der Provence - Ein Roman über die Musik und die Liebe

Andreas Heineke

Copyright: © 2012 Andreas Heineke

published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-3858 -7

„Also, so schön ist das hier ja nun auch wieder nicht.“

Meine Frau Marga bei unserem ersten gemeinsamen Provence-Urlaub.

Ihr möchte ich diese Geschichte widmen.

1.

„Und, wie findest du uns?“

Die Frage kommt von einem langhaarigen Mann, Mitte 30, der eine doppelhalsige Gitarre um die Schultern gehängt hat. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht „Motörhead.“ Der Schriftzug ist dem einer amerikanischen Biermarke nachempfunden. Seinem weißen Bauch nach zu urteilen mag der Mann Bier, und wen stört es schon, dass der daraus erwachsene Bauch sich mühsam seinen Weg an die Luft erkämpfen möchte? Die Männer neben ihm sehen ähnlich aus. Alle scheinen sie Bier zu lieben, alle sitzen oder stehen bei ihren Instrumenten, die seit den Erfolgsjahren von Guns ‚n`Roses kein Bühnenlicht mehr erblickt haben. Stolz lehnt die riesige Gitarre mit dem Totenkopf am Bühnenrand. Die Haare tragen sie ausnahmslos lang und schwarz und der Bassist hat sogar seine Fingernägel passend dazu schwarz lackiert. „Eben so Marilyn Manson mäßig“.

Jetzt sind alle Augen auf Benjamin gerichtet, der nun dran ist, die Frage „wie findest du uns“ zu beantworten. In seinem Job als Talentscout einer Plattenfirma eine Frage, zu der es unendlich viele Antwortmöglichkeiten gibt, die am Ende aber alle das Gleiche sagen: „Üben, üben, üben“. Natürlich sagt weder Benjamin noch ein anderer seiner Kollegen, kurz „A&R Manager“ genannt, es so deutlich. Zwischen den Aussagen „Üben, üben üben“ und „Du bist schon fast ein Rockstar“ liegen unendlich viele Sätze, die es nun gilt, mit dem angemessenen Gesichtsausdruck zu formulieren. Noch immer liegt ein hoher Ton in der Luft und die bis zum Anschlag aufgerissenen Boxen geben einen lauten Brummton von sich. Benjamin ist sich nicht sicher, ob es sein sich ständig verschlimmernder Tinnitus ist oder nur der Klang eines bis zur Selbstaufgabe strapazierten Verstärkers, den er hört. Am liebsten würde er wie ein verschreckter Hund seinen Kopf schütteln, damit alles hier und jetzt aufhört und sich dann gemütlich auf irgendeine Decke legen und aus halb geschlossenen Augen diese merkwürdige Szenerie beobachten. Aber Benjamin ist kein Hund, sondern ein 29 jähriger Mann und der würde jetzt gerne eine Frau anrufen, nicht irgendeine, sondern seine Freundin und ihr sagen, dass es einen kleinen Moment später wird. Dass er eine Flasche Wein mitbringen würde, sich auf sie freue und noch mehr auf das gemeinsame Wochenende und dann würde er so einen Satz wie „Ich küsse Dich“ sagen und dann würde er lächeln und auf den roten Knopf auf seinem Handy drücken. Doch es gibt niemanden den er jetzt anrufen könnte und vor allem keine Freundin, denn Benjamin hat keine und deshalb braucht er auch auf keinen roten Handyknopf zu drücken. Eigentlich braucht er nicht mal ein Handy, denn wenn es klingelt sind es entweder Musiker wie diese hier, oder irgendein Kollege, der ihn fragt, wann er denn endlich im Büro sein wird oder ob er denn tatsächlich um 21 Uhr schon Feierabend gemacht hat, in schweren Zeiten wie diesen.

Gerne hätte er jetzt gesagt, „spielt doch mal etwas schönes, irgendwas mit Melodie, irgendwas bei dem man Instrumente erkennt oder zumindest erahnen kann.“ Doch Benjamin wählt andere Worte:

„Die letzte Nummer, dieses „10 more beers before I go”, hat was.“

Es war der Moment, in dem er sich insgeheim Hilfe erhoffte. Viele Bands sind schon so gespannt und euphorisch, wenn ein Offizieller der Plattenfirma etwas andeutungsweise Positives über die Musik sagt, dass sie schnell ins Wort fallen. Danach ist es ein bisschen leichter, ihnen zu sagen, dass die große Zeit für sie noch kommen wird oder auch nicht. Die Zeit dieser Band wird niemals kommen, das wusste Benjamin bei allem Unverständnis für diesen Lärm, doch er wusste auch, dass es eine CD mit den gleichen Stücken auch bei seinen Konkurrenten Warner Music, Universal oder der EMI gibt. Auch dort gibt es einen Mann wie ihn und eine ähnliche Szenerie mit seinen Kollegen. Auch sie werden auf Wände starren, die aus soundtechnischen Gründen mit Eierkartons verziert sind und auf einem Stuhl vor der Bühne sitzen und diese Art der Musik über sich ergehen lassen. Sollen sie doch, alles kein Problem, nur wenn es einem seiner Kollegen gefällt und dieser Band tatsächlich einen Plattenvertrag anbieten würde, und noch schlimmer, wenn die Band dann auch noch erfolgreich werden sollte, dann hätte er, Benjamin, ein ernstes Problem. Es wäre in seiner Berufsgeschichte nicht das erste und nicht das größte, aber es wäre ein zusätzliches. In Benjamins Berufsumfeld nennt man das „Erfolgsdruck”, und von dem hat er seit gefühlten 15 Jahren eigentlich schon genug. War es möglich, dass diese 4 Minuten 50, mit einem Gitarrensolo von über einer Minute seinem Arbeitgeber „Phonostar Records“ tatsächlich zu Millionen verhelfen würde? Würden die Deutschen durch die Straßen ziehen und dabei „10 more beers before I go“ grölen? Bei dieser Betrachtungsweise kamen ihm Fußballstadien, das Oktoberfest und sogar der Kölner Karneval in den Sinn. Es wäre der erste Rockhit, der sogar am Ballermann gespielt werden würde. Man müsste ihn dafür allerdings anders aufnehmen. Die laute Gitarre müssten raus, der Schlagzeuger würde gegen einen Drumcomputer ersetzt. Bei diesem Stück würde sogar schon der schnelle Rhythmus einer Heimorgel reichen. Heimorgeln sind auch gerade wieder angesagt, alles was retro ist ist angesagt und cool.

Benjamin hat immer Schwierigkeiten cool von uncool zu unterscheiden. Er fragt sich warum Nierentische und grüne Mustertapeten „in“ sind?, warum Bert Kaempfert irgendwie cool ist?, warum man hinter einem bunt geschmückten Wagen hinterherlaufen soll und mit vor Freude in die Luft geschmissenen Armen ekstatisch „Fiesta Mexicana“ brüllen soll?, oder mit hunderten von Leuten irgendwo gemeinsam abchillt? Benjamin kann die Wörter retro, sexy und cool schon nicht mehr hören. Vielleicht sollte er diese Becksmen auch einfach als retro und sexy verkaufen. Ist der Typ mit den schwarzen Fingernägeln und den langen Haaren sexy, wenn er „10 more beers before I go“ ins Mikro brüllt?“

Eigentlich nicht. Er taucht nicht zu einer Titelstory in einem dieser hippen Musik Magazine, es reicht nicht mal zu einer Titelstory im Metalhammer und für die Bravo sieht er zu böse aus.

Benjamin sieht sich plötzlich mit einem ernsthaften Problem konfrontiert. Auch nicht das erste Mal. Er würde ihnen klar machen müssen, dass er den Song gerne hätte und ihn am liebsten jemandem wie DJ Ötzi geben würde, das würde schneller Geld in die leeren Kassen seiner Plattenfirma spülen. Jetzt, als er in die Gesichter der Band mit dem lustigen Namen „Becksmen“ guckt, hat er plötzlich Angst um seine Gesundheit, wenn er sie mit seinem ausgetüftelten Marketingplan konfrontieren würde. Er tut es nicht, zumindest nicht jetzt, in ihrem Terrain, mit den Eierkartons an den Wänden.

„Also Jungs, ich werde mir diese CD“, er hält müde den Aldi-Rohling in den Händen und winkt der Band damit aufmunternd zu „anhören und mir überlegen, wie man euch am besten platzieren könnte“.

Becksmen gucken sich ratlos an und versuchen zu begreifen, was Benjamin wohl mit der Vokabel „platzieren“ meinen könnte. Sie scheinen ratlos und Benjamin nutzt die Ratlosigkeit und guckt umständlich auf seine Uhr.

