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© 2021 – e-book-Ausgabe

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Zell/Mosel

Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel

Tel 06542/5151 Fax 06542/61158

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89801-912-5

Herausgeberin der Reihe »Brücken bauen«:

Marion Bischoff

Lektorat: Sandra Jungen

Ausstattung: Stefanie Thur

Titelfoto: Andrea Volkelt

Autorinnenfoto: Petra Knickenberg

Andrea Volkelt

Da ist mehr, noch so viel mehr …

Ich werde immer Maxis Mama bleiben

Autobiografie

Rhein-Mosel-Verlag

»Diese sehr persönlichen, schmerzhaften Erfahrungen mit fremden Menschen zu teilen, die dieses Buch lesen, in der Hoffnung, dass es sie trösten und ermutigen wird, ist ein Akt von wahrem Mut und Courage.«

Gerrie March, London 2021

Vorwort

Was hinterlassen wir und was nehmen wir mit?

Das Lebenskonto.

Maxi hat in seinem kurzen Leben so reichlich und intensiv gelebt und so vieles hinterlassen, das in den Herzen der Menschen, die ihn lieben und kannten, weiterlebt. Und er nimmt so Wertvolles mit auf seinem weiteren Seelenweg. Möge all das im Diesseits und im Jenseits weiterreifen, erblühen, wachsen und dazu beitragen, dass das große Ganze Früchte trägt, zum Wohle aller.

Wir alle sind nur zu Gast auf dieser Welt. Für eine bestimmte Zeit sind wir hier auf Erden unterwegs.

Auch ich selbst habe mich als junges Mädchen auf den Weg gemacht, weil ich wusste, da muss es noch mehr geben. Aber ich hatte keine Ahnung, was dieses »Mehr« sein könnte. Aus heutiger Sicht betrachtet, ist es ganz klar. Auf dem Weg zu mir selbst begegnete ich wunderbaren Menschen. Viel habe ich gelernt über die Metaphysik, die geistige Welt, die Seele, die Zusammenhänge und Hintergründe des Lebens. Bei wunderbaren internationalen Lehrern und in unterschiedlichsten Schulen wurde ich ausgebildet. Heute kann ich dieses Wissen nutzen, um es für die Menschen einzusetzen, die sich auf den Weg machen wollen.

Zu allen Zeiten in allen Kulturen haben sich Menschen gefragt: Woher kommen wir? Warum sind wir hier und was ist der Sinn? Wo geht es nach diesem Leben hin? Diese metaphysischen Fragen stellen sich manche früher, manche später, manche gar nicht. All das hat mit Bewusstsein und Seelenreife zu tun. Nicht mit Intelligenz oder Wissen. Denn wir haben so viele Kenntnisse, doch wie schaut‘s aus in uns und in unserer Welt, im Großen und im Kleinen?

Oft landen Menschen in meinem Heilerkammerl, weil Lebenswege sich verändern oder sie mit einer bestimmten Situation überfordert sind. Bei Andrea war das anders. Ihre Seele hat sie früh zu mir geführt, weil ihr klar war, da ist noch so viel mehr. Natürlich war ihr damals nicht bewusst, was alles auf sie zukommen würde, doch das Unterbewusstsein bereitete sich schon vor, denn die Seele kennt ihren Plan.

In meiner Arbeit bin ich immer ganz dicht dran an den Menschen und ihren Geschichten, mit allen Höhen und Tiefen. Leben und Tod liegen nah beieinander. Viele Menschen vergessen oder verdrängen das und sind oft ein Leben lang mit dem Unwesentlichen beschäftigt und leben knapp am Sinn vorbei. Manche werden erst in extremen, außergewöhnlichen Situationen wach. Egal wann dieses Aufwachen beginnt, ist es mein großes Ziel, den Menschen den Zugang zu all den Quellen, die bereits in ihnen schlummern, aufzuzeigen. Es geht darum, jeden Tag aufs Neue ein gesundes Gleichgewicht zu schaffen zwischen unserer Seele, die wir nicht sehen können, und unserem irdischen Leben als Mensch. Dabei dürfen und können wir die ganze Bandbreite erleben und erfahren, Spaß und Freude haben, Fehler machen, hinfallen, wieder aufstehen. Weitermachen.

Andrea und Sigi haben sich interessiert für den Blick weit über den normalen irdischen Tellerrand. Die geistige Welt war Andrea bald noch klarer vertraut. All das hat ihr geholfen und sie vorbereitet für die große irdische Herausforderung ihres Lebens.

