Buch lesen: «Himmel (schon wieder)»
Himmel (schon wieder!)
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Epilog
Danksagungen
Die Autorin
Andrea Ross
Himmel (schon wieder!)
Der Yggdrasil-Effekt
Teil 2 der Endzeit-Saga
XOXO Verlag
Impressum
»Alles fließt. Alles ist in Bewegung, und nichts währt ewig. Deshalb können wir nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Denn wenn ich zum zweiten Mal in den Fluss steige, haben sowohl ich als auch der Fluss uns verändert.«
Heraklit
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche
Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-031-6
E-Book-ISBN: 978-3-96752-531-1
Copyright (2019) XOXO Verlag Umschlaggestaltung:
© Ulrich Guse, Art fine grafic design, Orihuela (Costa)
© Collage von Ulrich Guse, unter Verwendung eines Lizenzbildes von: dreamstime.de
Buchsatz: Alfons Th. Seeboth
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Kapitel 1
Traum oder Wirklichkeit?
Stephen saß im Spätherbst am Strand der Costa Blanca, obwohl der Himmel bedeckt war und ihm ein unangenehm kühler Wind um die Nase blies. Es war ihm einerlei, denn er musste dringend nachdenken. Reglos ließ der junge Mann die Ereignisse der gestrigen Nacht vor seinem geistigen Auge vorüberziehen, versuchte, sie zu verstehen und einzuordnen. Im ersten Augenblick seines Erwachens hatte er nur allzu gerne daran glauben mögen, dass er einem Horrortrip aufgesessen war; ausgelöst durch einen Joint, der wohl eine ihm unbekannte Höllenmischung enthalten haben musste. Doch wenn seine nächtlichen Erlebnisse nur Einbildung gewesen wären, wie ließen sich dann die Unstimmigkeiten erklären, die er in den wenigen Minuten, die seither vergangen waren, festgestellt hatte? Er war erst am späten Nachmittag erwacht, Lenas Spott ausgesetzt gewesen und zerstreut losgefahren. Stephens Kopf schmerzte fürchterlich und in diesem Zustand taten selbst die Gedanken körperlich weh. Jedenfalls fühlte sich das für ihn so an.
»Nochmal überlegen. Also. Ich bin aus Deutschland ausgewandert, um hier ein neues Leben anzufangen. Gestern Abend habe ich mich mit Gewalt in meine enge Motorradhose gequetscht, um zu einer Party zu fahren. Und heute Nachmittag bin ich dort mit einem dicken Schädel aufgewacht. Man hat mir erklärt, ich sei in einer Art Delirium gewesen, hätte mit einer hübschen Rothaarigen geschlafen und einen Job an Land gezogen. Soweit klingt das alles noch ganz normal. Jedenfalls für meine Verhältnisse.« Seine Gedanken ordnete man am besten, wenn man alles halblaut vor sich hinmurmelte, diese Feststellung hatte Steve schon vor Jahren gemacht. Hier hörte das zum Glück niemand, denn die anderen Menschen waren anscheinend nicht blöd genug, sich bei diesem ungemütlichen Wetter nach draußen zu begeben.
Jetzt kam doch jemand vorbei. Ein älterer Mann, der vermutlich wegen der unaufschiebbaren Notdurft seines mitgeführten Hundes hierzu verdonnert worden war. In Spanisch redete er auf das Tier ein, und Stephen konnte seltsamerweise jedes Wort verstehen. Noch gestern hatte es ihm äußerste Mühe abverlangt, selbst einfachste Konversation in dieser fremden Sprache zu verstehen. Und nun? Nicht einmal die Umgangssprache verursachte ihm nennenswerte Probleme.
DIESER Umstand sprach nun wieder dafür, dass die Ereignisse, welche so eindrucksvoll in seiner Erinnerung hafteten, doch nicht vollständig halluziniert sein konnten. Genau wie dieser ominöse Lastwagen, der ihn beim Verlassen des Grundstücks fast ins Jenseits befördert hätte. Er kannte dieses Fahrzeug; er wusste sogar, wie es scherzhaft bezeichnet wurde – El Burro, der störrische Esel. Es gehörte einer gewissen Pilar, einer älteren Dame aus der Nähe der Stadt Elche und … nein, das alles konnte nicht wahr sein. Oder doch?