„Oh, schon nach elf.“

Er erhebt sich und geht die wenigen Schritte zu der selbstgebauten Bühne. Anstatt ihnen die Hand zu geben, klatschen sie sich in einer komplizierten Reihenfolge gegenseitig in Fäuste, Finger und Hände. Wie Sportler, kurz nach einem Homerun, auch das soll cool sein.

Benjamin tritt auf die nächtliche Straße von Hamburg. Es sind etwa acht Grad, der Regen hat noch immer nicht aufgehört. Unaufhörlich prasselt er auf die Dächer und die Straße. Die wenigen Autos haben ihre Scheibenwischer auf die maximale Geschwindigkeit gestellt. Noch immer pfeift es in Benjamins Ohren, oder ist das der stürmisch kalte Nordwind, der durch die Stadt fegt und die Regentropfen waagerecht stellt?

„Man sollte sie verklagen“, sagt er laut zu sich, damit er den hohen Dauerton in seinem Ohr übertönt. Benjamin zieht die Schultern hoch und den Kopf so tief es geht dazwischen, um sich vor dem Regen zu schützen. In leicht gebeugter Haltung, die nicht die eines 29-jährigen entspricht, kämpft er sich von einem schützenden Dach zum anderen. Es hat keinen Sinn. Er ist durchnässt, als er schließlich seine Wohnung in Altona erreicht. Er schließt die Treppenhaustür auf, dann die Wohnungstür und hängt seine durchnässte Lederjacke an einen Haken, der nur noch halb in der Wand hängt. „Müsste ich mal reparieren“, denkt er, als er in seine unaufgeräumte und nicht besonders saubere Wohnung kommt. In der Küche stapelt sich der Abwasch und plötzlich bemerkt Benjamin, dass er Hunger hat. Schon als er die Kühlschranktür öffnet, weiß er, dass er nichts darin finden wird. Es ist der Kühlschrank eines Junggesellen, der neben Bier und ein bisschen Butter und Packungen mit abgelaufenem Käse mit der Aufschrift „Gut und billig“ lediglich noch ein Glas Gewürzgurken beherbergt. Benjamin schiebt sich die letzten Exemplare in den Mund und schaltet das RTL-Nachtmagazin ein. Er vermisst Heiner Bremer, der so viele Jahre Nacht für Nacht für ihn da war. Er war eine Konstante in seinem Leben, ein Stück wohlige Gewissheit. Doch jetzt schläfert der neue und vor allem jüngere „Nachrichten Host“ ihn so sehr ein, dass er auf dem Sofa nicht lange durchhält. Sein Pfeifton begleitet ihn in einen diffusen Traum, an den er sich glücklicherweise am nächsten Morgen nicht mehr erinnern kann, er hatte nur irgendwas mit Regen, klingelnden Handys und sehr lauter Musik zu tun.

 

2.

Benjamins Büro in der Plattenfirma Phonostar Records liegt direkt gegenüber dem Hauptbahnhof in einem hohen Gebäude. Früher gehörten alle Geschosse zu Phonostar Records, doch durch das Internet, die illegalen Downloads, die MP3 Player, die Rohlinge, die es inzwischen sogar in Supermärkten gibt und durch all die Jugendlichen und Kids, die gestern noch die umworbene Zielgruppe waren und nun nichts weiter mehr als Kriminelle sind, die sich gegenseitig Musik-CDs brennen, musste die Firma über die Jahre entlassen, auslagern und umorganisieren. Benjamin ist mit umorganisiert worden und sitzt jetzt in einem der letzten beiden verbliebenen Stockwerke seiner Firma. Er kann aus dem Fenster die Züge aus dem Bahnhof fahren sehen und die Menschenmassen, die sich aus der Wandelhalle in die nahe gelegenen Einkaufsstraßen zwängen. Die Fixer und Kiffer sind auf der anderen Seite des Bahnhofs, da wird Phonostar Records bald hinziehen müssen, wenn diese Sache mit der Brennerei noch weiter geht. Doch noch wird bei Phonostar Records wenigstens ein bisschen Geld mit Musik verdient und Benjamin ist ein Teil dieser Maschinerie geworden,. unfreiwillig.

„Reichert hat gerade angerufen, du sollst mal zu ihm kommen.“ Christian, kurz Chris genannt, sitzt Benjamin am Schreibtisch gegenüber. Er sieht selbst wie ein Rockstar aus. Ein Nasenpiercing, silberne Ohrringe und schwarze Haare. Die Hose ist zerrissen und in seinen Schuhen fehlen die Schnürsenkel, das trägt man im Moment so. Die Rapper von Run DMC haben das angeblich mal so erfunden und auch das ist retro und damit wieder in und cool und sexy. In Wahrheit aber, hat man den Knackis in Alcatraz die Schnürsenkel abgenommen, damit sie damit keinen Unsinn anstellen können. Aber wen interessiert das schon, wenn es cool ist?