Für mich gibt es keinen Zufall. Es ist ein Zusammenspiel aus Ursache und Wirkung. Wenn die Zeit gekommen ist, müssen oder dürfen wir wieder gehen. Keiner weiß, wann das ist. Und das ist auch gut so. Die wesentliche Frage ist: Wie haben wir gelebt? Haben wir erkannt, dass jeder Tag ein Geschenk ist? Geben wir den Jahren mehr Leben? Maxi hat das getan.

Es gibt immer Gründe, warum wir aufgeben könnten. Und es gibt stets Gründe, weiterzumachen.

Andrea und Sigi, ich bin stolz auf euch. Danke Andrea, dass du dieses Buch geschrieben hast. Danke für euren Mut, eure Freundschaft und einfach für euer Sein.

Andrea und Sigi habe ich unterstützen und begleiten können. Gleichzeitig haben sie sich auf den Weg gemacht. Sie haben erkannt, dass sie selbst etwas tun müssen, nicht allzu lang stehen zu bleiben. Mit dieser Kraft, angeschubst woher auch immer, gehen sie heute noch jeden Tag. Dabei mit angestoßen zu haben, erfüllt mich mit Dankbarkeit. Wirken beWIRKT …

Es ist mir eine Freude, Ehre und Herzensangelegenheit, diesen Weg mit euch zu gehen.

Bauen wir Brücken zwischen dieser Welt und der nächsten. Maxis Leben ist ein Beweis für uns alle. Lernen wir. Leben wir. Lachen wir. Lieben wir. Und hinterlassen wir Spuren ohne Schnickschnack, dafür mit Herz und mit Sinn, genauso wie Maxi es getan hat.

Mögen viele Menschen durch eure Geschichte mehr Verständnis, Zuversicht und Hoffnung finden und dem größeren Sinn des Lebens ein bisschen näherkommen. Denn da gibt es noch so viel mehr …

Petra Maria Knickenberg, Aschau, 2021

Wie es zu diesem Buch kam

Immer wieder erfasste mich der innerliche Impuls, ein Buch zu schreiben. Doch ich war keine Autorin und hatte keine Ahnung, ob ich das kann. Aber es war einen Versuch wert.

Ich möchte Sie, liebe Leserinnen und Leser in dem Vertrauen bestärken, dass wir unsere Lieben niemals verlieren.

Mein Mann Sigi und ich haben niemanden verloren. Wir mussten unseren geliebten Sohn weiterziehen lassen. Aber: Wir haben ihn nicht verloren. Von Verlust kann Gott sei Dank keine Rede sein. Die Trauer ist groß und sehr schmerzhaft. Das darf sie auch sein. Wichtig und im Sinne unseres Sohnes Maxi ist, dass wir weitergehen. Jeden Tag, jeden Moment.

Unsere Aufgabe besteht unter anderem darin, zu zeigen, dass wir nach wie vor in Verbindung sind. Der Glaube daran wurde durch die Zeichen und Botschaften, die wir bekamen, zu einem Wissen, das ich nun an Sie weitergeben möchte.

Ich ließ fließen, was raus wollte. So ist nun ein sehr persönliches Buch entstanden mit vielen besonderen Botschaften. Alles, was ich hier geschrieben habe, ist eine Essenz aus unzähligen Erlebnissen. Es handelt sich um eine, ich hoffe, für Sie bereichernde Auswahl. Wir alle bekommen diese Zeichen. Wir sollten nur bereit sein, sie zu erkennen. Und das geht nur mit einer großen Portion Vertrauen, Glauben, Hoffnung und Zuversicht.

Über alldem steht die Liebe. Letztendlich geht es nur um die Liebe.

Trotz dieser schmerzhaften und wunderbaren Erlebnisse haben wir unser Leben zu leben. Ganz irdisch. Mit all den Emotionen und immer neuen Herausforderungen. Mein Mann und ich arbeiten jeden Tag daran, es wieder mehr und mehr zu genießen und mit größerer Freude zu erLEBEN.

Das Allerwichtigste ist für mich, wenn dieses Buch anderen Menschen hilft, darauf zu vertrauen, dass da mehr ist, noch so viel mehr.

Der Glaube daran stärkt,

die Liebe (be)wirkt

und Vertrauen lässt uns weitermachen.

Machen und gehen Sie weiter. Bewegen Sie sich vorwärts. Und dabei bitte ich für Sie, seien Sie gut beschützt und gut geführt. Und für unsere Lieben: Gesegnet sei euer Weg.