In der hereinbrechenden Abenddämmerung kam Stephen endlich der erlösende Geistesblitz. Moment, warum war ihm das nicht früher eingefallen? Wenn er schon so viele Orte und Begebenheiten aus dem Drogen-Horrortrip kannte, warum fuhr er dann nicht einfach auf dem Weg nach Guardamar an einigen Schauplätzen vorbei und überprüfte sie? Da würde sich dann hoffentlich schnell herausstellen, dass er sich etwas zusammengesponnen hatte. Anschließend konnte er beruhigt nach Hause fahren und das Hotel anrufen, den Inhabern in Aussicht stellen, dass er morgen früh zuverlässig zum Vertragsabschluss erscheinen werde. Die hatten heute schon vergeblich auf ihren neuen SuperProgrammierer gewartet.
Allerdings war sich Stephen nicht ganz sicher, ob die Hotelmanager nur aufgrund seiner gestrigen Ausführungen überzeugt waren, den Richtigen zu engagieren, oder ob dies vielmehr auf den Anruf seines Vaters zurückzuführen war, welcher ein Software-Imperium in Deutschland besaß und in der Branche weithin bekannt war. Bewusst war er sich hingegen, dass seines Vaters Fürsprache nicht aus Liebe zu ihm geschehen war, sondern vermutlich sicherstellen sollte, dass er nur ja nicht nach Deutschland zurückkäme. Die beiden hatten sich vor Stephens Abreise nach Spanien ziemlich heftig in den Haaren gehabt, sehr zum Leidwesen von Stephens Mutter Kirstie.
Stephen rappelte sich auf, eine Idee zu schnell für seinen desolaten Zustand. Nicht nur dass sein Kopf nun fast zu platzen drohte, ihm wurde auch schwarz vor Augen. Egal. Er würde eben später der Sportart »Extrem-Couching« frönen, wie er faule Fernsehabende gerne bezeichnete; oft hatte er für diesen Ausdruck in geselligen Runden Gelächter geerntet, denn Stephen gab gerne den Scherzkeks, sofern er sich nicht gerade in unerfreulichen Grübeleien erging.
Momentan war ihm nicht nach seichten Späßchen zumute. Soeben hatte er anhand eines charakteristischen Schwapp-Geräusches festgestellt, dass das Motorrad aufgetankt werden musste. Na schön! Das wäre dann gleich eine passende Gelegenheit, die Existenz einer gewissen Tankstelle zu überprüfen. Jener Tankstelle, die nicht weit vom Grundstück Pilars entfernt lag. Der Tanke mit dem Besitzer Fernando, die ihm einige Ersatzteile für »El Burro« geliefert hatte. Sehr gut! Vielleicht musste er dann gar nicht mehr weiter nachsehen, wenn schon dieser Ort nur im Traum existent gewesen wäre. Schon von weitem sprang ihm das Flachdach der Tankstelle ins Auge. »Was zum Teufel …!« Es klang dumpf unter dem Helm und Stephen brach der kalte Schweiß aus. Besonders als er Fernando gewahrte, den es somit ebenfalls in Wirklichkeit gab. Der sang unbekümmert in seiner Werkstatt vor sich hin, während er einem Fahrzeug Öl nachfüllte, welches hier zu Lande, wie Stephen neuerdings wusste, »aceite« hieß. Nachdem er geistesabwesend die Tankrechnung beglichen hatte, fuhr er sich nervös durch die blonde Strubbel-Frisur, setzte den Helm wieder auf und fuhr, wie von Teufeln gehetzt, vom Gelände.
»Wenn der Rest dieses Albtraums auch noch in Wirklichkeit
existent ist, dann müsste … jaaaaaaa, JETZT Pilars Grundstück sichtbar sein!«
Schon wieder sprach Stephen mit sich selbst, um sich abzuregen. Das klang erneut recht seltsam unter dem Helm und seine vor Aufregung beschleunigte Atmung hinterließ einen feuchten Film auf dem Visier. Doch die Beruhigung seiner Nerven wollte ihm nach Lage der Dinge nicht gelingen. Was er insgeheim befürchtet, jedoch eigentlich instinktiv schon geahnt hatte, das war nun auch unverrückbar in seinem Verstand etabliert. Seine erstaunten Augen vermeldeten nämlich, dass Pilars Haus genauso vorhanden war wie ihre Zitronenplantage.