Benjamin ist dankbar, als Chris die Musik leiser dreht und ihm die Nachricht von Michael Reichert, dem Chef seiner Plattenfirma, überbringt.

„Alles klar, danke. Ich gehe gleich zu ihm.“

„Wie war denn Becksmen gestern?“

„Is nix für uns. Muss ich ihnen aber noch sagen.“ Benjamin versucht ein Grinsen. Chris guckt erstaunt:

„Echt nicht? In der MoPo steht eine Kritik über sie. Die haben vor zwei Tagen im Vorprogramm von „The Darkness“ in der Fabrik gespielt. Soll gut gewesen sein. Soll richtig rocken.“ Benjamins Tinnitus wird sofort eine Spur lauter. Die MoPo hat er noch unter dem Arm und den Kaffeebecher in der anderen Hand. Er stellt den Starbucks-Becher neben die Zeitung auf seinen Schreibtisch und guckt Chris erstaunt an.

„Wieso haben die bei „The Darkness“ im Vorprogramm gespielt? Die standen doch gestern im Proberaum und ich durfte Zeuge dieser einzigartigen Darbietung sein. Das nächste Mal lasse ich mich nicht mehr überreden eine Band so hautnah und live zu erleben. Eine CD tut es ja schließlich auch.“

„Weil das die MoPo ist und da nachts keiner mehr arbeitet und denen sogar die Volontäre zu teuer sind, die noch in der gleichen Nacht die Konzertkritiken schreiben sollen. Deshalb stehen sie erst am nächsten Tag in der Zeitung.“ Eigentlich nichts Neues für Benjamin, doch er hatte es vergessen. „Ach ja, die Morgenpost.“ Die meisten Mitarbeiter von Plattenfirmen lesen ausschließlich die Boulevardzeitung Morgenpost. Sonst nichts.

Das ist bei Michael Reichert anders. Er liest die Frankfurter Allgemeine und ganz besonders gerne den Börsenteil, über den er nun Benjamin ansieht, als er sein Büro betritt.

„Na Ben, how is life?“

„Habe gestern diese Becksmen gesehen....“

„Ja, ja, das weiß ich. Die MoPo hat ja eine begeisterte Kritik geschrieben. Hast Du die Nummer gleich eingetütet? Da sind ja einige dran.“

Reichert sieht ihn über den Rand seiner Zeitung nun genauer an.

„Du siehst beschissen aus. Warst wohl noch mit denen unterwegs.“

Reichert lacht.

„Ja, ja“

Benjamin weiß, wie gerne sein Boss es hatte, wenn man zu seinen Künstlern einen persönlichen Kontakt pflegt.

„Was wollen die denn für einen Vorschuss?“

„Das ist gewissermaßen noch nicht ausdiskutiert.“

Benjamin kratzt sich am Ohr. Das tut er oft, wenn ihm die Situation nicht angenehm ist. Er hofft jetzt auf weniger Fragen, damit er nicht auch noch rot im Gesicht wird. Schon beginnen seine Augen zu flackern.

„Dann gib Gas“, sagt Michael Reichert.

„Wir brauchen mal wieder einen Erfolg.“

Benjamin nickt.

„Du brauchst mal wieder einen Erfolg.“

Michael Reichert guckt ihn diesmal ein bisschen länger an. Gerade will Benjamin aufstehen, als Reicherts Telefon klingelt. Noch während er abnimmt, gibt er ihm ein Zeichen sitzen zu bleiben.

Benjamin weiß, was er an dieser Stelle zu sagen pflegt:

„Ich bin für ein transparentes Unternehmen.“

Dazu kommt er nicht mehr. Stattdessen sagt er „Phonostar Records Reichert“ in den Telefonhörer. Benjamin bleibt sitzen und beobachtet seinen Chef, wie er sich erst in seinem Stuhl gelassen zurücklehnt und plötzlich bei den Worten „Ja, stelle ihn durch“ nach vorne rückt.