Alles Liebe

Andrea Volkelt

Maxi würde sagen: »Wenn’s läuft, läuft’s.«


Die schrecklichste Nachricht

Irgendwie parke ich das Auto. Im selben Moment stürmt Sigi von der Haustür zur Straße. In meinem Magen krampft sich alles zusammen. Ich starre auf Sigi. Unfähig zu denken, steige ich aus. Sofort schließt er seine Arme um mich, legt seinen Kopf an meinen. Unterdrücktes Schluchzen. Ich spüre seine Tränen an meiner Wange. Dann flüstert er: »Maxi ist gestorben.«

»Neeeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiiiiiinnnnnnnnnnnnnnnnnn! Bitte, bitte nicht! Lass das nicht wahr sein! Bitte, bitte nicht!«, höre ich mich schreien.

Sigi hält mich. Trotzdem sacke ich in mir zusammen wie ein nasser Sack. Mein Mann geht mit mir in die Knie. Er lässt mich nicht los.

Aus meinem Schrei wird ein Wimmern: »Bitte, bitte nicht!« Ich schließe meine Augen, zittere am ganzen Körper.

Jemand fragt: »Wollen Sie ihre Frau nicht in die Wohnung bringen? Wir begleiten Sie.«

Kraftlos hänge ich in Sigis Armen und lasse mich hochheben und die Stufen hinauf in die Wohnung tragen.

Ich sitze im Wohnzimmer auf dem Boden. Jetzt sehe ich, dass viele fremde Menschen bei uns sind.

Ein Sanitäter fragt mich: »Wollen Sie etwas zur Beruhigung? Ich kann Ihnen aber sagen, dass das die Wirklichkeit nicht ändert. Sie werden es akzeptieren müssen. Die Tablette macht Ihnen nur vorübergehend einen Nebel, aber in die Realität müssen Sie trotzdem zurück.«

Ich schüttle den Kopf, mehr ungläubig, als dass ich »nein« sagen wollte. Der Sanitäter erkennt dies als eine Ablehnung und verabschiedet sich mit seinem Team. Keine Ahnung, was hier läuft. Ein fremder Mann gibt sich als Seelsorger aus und erklärt mir, dass Maxi aufgrund eines Verkehrsunfalls verstorben sei, gar nicht weit von hier. Hinter Sachrang, schon auf der österreichischen Seite des Berges. Er redet weiter und ich kann nur spärlich folgen. Wortfetzen bekomme ich mit. »Konnte leider nicht eher kommen, das ist jetzt vier Stunden her.« Es ist halb sieben.

 

»Kann ich Sie alleine lassen?«, fragt er und ich nicke schwach. Es sind noch zwei Polizisten da. Ein Mann und eine Frau.

»Können wir eine Kerze anzünden?«, frage ich leise.

Die Polizistin findet eine Kerze bei uns im Flur, holt sie ins Wohnzimmer und zündet sie an. Sie fragt: »Soll ich jemanden für Sie anrufen?«

Ich habe keine Ahnung. Sigi erklärt, er hätte gerade meinen Bruder angerufen. Die Schwägerin war am Apparat. Sie kommt. Jetzt steht die Hausärztin da. Sie setzt sich neben mich und sieht mich an. »Ich gebe Ihnen jetzt eine Tablette. Die sollte Sie erst mal etwas beruhigen. Machen Sie bitte den Mund auf.« Ich öffne mechanisch den Mund und schlucke die Tablette. Langsam fühle ich den Nebel um mich herum und gelange in einen seltsamen Zustand. Als würde ich ein Stückchen vom Boden abheben. Jedenfalls fühlt es sich etwas besser an als das, was ich zuvor gefühlt habe.

Noch mehr Leute treffen ein. Meine Schwägerin ist da, meine Schwiegermutter. Dafür verlassen die Polizisten nach dreimaligem Nachfragen, ob wir sie wirklich nicht mehr bräuchten, die Wohnung. Jetzt lege ich mich auf die Couch.

Die Ärztin erklärt: »Es wird sich jetzt etwas leichter anfühlen, aber sobald Sie das Gefühl haben, es geht Ihnen nicht gut, oder das furchtbar schwere Gefühl übermannt Sie wieder, rufen Sie mich an. Hier ist meine Handynummer. Sie können mich anrufen, jederzeit, vierundzwanzig Stunden. Melden Sie sich. Ich gehe jetzt. Bis später.«

Ich weiß nicht, wie ich ins Bett gekommen bin und was genau alles passiert ist oder wer wann unsere Wohnung verlassen hat. Ich liege nur im Bett und weiß, dass der nächste Morgen angebrochen ist. Ich will nicht aufstehen. Ich will nicht. Sigi setzt sich auf meine Bettkante. Er sieht aus wie ein Häufchen Elend – fassungslos, wie gelähmt, unendlich traurig.