Doch EIN Detail erschien ihm trotzdem seltsam. Als er das Grundstück während seines »Horrortrips« zum ersten Mal gesehen hatte, war es in einem verlotterten Zustand gewesen. Aus Dankbarkeit für seine Rettung und Pflege nach dem Motorradunfall hatte Stephen es für Pilar hergerichtet, und in exakt diesem Zustand befand es sich jetzt. Wie konnte das möglich sein? Wenn er den Unfall doch gar nicht erlitten hatte, dann hätte Pilar ihn nicht gepflegt, ihn nicht einmal gekannt. In diesem Fall aber hätte er dort natürlich auch gar nichts reparieren können … Über solch abstrusen Gedanken konnte man wahrlich verrückt werden. Ja klar – Stephen erinnerte sich. Hier drüben befand sich der Bewässerungsgraben, aus welchem man ihn nach dem Unfall geborgen hatte. Dort, neben der Werkstatt, standen große Körbe, die zur Zitronenernte verwendet wurden, genau wie in seiner Erinnerung. Mit dem einzigen Unterschied, dass einer davon eben NICHT die Trümmer seiner zerstörten Harley enthielt, welche Pilar in seiner Erinnerung penibel aufgeklaubt hatte.
Er musste hier weg, bekam es mit einer unheimlichen Angst zu tun. Wollte nur noch nach Hause, sich hinlegen und am nächsten Morgen wieder einen klaren Kopf bekommen, über sich selber lachen, über seine vielfältigen Einbildungen.
Er wurde einfach den Gedanken nicht los, dass das Mädchen Lena, welches er von der Party kannte, irgendwie den Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels bereithielt. Doch weshalb, das wusste er nicht zu sagen. In seiner Erinnerung war sie ein liebenswertes, zartes Geschöpf gewesen, schließlich, nach turbulenten Erlebnissen eines Tages, seine Frau geworden.
Warum war die Lena von heute so komplett anders? Wie eine verwöhnte Zicke hatte sie auf ihn gewirkt, lasterhaft und egoistisch. Auf der Party gestern hatte sie sich ihm förmlich an den Hals geworfen, niemals hätte er dergleichen bei seiner sanften Traum-Lena erlebt.
So schön es sich anfühlte, dass die Harley doch nicht an einem Möbellaster zerschellt war – in Bezug auf Lena hätte er etwas darum gegeben, wenn DIES hier der Traum gewesen wäre und im Gegenzug der »Horrortrip« die Wirklichkeit. Wenn man vom Ende dieser Geschichte einmal absah, welche weiß Gott nicht witzig ausgegangen war. Stephen McLaman als Lehr-Erzengel, Himmel noch mal!
Vor dem Einschlafen versuchte sich eben dieser verwirrte Stephen McLaman nun krampfhaft einzureden, dass er Pilars Haus und die Tankstelle einfach nur irgendwann beim Vorbeifahren gesehen haben musste, aus dem Augenwinkel registriert. Der Rest war demnach bestimmt Einbildung.
Was Lena betraf, so hatte er sich für dieses Mädchen, das in einem dermaßen attraktiven Körper steckte, wahrscheinlich einfach einen anderen Charakter herbeigewünscht, war gestern mit solchen Gedanken in den Drogenrausch hinübergedämmert. Sein zugedröhntes Gehirn musste dann wüst herumphantasiert haben. Nur so ließ sich das alles mit Hängen und Würgen erklären.
In der nächsten Zeit würde er sich penibel von allen Joints dieser Welt fern halten, garantiert.
* * *
Die schwarzgelockte Yoli warf sich energisch die Jacke über die Schulter und zwängte sich in ihre hochhackigen Pumps. »Lena, bist du endlich fertig? Ich muss gehen, in einer Viertelstunde muss ich auf der Arbeit sein! Komm, wir fahren!«
»Ja gleich, warte mal! Ich hab da etwas gefunden; ich glaube, das gehört diesem Stephen. Seine Referenzen, aus denen gestern so viel zitiert wurde. Hast du eine Ahnung, wo der wohnt?« Yolanda Nuñez Hernandez hatte keine blasse Ahnung. Ihre Finger trommelten seit endlosen Minuten einen nervösen Marsch auf die Türklinke. Wenn Lena jetzt nicht bald kam, dann wäre sie, die Kellnerin Yoli, in argen Erklärungsnöten. Ihr Chef schätzte es so gar nicht, wenn sie zu spät an ihrem Arbeitsplatz erschien. Dabei hatte sie schon gestern krankgefeiert, damit sie das Catering für diese Party übernehmen konnte. Für ein hübsches Sümmchen, versteht sich. Kellnerinnen waren ersetzbar, daher konnte sie es sich unmöglich leisten, heute auch noch zu spät zu kommen. Wenigstens sah sie total übernächtigt aus und hatte Augenringe, die sie an diesem Abend absichtlich nicht überschminkte. Daher würde ihr Chef sicherlich den Schwindel mit der Krankmeldung nicht durchschauen.