Seine Augen sind jetzt hellwach, jede Faser in seinem Körper scheint angespannt. Es sieht aus, als wäre Michael Jackson persönlich am Telefon. Es ist noch schlimmer. Es ist Bruce Butcher, der Boss der Plattenfirma, der aus New York anruft. Ein Ereignis, das nur sehr selten vorkommt. Eigentlich nie, jedenfalls hat Benjamin davon noch nie etwas mitbekommen.

Benjamin wagt sich nicht zu bewegen. Er versucht wegzuhören und starrt aus dem Fenster. Aus einem Fenster, das einen urbanen Blick über die Straßen von Hamburg bietet. Reichert sieht nicht hin, denn er ist in seinem Element. Im großen Musikbusiness. In seinem Geschäft.

Vor ihm die Börsenkurse in der FAZ, kleine Gadgets, wie ein Miniatur – Dirk Nowitzki, der per Knopfdruck einen kleinen Ball in den Korb werfen kann oder ein silberner Golfschläger, mit dem man, wenn es mal langweilig im Büro wird, sein Minihandycap verbessern kann. Reichert gibt liebend gerne Geld für derartigen Kram aus. Es passt zu ihm, denn es verleiht ihm den Schein eines Mannes, der schon alles hat und sein Geld für Spielereien ausgeben kann. Reichert liebt Geld, Macht und das große Business. Der Sinn seines Lebens findet zwischen Blackberrys Laptops und den neuesten Handymodellen statt. Er wirft mit absurden Marketingbegriffen um sich. Ein Telefonat ist ein Call, ein frühes Treffen vor zehn Uhr morgens im Büro ein Early Bird, eine große Plattenfirma ein Majorlabel und ein Künstler ein Act. Er veranstaltet Conference Calls, Kick off Meetings, nutzt Business Tools, betreibt On the Ground Marketing, und ein Hit seiner Plattenfirma ist sofort die Benchmark für den nächsten Hit. Sein Lieblingswort ist „After Work Club“, denn es vereint alles, was Michael Reichert liebt. Freitags um 17 Uhr geht er chillen. Er schaut jungen Mädchen mit kurzen Röcken auf die Beine und hört dazu auch diese Musik ohne Strophe, Refrain und Instrumente. „Chill Out“ heißt das Zauberwort.

Zeit für Privatleben bleibt nicht viel, für Reichert nicht weiter störend, denn er hat eine attraktive Sekretärin, die sich in den Jahren immer weiter verjüngt hat und ihm jedes noch so unbedeutende Telefonat in sein Büro durchstellen muss. In Reicherts Augen gibt es nichts Unbedeutendes, was er tut.

Entspannung findet er im derzeit angesagtesten Fitnesscenter der Stadt. Er ist dort nicht nur Mitglied, er ist der Mann mit der golden Member-Card. Einer von 100! In den letzten 20 Jahren ist Michael Reichert zu einer Art Herrscher seiner Plattenfirma geworden. Details sind nichts für ihn. Er verbringt seine Zeit lieber mit der Pflege zu den Künstlern.

„Artists Relations, Benjamin! Das ist das A&O eines weltweiten Labels wie wir es sind.“

Benjamin hat das alles so oft gehört. Besonders interessant sind für Reichert die Musiker, die ganz oben in den Charts stehen, zumindest so lange wie beide Seiten davon profitieren.

Madonna, Robbie Williams, AC/DC, die Red Hot Chili Peppers, sie alle kennen Michael Reichert und wenn es nur von den Fotos mit den goldenen Schallplatten ist, die regelmäßig für die Musikwoche geschossen werden. Michael Reichert ist dann der grinsende Mann mit den weißen Zähnen und dem Nadelstreifenanzug, der sich von rechts außen auf das Foto drängt.

Fotos, die Benjamin jetzt im Büro von Reichert betrachtet, während er mit dem mächtigsten Mann im Musikgeschäft telefoniert. Michael Reichert ist nur eine Miniaturausgabe seines CEOs Bruce Butcher. Alles, was Michael Reichert für Luxus hält, ist für den Amerikaner Kinderkram. Während Michael Reichert einen Porsche fährt, fliegt Bruce Butcher mit dem Hubschrauber ins Büro, Reicherts Tiefgaragenplatz direkt am Aufzug ist Butchers Landeplatz mit direktem Zugang zu seinem Büro und Reicherts goldene Fitnesscenter-Membercard ist für einen Mann wie Butcher nicht erwähnenswert, denn er hat gerade eine ganze Kette mit Clubs in New York gekauft, damit er und seine Topacts ungestört trainieren können.