Seine Augen sind feucht. Er sagt: »Komm, steh auf.«

Nichts

geht

verloren …

Ein Anfang

Nach meiner Schulzeit im Jahre 1982 trat ich eine Lehrstelle als Bürokauffrau in einem kleinen Familienbetrieb in Rosenheim an. Meine Ausbilderin formte mich nicht nur beruflich. Sie war ein spiritueller Mensch. Das bemerkte ich erst im Laufe der Zeit. Ihre ruhige Art mit Menschen und Situationen umzugehen, faszinierte mich. Neben den Anweisungen fand sie immer wieder Zeit für intensive Gespräche über meine inneren Ziele. Dabei tastete sie sich behutsam vor. Vertrauensvoll sprachen wir über Religionen, Glauben und die Möglichkeit, dass da mehr sein könnte als das, was wir sehen. Bald empfahl sie mir erste Bücher. Neugierig geworden, besorgte ich mir den Lesestoff und nach jeder Lektüre tauschten wir uns aus. Einmal waren es die Nahtoderfahrungsberichte, ein anderes Mal ging es um den Buddhismus und die traditionellen Entwicklungsstufen eines Mönchs. Mit Disziplin, Geduld und innerer Stärke lernte hier mein Protagonist seinen bewussten Zugang zur Seele. Das war für mich eine spannende und bemerkenswerte Lehrzeit.

Nach zwei Jahren Ausbildung wechselte ich unmittelbar in einen holzverarbeitenden Betrieb. Auch dort fühlte ich mich wohl – egal wie hektisch es wurde – im Team blieb immer Zeit für Spaß und Witze. Und den Duft von frisch verarbeitetem Holz liebe ich heute noch genauso wie damals.

Im Juli fuhr ich mit meiner Freundin Evi zum Zelten auf die Insel Elba. Mit unserem Camping-Reiseführer in der Hand steuerten wir einen Platz nach dem anderen an. Der Dritte gefiel uns. Die Campingparzellen waren großzügig angelegt und die Waschhäuser modern und sauber. Während wir das Zelt aufstellten, lugten unsere Nachbarn mit zweifelnden Blicken zu uns herüber.

»Die sind wohl gespannt, ob wir das ohne Hilfe hinbekommen«, flüsterte ich Evi ins Ohr, die neben mir kniete und die Heringe in den Boden drückte. »Aber warte nur, wie sie schauen werden, wenn ich jetzt meinen Gummihammer aus dem Auto hole und die Heringe in den Boden klopfe.«

Sie grinste.

Mit einem »Traraaa und fertig« war unsere Baumaßnahme beendet. Vor dem Zelt stellten wir ein Tischchen und die Stühle auf. Mittlerweile war es schon dämmrig. Schnell deckten wir den Tisch und sahen während des Abendessens der rotgefärbten Sonne zu, wie sie im Meer untertauchte. Wir beschlossen unseren ersten Urlaubstag mit einem Gläschen Wein. Für mich fühlte es sich an wie »angekommen sein« und ich war sehr zufrieden. In dieser Nacht schlief ich tief und fest und von Evi hörte ich keinen Laut. Irgendwann riss uns ein Trommeln aus dem Schlaf, vermischt mit einem Heulen und Pfeifen. Es war bereits hell, die Zeltwände über uns flatterten wild. Erschrocken blickten Evi und ich uns um, bis wir endlich verstanden, was draußen vor sich ging: Rhythmisch prasselte ein Platzregen auf die Zeltsegel, als spiele jemand mit einem Schlaginstrument. Zum Glück war unser Zelt dicht und hielt dem heftigen Sturm stand. An Schlaf war trotzdem nicht mehr zu denken. Wir lagen nebeneinander und ließen diese besondere Stimmung auf uns wirken. Mit der Zeit wurde die Musik leiser und der Regen ließ nach.