Endlich bog Lena mit wehendem Haar um die Ecke. »Ich glaube, ich nehme das Zeugs einfach mit! Vielleicht rufe ich dort im Hotel Eden Roc an, die könnten es ihm irgendwann aushändigen. Vielleicht mach ich das auch nicht, denn als er aufwachte, war er doch ein ziemlicher Idiot!« Lena seufzte. Männer! Warum hatte sie gestern Abend nicht bereits bemerkt, dass der ach so charmante und eloquente Steve nicht alle Tassen im Schrank hatte?
Yoli war sich sicher: sie hatte sämtliche nur denkbaren Verkehrsregeln übertreten, als sie Lena nach nur 10 Minuten vor ihrem Hotel absetzte. Sie besaß nun einmal ein ausgeprägtes Samariter-Gen, welches ihr strengstens verbot, Lena einfach ihrem Schicksal zu überlassen, so dass diese dann selbst sehen müsste, wie sie zurück zum Hotel kam. Obwohl die beiden eigentlich nichts weiter verband, als eine kaum zweiwöchige Bekanntschaft.
Lena war eines Abends in der Tapas-Bar aufgetaucht, in welcher Yoli bediente. Die beiden hatten sich etwas angefreundet, gemeinsam über alles Mögliche gelästert. Na ja, eigentlich hatte Lena sich an Yolis Fersen geheftet, weil sie hier in Spanien niemanden kannte und schnell feststellte, dass sich in Yolis Nähe attraktive Jungs aller Nationen aufhielten. Dann hatte Yoli Lena unvorsichtigerweise von der Party erzählt, bei der sie für Speis und Trank sorgen wollte. Sofort war Lena darauf eingestiegen und hatte sich quasi selbst eingeladen.
Mit quietschenden Reifen legte Yoli die letzten Meter zur TapasBar zurück. Wenn sie nun nicht doch noch von der Guardia Civil erwischt wurde, dann würde sie es gerade rechtzeitig schaffen, registrierte sie, nicht ohne Stolz.
* * *
Am nächsten Morgen, als Steve frisch und munter erwachte, hatte er einen festen Vorsatz gefasst: er würde den komischen Traum, oder was immer das gewesen war, einfach abhaken und vergessen. Er würde im Hier und Jetzt leben, zu dem großen Hotel hinüberfahren, das ihn vorgestern mit der Erstellung eines umfangreichen Computerprogramms beauftragt hatte, den Vertrag unterzeichnen und an seiner Zukunft arbeiten. Er würde die halben Nächte lang durchprogrammieren, in Rekordzeit ein perfektes Ergebnis abliefern. So wie es seine Kunden von ihm gewohnt waren. Schon spukten ihm die ersten Codes und Layouts durch den Kopf, die er zu kreieren gedachte.
Aber zuallererst würde er hinüber nach Elche in den Elektrogroßmarkt fahren, um ein mobiles Heizgerät zu besorgen; denn in einem Winkel seines mittlerweile hellwachen Gehirns wusste er, wie schweinekalt und feucht der bevorstehende Winter im sonnigen Süden werden konnte, wenn man keine Heizung in der Wohnung besaß. Souverän fand er den versteckt gelegenen Elektromarkt, obwohl er diesen nie zuvor aufgesucht hatte. Wenigstens nicht im »realen« Leben, denn im Traum musste er sich dort ein neues Notebook besorgen, nachdem seines bei einem Einbruch entwendet wurde. Stephen verdrängte diesen Gedanken gleich nach seiner Entstehung, sonst hätte er über diese Ungereimtheit wieder nachdenken müssen. Außerdem war er gerade mit einem profanen Alltagsproblem befasst; als er den sperrigen Karton auf der Harley verstauen wollte, entrang sich ein frustrierter Fluch seinen Lippen. Er liebte Motorräder, speziell dieses hier! Doch wenn man größere Einkäufe oder Heizgeräte zu transportieren hatte, dann hörte der Fahrspaß auf.