Michael Reichert kennt all diese Anekdoten nur aus Erzählungen, denn gesprochen hat er mit Butcher vor heute eigentlich nur ein einziges Mal. Auf einem großen Kongress in Los Angeles streckte er ihm die Hand hin und ließ ein Foto von sich und ihm für die Musikwoche machen. Das einzige, was Butcher zu Reichert sagte war: „You really rock.“

Bis heute weiß Reichert nicht, was er damit gemeint hat, doch er hat es sich in all den Jahren zu einem Kompliment schön geredet. Wenn Butcher anruft, dann ist es etwas Ernstes, etwas Wichtiges, das wusste Benjamin. Reichert sagt wenig, aber alles was er gerne sagen würde, scheint in sein Gesicht geschrieben zu sein. Benjamin meint Schweißtropfen auf Reicherts Stirn zu erkennen, während er eingeschüchtert dem Befehlston des CEOs von Phonostar Records zuhört.

Erst am Schluss schafft Reichert es einige wenige Worte in devotem und ängstlichen Ton von sich zu geben. „Yes sir, no problem, we gonna fix it.“

Reichert spricht diese wenigen Worte in einem eigentümlichen, amerikanischen Akzent aus. So, als wolle er nicht, dass man ihm seine deutschen Wurzeln anhört. Für Benjamin klingt sein Englisch gerade durch das übertrieben gerollte R, das Reichert nicht rollen kann, besonders deutsch.

Eine kurze Stille liegt in dem schicken Eckbüro, bevor Reichert schließlich das Wort an Benjamin richtet:

„Das war Butcher.“

„Ach so“, sagt Benjamin vorsichtig.

„Komische Geschichte“, sagt Reichert kopfschüttelnd.

„Lass uns heute Mittag lunchen.“

Benjamin kann sich nichts anstrengenderes vorstellen. Ein Lunch mit seinem Boss war schon immer ein Schaulaufen bei seinem Lieblingsitaliener. Detailliert lässt er sich von seinem Lieblingskoch Adriano alle Gerichte erklären. Wo das Olivenöl herkommt, ob es Trüffel gibt und von woher genau der Seeteufel stammt. Mit wichtiger Miene liest er dann all die italienischen Worte auf der Tafel und versteht natürlich auch noch jedes einzelne. Benjamin muss jedes Mal wieder nachfragen was noch einmal Funghi bedeutet, oder was an diesem Parmaschinken anders sein soll, als an dem aus der Fleischtheke im Supermarkt. Deshalb bestellt er im Restaurant am liebsten Pizza Hawaii.

Benjamin interessiert sich einfach nicht fürs Essen. Er isst um satt zu werden und je länger das komplizierte Auswahlverfahren dauert, desto unruhiger wird Benjamin. Unweigerlich führt die Bestellung dann zum Small Talk, den Benjamin auch nicht besonders beherrscht. Er kann sich dabei einfach nicht entspannen, denn er weiß nie worüber er sprechen soll und je kürzer dieser Small-Talk-Teil andauert, desto früher wird das Gespräch mit Reichert zu einer Art Managertest. Dabei ist es für Benjamin noch komplizierter die richtigen Worte zu finden. Er fühlt sich dann immer wie ein Versuchskaninchen. Ein Problem ist plötzlich eine Herausforderung und Zeiteinteilung ist Timemanagement. Benjamin ist jedes Mal froh, wenn es vorbei ist und niemand gemerkt hat, dass er irgendwie nicht dazugehört. Jetzt geht er zurück in sein Büro, er hat noch zwei Stunden Zeit und die will er damit verbringen, sich die eingesandten neuen CDs anzuhören, die sich auf seinem Schreibtisch stapeln. Auch eine Aufgabe, die ihm bevorsteht. Chris sitzt mit seinen Füßen auf dem Schreibtisch ihm gegenüber und spricht mit ebenfalls breitem Amerikanischen Akzent mit irgendeinem Manager in England.

„Doppelt schlimm“, denkt Benjamin sich, „wenn man mit Engländern auch noch mit amerikanischem Akzent spricht“. Chris hebt müde die Hand, als Benjamin zurück an seinen Platz kommt. Ein gelber Zettel klebt auf seinem Telefon: „Du sollst mal bei Becksmen anrufen“, steht da und dann „CHR2rock“. Das steht für Chris to rock. Damit macht er seine Lebenseinstellung schon im Kürzel klar. Benjamin brauchte lange, um sich daran zu gewöhnen.