Evi krabbelte zum Zelteingang und öffnete den Reißverschluss. Sie lugte hinaus und sagte: »Alles in Ordnung bei uns, aber bei den Nachbarn …«

Schnell befreite ich mich aus dem Schlafsack und spähte ebenfalls hinaus. Tatsächlich lagen einige Zelte zusammengesunken am Boden, Stangen von Vorzelten waren umgefallen und Planen davongeweht. Langsam krochen die umliegenden Leute aus ihren Quartieren und begutachteten die Schäden.

Wir saßen schon beim Frühstück, als uns einer der Nachbarn ansprach, ob wir ihm nicht den Gummihammer für die Heringe leihen könnten.

»Selbstverständlich«, sagte ich, sprang von meinem Stuhl auf und ging zum Auto.

»Habt ihr vielleicht auch noch ein paar Erdnägel, die ihr uns borgen könnt?«, rief er mir hinterher.

Ich kramte eine kleine Sammlung aus meinem Kofferraum und überließ ihm das Werkzeug. Man soll doch niemanden unterschätzen, nur weil man jung, blond und ein Mädchen ist, dachte ich und fühlte mich großartig. Mein Vater hatte immer gesagt: »Es kommt nicht immer auf das WAS, sondern auf das WIE an.«

Am Vormittag spazierten wir bepackt mit Badesachen und Büchern zum Strand. Zwischen dem Schwimmen, Sonnenbaden und Quatschen fanden wir endlich Zeit zum Lesen. Sofort vertiefte ich mich in eine Autobiografie. Sie spielte sich in Indien ab und handelte von der Entwicklung eines kleinen Jungen zum erwachsenen Yogi. Die Ausbildung war streng. Er hatte einen interessanten Lebensweg und schwierige Aufgaben zu bewältigen. In meinem Kopf entstanden bunte Bilder, wie ein Film. In dem Kapitel, das ich gerade las, sammelten sich viele Menschen am Meer. Bewegend wurde beschrieben, wie aus dem Nichts eine riesige Welle aus dem Indischen Ozean rollte und dort den gesamten Strandabschnitt überschwemmte. Die Vorstellung dieses Erlebnisses wühlte mich auf. Und im selben Moment bäumte sich vor uns das Meer auf und eine Welle platschte über mich. Instinktiv riss ich beide Arme hoch und rettete so mein Buch. Tropfnass sprang ich auf. Um uns herum das Geschrei der Menschen, das bei den meisten unmittelbar in Gelächter überging. Niemand hatte mit diesem wilden Gruß des Meeres gerechnet. Evi robbte ihrem Buch hinterher. Die Welle trug es von ihr fort. Endlich fasste sie es. Ein Bild für die Götter, dachte ich und lachte laut. Den Menschen um uns herum ging es ähnlich. Viele sammelten irgendwelche Gegenstände, Bücher, Hefte oder Sonnencremetuben ein.

Langsam beruhigte sich das Ganze. Evi und ich wrangen unsere Badetücher aus und setzten uns in den Sand. Ich wollte unbedingt weiterlesen und fand auch schnell wieder in die Geschichte. Ein paar Kapitel später las ich von Menschen, die Drachen mit vielen bunten Flatterbändern in den Himmel schickten. Sie hielten sie an Schnüren fest und ließen sie vom Wind tragen. Frische, grelle Farben schmückten den Horizont. Überwältigt von den Bildern in meiner Vorstellung, nahm ich kurz Abstand von dem Text und schaute in den Himmel. Hätte ich nicht schon auf dem Boden gesessen, wäre ich aus allen Wolken gefallen. Hier im seichten Wasser an unserem Strand standen junge Leute und Kinder und ließen Drachen steigen. An keinem der Tage zuvor hatte hier jemand derartiges aufgezogen. Für heute ist Schluss mit Lesen, dachte ich. Diese Parallelen sind mir nicht mehr geheuer.

»Evi, schau mal da drüben!« Ich deutete zu den jungen Leuten. Eine Weile betrachteten wir das Schauspiel und ich fragte sie, was sie davon hielt, dass Handlungen, die ich eben gelesen hatte, hier in der realen Welt zeitgleich passierten. »Du kannst mir doch bestätigen, dass vorher weder eine Welle so weit herausgetreten ist, noch dass wir jemals vorher an diesem Strand Menschen mit Drachen gesehen haben, oder?«

Evi schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir auch nicht erklären.«

Zurück aus dem Urlaub, überfielen mich meine Kolleginnen mit einer interessanten Neuigkeit: Ein junger Mann war zwischenzeitlich eingestellt worden. Er gehörte zu einer anderen Abteilung, aber er musste schon einen gewissen Eindruck hinterlassen haben, wenn die Damen aus dem Team eine so große Sache daraus machten.