In Guardamar del Segura mit heiler Fracht und leichten Muskelverspannungen angekommen, fühlte sich Stephen erst einmal erleichtert. Jetzt schnell noch den Heizkörper ins Appartement, dann gleich weiter zum Hotelmanager nach Torrevieja.
Nanu, hatte er nicht abgesperrt gehabt? Stephen hielt irritiert in seiner Bewegung inne. Es ereilte ihn unvorbereitet das nächste unangenehme Déjà vu.
Diese Situation war ihm leider bereits hinreichend bekannt. Er würde nun gleich in das Appartement eintreten und hierbei feststellen, dass nicht mehr alle Dinge an ihrem angestammten Platz standen. Anschließend, da war er sich ganz sicher, würde sein Blick auf die leere Stelle fallen, wo noch vor einer Dreiviertelstunde sein Notebook gestanden hatte. Danach würde er registrieren, dass auch das Handy fehlte.
»So eine gottverdammte Scheiße!« Mit dieser verbalen Entgleisung war nicht nur die Tatsache gemeint, dass das Notebook noch einen beträchtlichen Wert gehabt hatte, er es dringend zum Programmieren benötigte und dieses nun gestohlen worden war. Weitaus schlimmer war die Einschätzung seiner Situation. Es würde nicht aufhören, immer wieder würde er auf Fragmente seiner Traumerlebnisse – oder was immer ihm da serviert wurde – stoßen, die er in Wirklichkeit doch gar nicht erlebt haben konnte.
Ja genau! Die Nebenerwerbseinbrecher! Nun wusste er wenigstens, dass man schon einen Tag nach seinem schweren Unfall hier eingebrochen hatte; nur konnte er es in der anderen Version seines Lebens erst später entdecken, weil er zu diesem Zeitpunkt noch bei Pilar wohnte, El Burro reparierte und seine Verletzungen vom Unfall ausheilte.
Stephen fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, ließ sich mutlos auf die Couch fallen. Er würde den Einbruch nun wieder bei der Policía melden müssen, diesmal aber ganz bestimmt nicht wie der deutsche Touristen-Depp dastehen und zum Gespött gelangweilter Polizisten werden. Diesmal nicht! Anschließend würde er schon wieder zum Elektromarkt fahren dürfen, ein Notebook kaufen. Dann zum Schlüsseldienst, die Schlösser austauschen lassen. Gott, nervte das.
Stephen beschloss, dies alles NACH seinem Besuch im Hotel zu erledigen. Er streifte sein einziges Jackett über, bestieg das Motorrad und machte sich auf den Weg. Aber heute Abend, wenn er erst ein neues Notebook nebst einem Großauftrag sein Eigen nannte, dann würde er einiges eruieren, es führte leider kein Weg daran vorbei. Am besten bei einer schönen Flasche Rotwein.
Das Hotelmanagement war überhaupt nicht erbaut, dass der vielversprechende junge Programmierer so wenig Interesse an seinem Auftrag zeigte, dass er einen vollen Tag zu spät zur Vertragsunterzeichnung auftauchte. Dabei hatte man ihm explizit zu verstehen gegeben, dass die Zeit drängte, die Teilrenovierung des Hauses bereits ihrer Fertigstellung entgegen ging. Danach würde man das neue System in Betrieb nehmen wollen, vorausgesetzt, dass Stephen seinen vorgegebenen Zeitplan einhielt. Für die Eile hatte man ihm schließlich auf den gewöhnlichen Stundensatz einiges draufgepackt, der Auftrag konnte für den jungen Mann durchaus als lukrativ betrachtet werden. Umso erstaunlicher, dass dieser nun schon im Vorfeld durch Unpünktlichkeit glänzte.
Natürlich hatte Stephen eine prima Ausrede parat, er war ja ausgeraubt worden. Den Einbruch verlegte er bei seiner Erzählung einfach einen Tag zurück, schilderte in den buntesten Farben seine Erlebnisse bei der Polizei, wie er sie aus seinem »Zweitleben« in Erinnerung hatte. Man nickte bedächtig, anscheinend hatte hier jeder so seine Erfahrungen mit irgendwelchen Einbrüchen. Dennoch entging Stephen der irritierte Blick des Hotel-Managers nicht, mit dem er ihn in einem unbeobachtet geglaubten Moment betrachtete. Misstraute er ihm etwa?