 

Benjamin nimmt den Hörer ab und lässt es klingeln. „Hey, hier ist Benjamin.“

„Mmmhhh“, tönt es aus dem Hörer, aus dem er den Sänger von Becksmen vermutet.

„Phonostar Records“, fügt Benjamin unsicher hinzu. Nochmals ein langes „mmmhhh“ ist aus dem Hörer zu vernehmen.

„Du, ich habe mir gestern Nacht noch mal eure CD angehört und ich finde sie richtig gut. Ich meine, die Stücke sind richtig toll und man konnte sich da gestern ja mal ein Bild von euren Livetalenten machen, aber diese CD, richtig gut ist die, vor allem die Gitarre, immer so schön lang und schnell und laut“.

Pause - und dann die Stimme des Becksmen Sängers: „Ich hatte heute Morgen schon bei dir angerufen, um dir zu sagen, dass du die CD bei uns liegen gelassen hast“.

Jetzt gibt es eine Pause auf der anderen Seite des Telefons. Benjamin hört nur einen Tinnitus und den so laut, wie bisher noch nie in seinem Leben. Interessant, wie er sich so ganz ohne Nebengeräusche im Kopf ausbreitet.

„Ich...äh, also das ist natürlich...“

„Du bist wirklich ein Arschloch.“

Es klickt in der Leitung. Chris hat inzwischen aufgelegt und er guckt ihn über die CD Stapel, die sich auf beiden Schreibtischen befinden, fast ein bisschen besorgt an. Benjamin ist die Situation plötzlich doppelt peinlich und ihm fehlt die Kraft Chris die ganze Geschichte zu erzählen und so sagt er in den Telefonhörer nur: „Ja, das war echt witzig gestern Abend“

Jetzt versucht er ein Lachen, doch plötzlich hat er das Gefühl, Chris würde hören, dass es in Benjamins Leitung nur noch tutet.

Er beschließt der armseligen Vorstellung ein Ende zu bereiten, sagt „tschüss“ und legt auf.

Chris hat eine neue CD eingelegt und aus den Boxen ist ein lang anhaltender Dauerton zu hören, der sich auch nach einer Minute nur geringfügig verändert. „Heiße Scheiße, Alter“, sagt Chris.

Benjamin ist zu sehr mit sich und Becksmen und seinem Tinnitus und dem bevorstehenden Essen mit Michael Reichert beschäftigt, als dass er die Lust hätte, jetzt noch die „Heiße Scheiße“ zu kommentieren.

Stattdessen beschließt er sich abzulenken. Er nimmt eine CD von dem Stapel, liest sich die Informationen auf dem mitgeschickten Zettel durch, nimmt zur Kenntnis, dass es auch schon 150 Likes bei Facebook gibt, steckt sein Kopfhörerkabel in die Anlage und lehnt sich zurück.