Ich dachte nur: Meine Güte, was die Mädels schon wieder haben …

Wenige Tage später kam besagter Mann in unsere Abteilung und traf auf mich. Oder ich auf ihn. Auf jeden Fall traf es mich wie ein Blitz und zauberte mir schlagartig eine ganze Schmetterlingsmannschaft in den Bauch. Auweia, was war das denn?

Er fragte nach einem Auftrag.

Ich nickte. »Ja, ähm, klar. Moment bitte.« Meine Wangen wurden heiß und ich konnte regelrecht spüren, wie rot sie sein mussten. Das war mir so peinlich. Als ich ihm den gewünschten Auftrag an den Counter brachte, konnte ich ihm kaum in die Augen sehen. Er war mehr als einen Kopf größer als ich. Unsicher linste ich nach oben und blickte in ein schmunzelndes Gesicht. Breit grinsend lächelte ich zurück. Er nahm mir wortlos die Belege aus den Händen, drehte sich um und verließ unser Büro.

Halleluja, ich bin doch kein Teenager mehr, der sich wegen so eines Lächelns so ungeschickt benimmt. Wie kindisch, dachte ich und ging wieder zum Schreibtisch.

Meine beiden Kolleginnen schauten mich bedeutungsvoll an.

»Was?«, fragte ich vermutlich etwas zu laut.

Sie feixten und antworteten fast aus einem Mund: »Nichts. Alles in Ordnung.«

Nun war es etwas schwierig, meine Konzentration wieder auf meine nächsten Aufgaben zu richten. Also ging ich kurz entschlossen für kleine Mädchen. Irgendwie musste ich mich beruhigen. Wie soll denn das bei einem nächsten Zusammentreffen werden?, ging es mir durch den Kopf. Da sollte ich dann doch etwas normaler wirken. Aber was bitteschön ist schon normal, wenn so ein fescher Mann vor mir steht und mein Herz sich fast überschlägt?

Die nächsten Tage wartete ich ständig darauf, dass der neue Kollege wieder unser Büro betrat. Der Tag kam – und er direkt auf mich zu.

»Übrigens, ich bin Sigi, da haben wir es das letzte Mal tatsächlich versäumt, uns vorzustellen.« Er streckte mir die Hand entgegen und sah mich erwartungsvoll an.

»Ähm, ja, das stimmt, ich bin Andrea, freut mich sehr«, antwortete ich und fasste seine Hand. Und in dem Moment, in dem meine kleine Hand mit seiner regelrecht verschmolz, durchflutete mich eine Wärme. Sie breitete sich in meinem ganzen Körper aus und erfüllte mein Herz. Eine wunderbare Geborgenheit durchströmte mich. Für ein paar Sekunden dachte ich, würde die Zeit anhalten. Nichts um mich herum nahm ich wahr, nur das laute Pochen meines Herzens klopfte bis in beide Ohren und ein wildes Flattern machte sich breit in meinem Bauch. Nach einer gefühlten Ewigkeit lösten wir unsere Berührung und schüchtern ließ ich mich auf den Bürostuhl nieder.

Ein paar Tage später und einige kurze Begegnungen mehr trafen wir uns zufällig nach Feierabend auf dem Parkplatz. Aufgeregt und unsicher, wie ich mich verhalten sollte, wollte ich in mein Auto steigen. Ich war nicht mutig genug, ihn anzusprechen. Sigi sah mich, lächelte und sprach mich an. Ich merkte wohl, dass es auch für ihn eine Freude war, mir unentdeckt von weiteren Kollegen zu begegnen. Zuerst plauderten wir noch über Belanglosigkeiten, bis er mich endlich fragte, ob wir uns nicht auf einen Kaffee treffen wollen.

So verabredeten wir uns für das Wochenende.

Voller Aufregung und überpünktlich erschien ich am vereinbarten Treffpunkt. Als Sigi endlich vor mir stand, sahen wir uns lange in die Augen. Da war so ein anziehendes Strahlen in seinem Blick, warm und schützend. Schelmisch und klug und mit einer Tiefe, wie ich sie noch in keinen anderen Augen gesehen hatte. Davon wollte ich mehr.

 

Der Nachmittag verlief traumhaft. Wir hatten so viel Gesprächsstoff, die Zeit verging wie im Flug. Längst war es Abend geworden und das Café wollte schließen. Vor den Autos quatschten wir weiter, bis uns kalt wurde.

Den Hinweis von Sigi, dass er kommenden Freitag mit seinen Freunden auf einem Faschingsball sei, verstand ich als verborgene Einladung, ebenfalls dort hinzukommen.

Wir waren zwar nicht fest verabredet, suchten uns aber geradezu. Nachdem wir uns dann endlich gefunden hatten, tanzten wir den ganzen Abend durch.

Und schneller als gedacht genossen wir weitere Verabredungen.

An einem Wochenende stellte Sigi mich dann offiziell seinen Freunden vor. Ich war sehr aufgeregt. Was, wenn sie mich nicht mochten? Doch die Sorge war unbegründet. Die Gruppe empfing mich so herzlich, als würde ich schon ewig dazugehören. Wir waren ein netter Haufen, und eine meiner bis heute besten Freundinnen lernte ich dort kennen.

Blöderweise hatte ich meinen Urlaub für das Jahr bereits geplant, als sich die Liebe zwischen Sigi und mir festigte. Gemeinsam mit einer Kollegin aus der Buchhaltung sollte es für drei Wochen in die USA gehen. Ich erzählte Sigi davon und dann erfuhr ich von ihm, dass auch er bereits gebucht hatte. Und das ausgerechnet in den drei Wochen, bevor ich in die USA flog. Das wären sechs Wochen ohne ihn. Schon der Gedanke daran löste ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen aus. Ich wollte ihn nicht so lange vermissen müssen und deshalb schmiedete ich einen geheimen Plan. Dabei kam mir ein Mädchen aus der Clique zu Hilfe, die wegen einer Familienfeier nachreisen musste. Ihre Eltern hatten einen Fahrer organisiert, der sie zu den Freunden auf die Insel Rab bringen würde. Das war meine Chance!

Der Tag kam, an dem Sigi mit seiner Clique aufbrach.

Ich war so traurig. Morgens standen wir vor den Garagen, wo der vereinbarte Treffpunkt mit allen anderen war. Sigi packte die Reisetasche in den Kofferraum seines Autos und überprüfte das auf dem Trailer angehängte Motorboot, ob alles gut verschnürt und verzurrt war. Langsam trudelten die Freunde der Reihe nach ein, voller Vorfreude und guter Laune, während meine Stimmung immer trauriger wurde. Unter lautem Gelächter stiegen sie in die Autos. Ich wollte mir den Abschiedsschmerz vor den anderen nicht anmerken lassen und kämpfte mit den Tränen. Ein brennender Kloß drückte sich in meinen Hals.

Sigi kam auf mich zu, umarmte mich und sah mir liebevoll in die Augen. Er vermittelte mir wieder eine tiefe Geborgenheit und gleichzeitig eine Sicherheit, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. Es würde alles gut gehen und die Zeit des Wiedersehens würde kommen. Schließlich musste er mich loslassen. Er stieg als letzter ein und startete sein Auto. Der Motor brummte und sie fuhren los. Drei Autos hintereinander.

Da stand ich nun hilflos und unglücklich und winkte ihnen nach, solange ich sie sehen konnte. Unmittelbar danach eilte ich zu meinem Auto. Ich wollte nur irgendwohin, wo mich keiner sah, damit ich meinen Tränen freien Lauf lassen konnte.

Es dauerte, bis ich mich endlich beruhigte, und von diesem Moment an hielt ich mich an dem Gedanken an meinen Plan fest. Eine große freudige Überraschung würde das werden.

Endlich war es soweit, der Tag meines Vorhabens, mit dem Zug nach Rijeka zu fahren und weiter auf die Insel Rab zu reisen, kam näher. Am Freitag brachte mich meine Mutter um Mitternacht zum Bahnhof. Ich stieg ein und setze mich in ein Abteil, in dem bereits eine junge Mutter mit ihrem etwa siebenjährigen Kind saß. Die Frau sprach mich an. Überdreht sprudelte mein geheimer Plan aus mir heraus. Die Frau hörte mir aufmerksam zu und bot mir an, mich vom Bahnhof in Rijeka zur Fähre bringen zu lassen. Sie würde von ihrem Mann abgeholt werden, und er könnte einen kleinen Umweg in Kauf nehmen für meine bevorstehende Überraschung. Glückselig saß ich ihr gegenüber. Wenn´s läuft, läuft´s, dachte ich und konnte mich kaum mehr ruhig halten vor lauter Vorfreude auf das baldige Wiedersehen und Zusammensein mit Sigi. Als der Zug in unseren Zielbahnhof eintraf, stiegen wir gemeinsam aus und gingen auf den Mann meiner Zugnachbarin zu. Die Frau erklärte ihm meinen Plan und brachten mich zur Fähre. Ich bestieg das Schiff und suchte mir an Deck einen schönen Platz. In tiefen Atemzügen sog ich diese wunderbare Luft ein. Den salzigen Duft des Meeres, die Prise, die sofort das Gefühl von Urlaub auslöste und zusätzlich die Freude verstärkte, so nah am Ziel zu sein. Das tat gut. Die Fähre legte ab und langsam merkte ich, wie mir die Müdigkeit in alle Glieder kroch.

Irgendwann rüttelte mich ein braun gebrannter Mann aus dem Schlaf, um mir mitzuteilen, dass wir gut angekommen seien. Da hätte ich beinahe das Aussteigen verpennt. Als Letzte verließ ich die Fähre.

Nun stand ich also auf der Insel Rab und fühlte mich trotzdem irgendwie verloren. Vom Ferienhaus der Clique wusste ich nur, dass es in der Nähe eines Hotels mit angesagter Disco lag. Am Informationsschalter der Fähre fragte ich, ob sie diese Unterkunft kennen. Die Dame am Schalter verneinte und verdrehte genervt die Augen. Vermutlich, weil viele Touristen vor mir schon »blöde« Fragen gestellt hatten. Da fiel mir ein, dass ich die Telefonnummer hatte. Ich sah mich nach einer öffentlichen Telefonzelle um, wechselte mein Geld in die richtige Währung und ging zum Telefonieren. Ich wählte die Nummer und eine automatische Ansage teilte mir mit, dass diese Nummer nicht existierte. Das konnte doch nicht wahr sein! Niedergeschlagen legte ich den Hörer auf die Gabel und verließ die Telefon-Kabine. Jetzt war ich so kurz vorm Ziel und merkte, dass ich unnötig Zeit verlor. Was mach ich, was mach ich, was mache ich?, hämmerten meine Gedanken wie auf einen Amboss. Eine Unruhe übermannte mich und ich ging ein paar Schritte auf und ab, um mich wieder zu beruhigen. Aber das funktionierte nicht. Die Aufregung war zu groß. Die Sonne zu heiß. Und ich inzwischen kurz vorm Verzweifeln.

Plötzlich trat ein junger Mann auf mich zu und fragte auf Deutsch: »Was ist denn dir passiert?«

»Ich will meinen Freund, der seit ein paar Tagen hier ist, überraschen. Jetzt weiß ich die genaue Adresse nicht, und die Telefonnummer, die ich habe, ist auch falsch. Keine Ahnung, was ich jetzt machen soll und wie ich ihn finden kann.«

»Hm«, sagte er, »hast du denn irgendeinen Anhaltspunkt, irgendetwas, was uns Aufschluss geben kann, wo dein Freund untergebracht ist? Hat er dir nicht erzählt, wie es dort aussieht oder ob etwas Besonderes in der Nähe ist?«

»Doch! Eine angesagte Disco neben einem Hotel.«

»Ha! Die kenn ich! Da war ich gestern mit meinen Freunden. Es gibt auch nur eine auf der Insel. Das ist einfach. Ich kann dich hinfahren. Ich hole nur schnell mein Auto vom Campingplatz unten am Meer. Warte hier, ich bin sofort wieder da.«

Jetzt stand ich hier und wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte vor Erleichterung. Die Tränen wegzwinkernd verharrte ich einen Augenblick und dachte kurz nach, ob ich denn zu einem Fremden einfach ins Auto steigen sollte. Nachdem ich mich jedoch schon so vertrauensvoll mit ihm unterhalten hatte, hörte ich auf mein Bauchgefühl, und als er vor mir anhielt, stieg ich ein. Während der Fahrt plauderten wir. In einer kleinen Gesprächspause grübelte ich, wie es gerade im richtigen Augenblick zu dieser Begegnung gekommen war. Deshalb fragte ich ihn: »Warum bist du denn überhaupt zur Anlegestelle gekommen?«

»Ich hatte plötzlich so ein starkes Gefühl, dass ich meine Eltern anrufen sollte, um mich wieder einmal zu melden. Ich wollte zur Telefonzelle. Als ich dich dann dort so hektisch auf- und abgehen sah, dachte ich, da stimmt was nicht, du könntest bestimmt Hilfe gebrauchen. Ehrlich gesagt hast du richtig verzweifelt ausgesehen.«