Stephen erhielt seinen unterzeichneten Vertrag, sein Pflichtenheft und die eindringliche Ermahnung, regelmäßigen Bericht über den Fortgang seiner Tätigkeit zu erstatten und unbedingt im Zeitplan zu bleiben. Dann durfte er endlich gehen.
Als er draußen die Unterlagen in der Satteltasche seiner Harley verstaute, beschlich ihn ein höchst ungutes Gefühl. Als hätte er soeben ein Verbrechen oder einen Verrat begangen, sich wissentlich Sünde aufgeladen. Selbstverständlich wusste er auch, weshalb sich dies so anfühlte.
Waren nicht Computer und die Menschen, die sie benutzten, am Untergang der Welt mitschuldig? In seinem anderen Leben hatten sie den Anfang vom Ende eingeleitet; es würde in einigen Jahren der Supercomputer »das Tier 0« in Betrieb genommen werden, und zwar Mitte 2012. Was heute, am Ende des Jahres 2004, allerdings noch niemand ahnen konnte. Genau, er würde einiges überprüfen müssen, wenn er nach Hause kam.
Im »Eden Roc« war die Chefbesprechung indessen noch nicht aufgelöst worden. Die drei Spanier waren sich plötzlich überhaupt nicht mehr sicher, den richtigen Programmierer an Land gezogen zu haben. »Señor Gómez, haben Sie es auch bemerkt? Vorgestern noch hat dieser Stephen McLaman vorgeschoben, nur ein paar Brocken Spanisch zu sprechen, »un pocito« hat er entschuldigend bemerkt. Und heute steht er da und erzählt ausführlich seine Erlebnisse mit La Policía, ohne mit der Wimper zu zucken, nachdem er einen Tag zu spät hier auftauchte. Sagen Sie, wie gut kennen Sie eigentlich seinen Vater, der ihn empfohlen hat?« Der Angesprochene war ebenfalls nicht ganz im Bilde, was dieses Verhalten zu bedeuten hatte. Aber der Ruf des Thomas McLaman und seiner Aktiengesellschaft war tadellos. Gómez hatte einige Jahre lang im selben Bürogebäude gearbeitet und schwärmte noch heute von seiner Zeit in Hamburg, als er den großen »Mr. LAMANTEC« persönlich kennenlernen durfte. Dieser Mann verkörperte das, was sich Victor Gómez unter einem perfekten Manager vorstellte. Er besaß Brillanz, Unerbittlichkeit und Stolz. Seit er diesem Unternehmer begegnet war, strebte er danach, dieselbe Kompetenz auszustrahlen. Nur so funktionierte das Big Business. Nur so.
* * *
Lena Keller langweilte sich. Eigentlich war sie spontan nach Spanien geflogen, um Spaß zu haben, um endlich ihr Image als graue Maus loszuwerden. Sie hatte wohl das gehabt, was man heute als
»schwere Kindheit« bezeichnete, denn ihre Mutter war einfach spurlos verschwunden, als sie noch im Kindergarten-Alter war. Die Kindergärtnerin hatte sie schließlich adoptiert, doch Lena war trotzdem mit dem Makel aufgewachsen, von der eigenen Mutter im Stich gelassen worden zu sein. Was sich fatal auf ihr Selbstbewusstsein auswirkte.
Außerdem war sie viel zu schüchtern und verklemmt gewesen. Noch bis vor wenigen Wochen, als sie an einem schicksalhaften Tag endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen konnte. Oder musste, wie man es eben nahm.
Das Leben spielte oft gemeine Streiche. Eigentlich hatte Lena sterben wollen, war mit einer ganzen Batterie von Tabletten und einer Flasche Schnaps an den norddeutschen Strand gegangen, um sich das Leben zu nehmen. Zur Sicherheit wollte sie während der Tabletteneinnahme in der Brandung des Meeres stehen, damit sie beim Eintritt ihrer Bewusstlosigkeit auch gleich ertrinken würde. Denn kein Gedanke war schlimmer, als der an eine bleibende geistige Behinderung, falls man sie zu früh am Strand gefunden und in letzter Minute gerettet hätte.
Die junge Frau besaß jedoch einen derart labilen Magen, dass dieser schon mit den großen Schlucken billigen Wodkas überfordert war, die sie angeekelt hinunterwürgte. Als sie die ersten Tabletten hinterherschicken wollte, übergab sie sich derart, dass sie schon dachte, alleine daran krepieren zu müssen. Wann hatte sie zuvor auch schon einmal Alkohol getrunken?
Vollgekotzt und kreidebleich war sie nach Hause gewankt, wo ihr Stiefmutter Meike mit ihrer Bemutterung und Besorgnis gnadenlos auf den Wecker gefallen war, Stiefvater Piet hingegen mit herben Vorwürfen. Sie konnte und wollte nichts erklären, nicht mehr reden müssen an diesem Abend.
Von diesem Zeitpunkt an veränderte sich etwas in Lena. Wenn sie schon nicht sterben durfte, dann war es auch egal, wie es weiterging. Nur nicht wie bisher, das auf gar keinen Fall. Lena beschloss, ihr Überleben als Neuanfang, wie eine neue Geburt, zu sehen. Sie hatte vor ein paar Monaten von weisen Frauen im Altertum gelesen, die für solche Zwecke ein Ritual zur Selbstsuggestion beschrieben, wonach sie dann zu neuen Persönlichkeiten, in diesem Fall zu weißen Hexen, wurden. Genau so etwas würde auch sie durchführen, das versprach sich Lena in jener Nacht. Mit ungewissem Ausgang.
Meike und Piet, ihre Stiefeltern, waren äußerst beunruhigt, als sie Lenas Verwandlung gewahrten. Ihre Tochter verschwand mit einer Decke mehrere Stunden lang, ohne wie sonst Bescheid zu geben, wohin sie ging. Dann tauchte sie mit Erdkrümeln im Haar wieder auf, trug ein vollkommen neues Outfit, das sie noch tags zuvor niemals getragen hätte, weil es für ihren Geschmack um Welten zu offenherzig wirkte. Geschminkt war sie auch noch, dabei hatte sie stets verächtlich bemerkt, dass so etwas sicher nur Mädchen täten, welche dies auch nötig hätten und die sowieso nur danach trachteten, Jungs anzumachen. Sie selbst hatte niemals auch nur ein Quäntchen Farbe aufgetragen, die ganze Pubertät lang nicht. Doch jetzt, mit ihren 19 Jahren, benahm sie sich, als wäre sie eben erst in die Pubertät gerutscht und das buchstäblich über Nacht. Lena neigte von jeher zum Extremismus. War sie früher extrem schüchtern, unauffällig und natürlich gewesen, so konnte jetzt das glatte Gegenteil zur Beschreibung dienen. Ihre gewählte, höfliche Ausdrucksweise wandelte sich zunehmend in die bei jungen Leuten weltweit so beliebte Gossensprache; sie selbst glaubte, sich so ausdrücken zu müssen, damit sie künftig als »cool« gelte. Im Gymnasium waren die Klassenkameraden begeistert, als sie Lenas Verwandlung gewahrten. Endlich war diese abgehobene, vergeistigte Schnepfe normal, eine von ihnen, geworden. Bis Lena die Schule von heute auf morgen schmiss, ihr Sparbuch plünderte und nach Spanien flog, um endlich »Party zu machen«, wie sie ihren entsetzten Adoptiveltern in arrogantem Ton fünf Minuten vor der Abreise erklärte.
Im Grunde war Lena in der Nacht ihres Selbstmordversuchs doch gestorben. Oder etwas in ihr.
Wie gesagt, aktuell langweilte sie sich im Hotel. Also machte sich die attraktive junge Frau zurecht und beschloss, wieder einmal Yoli in der Tapas-Bar zu besuchen. Sie würde per Anhalter fahren müssen, denn sonst reichten ihre Ersparnisse nicht mehr lange. Ein aufregendes Leben hatte sie sich sowieso anders vorgestellt, aber vielleicht traf sie ja dort in der Bar interessante Leute, die mit ihr etwas Abenteuerliches unternahmen. Wem gehörten denn eigentlich die ganzen schneeweißen Yachten und Segelboote dort draußen, die vor der Küste hinund her cruisten? Hatte denn niemand Interesse daran, sie zu solch einem Turn mitzunehmen? Kein Zweifel: Lena war begierig nach dem Leben, wollte die letzten Jahre gesellschaftlich mit aller Gewalt nachholen, die nahezu ereignislos an ihr vorbei gezogen waren. Jedenfalls sah sie das aus dem heutigen Blickwinkel so. Früher hatte sie ihr Leben wie im Traum verbracht; jetzt aber würde sie, die wachgeküsste Lena, ihren Traum leben. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Auch wenn sie sich das Wachküssen von gestern Abend anders vorgestellt hätte, wie sie sich längst beschämt eingestehen musste.
* * *
Stephen McLaman erreichte nach diesem erlebnisreichen Tag endlich seine feucht-klamme Couch, die er am liebsten schon wesentlich früher an diesem Nachmittag aufgesucht hätte. Er befreite im Licht der Abenddämmerung sein neues Heizgebläse aus der opulenten Verpackung, um die feindliche Atmosphäre seines Appartements ein wenig trockener und kuscheliger zu bekommen. Das hiesige Klima hatte er echt unterschätzt, das musste er zugeben. Im Spätherbst und Winter wirkte sich die unmittelbare Nähe des Meeres eher negativ aus, die allgegenwärtige Salz-Luft ließ Metall innerhalb kürzester Zeit rosten und erfüllte die Wohnung mit fast schon modrig riechender Luftfeuchtigkeit.
Bereits nach wenigen Minuten fühlte er sich wohler, konnte sein dickes Sweatshirt wieder ablegen. Er zündete ein Räucherstäbchen an, welches dezenten Sandelholzduft verbreitete. Schon besser! Nun kam das neue Notebook dran. Steve musste es konfigurieren, damit es einsatzbereit war.
Das stellte sich als gar nicht so einfach heraus, denn das Betriebssystem führte ihn auf Spanisch durch die Anwendungen; überdies musste er erst lernen, mit der, an manchen Stellen, im Vergleich zu seinem deutschen Rechner unterschiedlichen Tastatur klar zu kommen. Normalerweise vermochte er blind im 10-FingerSystem in rasender Geschwindigkeit zu schreiben, doch jetzt war ihm das ñ ständig im Weg. Verflixter Nebenerwerbs-Einbrecher! Hoffentlich ärgerte sich dieser Mistkerl jetzt über Buchstaben wie ä, ö und ü, die er nicht gebrauchen konnte.
Mit dem ebenfalls geklauten Handy wollte er gar nicht erst spanische Experimente eingehen. Seine Mutter würde ihm sicherlich in Deutschland ein Neues besorgen. In seinem anderen Leben, von dem er leider immer noch nicht wusste, wie er an Erinnerungen aus der Zukunft gekommen sein konnte, hatte Kirstie sich gefreut, ihm helfen zu können. Überraschend war das Handy mit der Post angekommen; schon wenige Tage, nachdem er ihr sein Leid geklagt hatte. Heimlich hatte sie es an ihn abschicken müssen, damit sein Vater sie deswegen nicht mit sarkastischen Vorwürfen überschüttete.
Endlich hatten Stephens Bemühungen einen Punkt erreicht, an dem er sich mit dem Ergebnis zufrieden geben konnte. Morgen war auch noch ein Tag; es war ohnehin besser, ausgeruht mit dem Programmieren zu beginnen, als jetzt am Abend mit aller Gewalt halbherzig noch ein paar Code-Zeilen zu schreiben. So etwas barg Fehlerquellen.
Steve startete die Internet-Suchmaschine, um ein paar Recherchen vorzunehmen. Er erinnerte sich ganz genau an die Begebenheiten seines Zweit-Lebens, die er in der Zeitspanne kurz vor Weihnachten erlebt hatte. Das mit dem Einbrecher war bereits eingetroffen, andere Ereignisse hingegen hatten sich eindeutig verändert. Einfach, weil er keinen Motorradunfall gehabt und Lena somit nicht vom Himmel aus das Leben gerettet hatte.
In diesem Moment, an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Ach, du Schande! Stephen hatte keine Ahnung, zu welchem genauen Datum Lena den Selbstmordversuch unternommen hatte! Die lineare Zeitschiene war während seines Aufenthaltes im Himmel überhaupt nicht existent gewesen, man konnte vor und zurückspringen, wie man es gerade brauchte. Einmal kurz Steinzeit, dann wieder nach 2004. Was, wenn der Selbstmord noch in der Zukunft lag und Lena den Versuch diesmal eben nicht am Nordseestrand, sondern hier, an der Costa Blanca, unternahm? Oder hatte er sich doch alles nur eingebildet? So etwas konnte es doch nicht geben!