Ein Klavier spielt Jazzstandards, ein Kontrabass begleitet es und eine Frauenstimme singt ein französisches Jazzstück, bei dem er kein Wort versteht. Es klingt aber großartig, die Stimme scheint ganz nah an Benjamins Ohr und als er im Hintergrund eine Gitarre hört, die virtuose und leise Jazzpickings spielt, fühlt er sich an diesem Tag das erste Mal wohl. Benjamin muss plötzlich an seine Gitarre denken, die er seit Monaten nicht mehr in die Hand genommen hat. Einfach keine Zeit. Gerne würde er sie wieder häufiger spielen. Seine Lieblingsstücke nachsingen, die paar eigenen Stücke, die er meistens nach dem Ende einer Liebesbeziehung geschrieben hatte und die ihn wehmütig an all seine vertanenen Chancen im Leben erinnern. Schon als kleiner Junge hat er begeistert Musik gehört. Er lag dann bei seinen Eltern auf dem Ledersofa, auf dem Kopf die schweren, viel zu großen Kopfhörer, die ihn vor der Außenwelt abschirmten und nur noch die Musik zählen ließen. Und was gab es für Schätze in dem Plattenschrank zu entdecken... Bis heute überläuft Benjamin ein angenehmer Schauer, wenn er das Elvis Album „Seine 40 grössten Hits“ irgendwo entdeckt. „Aus der Rundfunk und Fernsehwerbung”, stand da noch als besonderer Hinweis auf der Platte. „It’s now or never“ und „Suspicious Minds“ waren immer seine beiden Lieblingslieder. Er legte die Nadel so oft wieder auf den Anfang des Stückes, dass irgendwann ein Fehler an der Stelle auf der Platte war und wenn er dann nicht aufpasste, begann das Stück nie und Benjamin saß da mit geschlossenen Augen und wartete umsonst auf den ersten Ton. Damals wusste er noch nicht, dass „My Baby left me“ und wenn er sich besonders im Selbstmitleid suhlte „Are you lonesome tonight“ für ihn geschrieben zu sein schienen. Stundenlang hörte er diese Platte wieder und wieder, bis seine Mutter ihn anstieß und ihm sagte, dass das Wasser in der Badewanne kalt werden würde, wenn er jetzt nicht hineingehen würde. Im warmen Wasser, mit all dem Schaum um ihn herum und dem Geruch von Lavendel im Bad freute er sich auf das gemeinsame Abendbrot und wenn sie rechtzeitig fertig werden würden, würde man noch gemeinsam „Wetten dass..?”, sehen. So sah der perfekte Samstag für Benjamin aus. Später, als seine Eltern ihm eine Gitarre zu Weihnachten schenkte, spielte er all die Stücke aus seiner Kindheit nach. Erst natürlich Elvis, dann die Beatles, ein paar Stones Stücke und später dann, kamen die Jazzstücke. Jazz liebte sein Vater besonders. Billie Holiday, Ella Fitzgerald oder Lena Horne, Musik die damals schon uralt, dafür aber zeitlos war. Oft träumte er davon Gitarrist in einer Band zu sein. Vor ihm eine elegante Sängerin in einem schwarzen Kleid, das Publikum in Anzügen und auf der Bühne nichts als Virtuosität. Am Ende dann würde er sich verbeugen und unter tosendem Applaus die Bühne verlassen.

Mit welchen Hoffnungen schicken Jazzbands ihre CDs wohl heute an die Plattenfirmen? Vielleicht wollten sie Popstars werden, doch warum dann diese Musik? Vielleicht wollen sie einfach die Welt wissen lassen, dass es sie gibt. So jedenfalls war es damals bei ihm selbst, denn aus der Jazzband wurde nichts, stattdessen spielte er allein.

Benjamin muss plötzlich an den Tag denken, an dem er in seiner Lieblingsbar spielte. Vor ihm am Tisch saß seine Freundin. Marlena hieß sie, so wie die Frau in dem Suzanne Vega Stück „Marlena on the wall“. Sie trank Rotwein und prostete ihm zu, als er „Just like a woman“ von Bob Dylan spielte. Der Besitzer der Bar hieß Robert und er mochte den schlaksigen großen Jungen mit dem lockigen Haar, den ausgewaschenen Pullovern und der Brille. Er sah damals schon nicht gerade wie der nächste Jon Bon Jovi aus. Robert war es egal. Niemand störte sich an Benjamins Gesang, einige hörten sogar zu, applaudierten hin und wieder und es kam manchmal sogar vor, dass Gäste sich ein paar Stücke von ihm wünschten. Als sich herausstellte, dass Westernhagen und sein „Sexy- was hast du bloß aus diesem Mann gemacht“, nicht zu seinem Repertoire gehörte, obwohl es schon fast ein Oldie war, forderte man ihn auf, dann doch lieber gleich ein paar Beatles-Stücke zu spielen. Mit Freude kam er ihnen nach, denn mit Lennon/McCartney kannte er sich wirklich aus. Noch immer hat Benjamin Respekt vor Menschen, die ihre eigenen Stücke schreiben.

Benjamin versuchte das auch, daher wusste er wie schwierig es war ein wirklich gutes Stück zu schreiben. Marlena saß viele Abende an dem Tisch in der ersten Reihe. Am Wochenende brachte sie Freundinnen mit und eines Tages auch einen Jungen, der auch noch ziemlich gut aussah. Benjamin konnte sie von der Bühne aus beobachten, wie sie flirteten und keiner an dem Tisch mehr auf die Musik hörte. Jeder Song war dann noch eine Spur trauriger, und da es Samstagabend war, verließen die Gäste das Lokal, als er „Suzanne“ von Leonard Cohen anstimmte. Marlena winkte ihm zum Abschluss noch einmal zu. Danach hat Benjamin sie nie wieder gesehen. Andere Mädchen kamen, saßen an dem Tisch und er spielte ein paar Wochen nur für sie, doch irgendwann saß da niemand mehr und Benjamin spielte nur noch für sich. Eines Tages nahm Robert ihn beiseite: