Buch lesen: «Die Vogelfreiheit unter einer zweiten Sonne, weil die erste scheint zu schön»
Andrea Drumbl
Die Vogelfreiheit unter
einer zweiten Sonne, weil
die erste scheint zu schön
Roman
Das »Oktoberfriedhofskind« in Andrea Drumbls oft genug unheimlicher, manchmal auch schön-morbider, unterirdischer Prosawelt mit dem Buchtitel »Vogelfreiheit« geistert und paraphrasiert in meinen Träumen als kleiner toter Bub, dem das Blut, wie es heißt, aus den Kniekehlen gewichen war und dessen Augen, um die Worte von Andrea Drumbl zu gebrauchen, dunkel waren, wie Tee ohne Milch, einem guten, wie sie sagt, kräftigen Tee aus Assam oder auch aus Darjeeling, wie ich meine, seit ich in Indien, in Pune, vor einer Konditorei sitzend, dieses Manuskript gelesen habe, in dem dieser kleine tote Junge auch als Verblichener sein »Kindheitslebensband« fortsetzt und fortspinnt, überirdisch oder unterirdisch, keiner »weiß« es, jedenfalls steckt er einen goldenen Ring, ein ehemaliges Liebesgeschenk, wie es heißt, an eine, wie ich es mir vorstelle, Friedhofsblume, an eine weinrote Chrysantheme, denn wenn die Blumen im Oktober fortgehen, dann kommen die Chrysanthemen und vermählen sich mit der bitterzarten Raureife in Andrea Drumbls »Vogelfreiheit« auf Ewigkeit in Aller Seelen.
Josef Winkler (Georg-Büchner-Preisträger)
Prolog
Das Schutzengelmein
Denn es gibt Tage, jene dünnen Tage mit diesem rot-weiß-roten Licht darin und diesen Blitzzungenspitzen am trüben Himmel, Tage mit zu viel Regen in der Luft und diesen lichtschimmernden Spiegelungen auf nassem Kopfsteinpflaster, Tage wie ausgespuckt und weggespült – und mit der kleinen Stille dann, am anderen Ende ist sie hell, so hell von der Sonne. Sonnenhell.
Aber die Fliegen in den trüben Pfützen, diese zarten Körperchen in platten Lacken, sie sind so grau im Morgengrauen, wie sie sich darin winden, wie sie ruckeln und zucken und dann nur mehr zusammenbrechen, das glatte Wasser in den platten Lacken nicht mehr zerstaken durch ihr letztes heftiges Lebenwollen und die Kinder ihre fiebrigen Pupillen im Wasser sehen können, wenn sie nur nah genug rangehen, die toten Fliegen in einem Wassersarg aus toten Blütenblättern über das stille Wasser treiben lassen und insgeheim ein Schutzengelmein zum weinend vom Himmel herabgestürzten Schutzengel mit den stumpfen Flügelresten auf seinen Schulterblättern sprechen, ja, Mörderisches besprechen.
Erster Teil (September)
Wo sind bloß die Tage hin,
als alles noch so sanft und jung und federleicht,
das Leben selbst so hell gebacken
und von der Sonne heiß,
man hintenüberfallend aufgestiegen auferstiegen
in einem sommergoldenen Tanz?
Ihrer selbst
In diesem Jahr brach der Sommer alle Rekorde. Der Juni war so heiß und trocken wie noch nie zuvor. Der Himmel war immer blau, und jeden Tag stieg aufs Neue die Sonne auf. Gleißend und heiß, wie für die Unendlichkeit, konnte sie so gänzlich in einen hineinsinken. Nach einem schweren süßen Frühling, in dem alles Gras und Grün so üppig voll aus der Saat ins Kraut geschossen war, brach die Hitzeperiode herein, die Sonne brannte vom Himmel, und eine große Mattigkeit mit einer genauso großen Erschöpfung auf den Straßen senkte sich über die ganze Stadt. Auf den Straßenrändern verdorrten die Blumen im Gras, und auf den Feldern vor der Stadt stand das Getreide dürr und halbreif. Nachts schien es in den Häusern noch heißer und schwüler zu sein, man sehnte den Regen richtig herbei.
Den ganzen Juli über blieb der Himmel drückend blau, und die Menschen dieser Stadt zeigten sich mit in die Haut gebrannten Sonnenstichen auf den staubigen Straßen, wo die lasche Sommerlichkeit mit ihrer stumpf stehenden Hitze unerträglich lastete. Erst im August setzte der Regen ein, und es wurde schlagartig dunkler und kälter, mit einem blassen, vom Wind verwehten Himmel. Das Laub fiel von den Bäumen, und über dem Boden hing eine nebelverhangene Düsternis.
So verging der Sommer. Die Blumen schossen weiterhin in die Höhe und in die Breite und wuchsen in Hülle und Fülle. Letzte Vögel sangen im Gebüsch, aber nicht für Günter und nicht für Piotr, nicht für Susana und auch nicht für Felix. Für sie, so könnte man sagen, leuchtete der Mond wie eine fremde Sonne.
Draußen dunkelte es jetzt, dunkler, immer dunkler wurde es und kalt, und im Lampenlichterschein riss es das Laub vom Baum, und die Blumen hingen traurig welk mit ihren Köpfen im ausgehungerten Gras. Der ganze Tag war voll von durch die Lüfte wehenden, schwebenden, von durch die Lüfte fallenden Blättern.
In diesem Jahr fielen die ersten Herbstnebel bereits im September über die Stadt und hängten sich wie eine Schaumkaskade über den Fluss. Es roch nach Fäulnis, und über dem Wasser tief unten im Graben schwirrten immer noch schwarze Insektenschwärme. Aus dem Wald mit seinen schwarzen Nadeln und grünen Zapfen kam der rasselnde Ruf eines Vogels, oben hängte sich ein Stück müder Himmel auf und unten am Boden lagen die Wurzelknollen wie grausam verknöcherte Fingergelenke. Die Luft schwirrte noch von Fliegen, dunkel dahin taumelnde Insekten mit hängenden, pendelnden Beinen, fleischig und doch so federleicht.
Die Nächte waren warm für September und taghell vom Mond, der die meiste Zeit vom Himmel knallte und mit seinem grellgelbgrellen Licht die Straßen unter sich beschien. Es waren der Himmel, diese Nächte im September, diese letzten Feste, diese späten Feiertage.
Aber der September zeigte sich auch als schwarzer Monat. Vier Menschen starben unabhängig voneinander innerhalb weniger Tage und im Umkreis von nur wenigen Kilometern.
Sie starben allesamt von eigener Hand.
Günter oder
Der Flügeltanz
Angefangen hatte das alles damals, als er noch ein kleiner Junge war, in seinem Kindsein, da hatte es angefangen. Es hatte damals, in diesem Augenblick, tief unter seinen Augenlidern angefangen, denn dort unten saß er, dieser Blick in seinen Augen, mit dem alles seinen Lauf genommen hatte, denn schon damals saß sie dort, unter seinen Augenlidern, diese Verzweiflung, die ihn anstarrte, aus seinen Augen heraus, und die er sich später so sehnlich wegwünschte, mit einem verzweifelten Wunsch auf seinen purpurnen Lippen mit dem jungenhaften Flaum darauf. Schon damals war es für ihn zu spät zu leben, schon damals gab es für ihn diese tödliche Stille, die nachts an seine Fensterscheibe klopfte und an dunklen Wänden hochhüpfte und die er wie Zungenspitzen im Nacken spürte – ihn umschmeichelnd und liebkosend, ein verheißungsvoller Zauber.
Ein Flügeltanz.
Später dann hatte er sich fallen lassen, nachdem ihm die Tabletten im Hals stecken geblieben waren und ihm einen ungeheuerlichen Brechreiz verursacht hatten, einen Brechreiz auf das Leben. Er hatte sich fallen lassen, hatte sich fallen lassen aus diesem verdammten Fenster, das im vierten Stockwerk lag und das ihm alles versprach und alle Farbe erdrückte, als das Dunkle vom Himmel stürzte und alle Wolken mit sich riss. Und dort ein Seufzer, hängengeblieben in einer Ecke, ein Schluchzen, das gegen die Scheibe prallte – ein viel zu Müdes, ein viel zu Vieles mit viel zu viel Erregung in der Luft, sie nagte zu sehr an seiner Haut.
An jenem Abend in diesem September aber, da erwachten die Silhouetten der Stadt wieder einmal so müde und matt wie so oft zuvor im fahlen Schein der Abenddämmerung, und immer mehr entfernte sich das Tageslicht, bis sich die Häuser in der grauen Dämmerung verloren und die Schleier, die durch die Fensterscheibe fielen, vom Grau ins Schwarze wechselten. Eine laue Septembernacht hing über der Stadt.
In der Dunkelheit schlichen die Stunden dumpf und träge dahin, während sich draußen eine unheimliche Finsternis über die Straßen spannte. Irgendwo schwirrte noch ein kleines Insekt, ein kurzes Surren, dann nichts mehr. Kein Ton war mehr zu hören in dieser Stille, die bedrohlich war. Und hinter dünnen Wolken stand der Mond, stumpfgrau und fahl, ein schwerer Schatten, der aus dem Nichts herauszukriechen schien und vor dem sich ein uralter Baum in die Nacht hinein erhob. Er sah bedrohlich aus mit seinem knorrigen Stamm voller Furchen und Risse, und die Luft um ihn herum schwamm in Nebeln, die wie dünne Schatten einen Walzer tanzten, die wie dünne Schatten einen Wiener Walzer tanzten, während trübe Luft vom Boden aufstieg und sich mit der Dunkelheit zu einer verzerrten Fratze vermischte. Langsam und leise pirschte sich diese Fratze der Dunkelheit an Günter heran, der wie betäubt in die Finsternis starrte, in dieses furchtbare Grauen, bei dem er sich so verlassen, so alleingelassen fühlte, bis sich das schwarze Loch der Nacht endgültig über die Stadt ausbreitete. In diesem Moment war Günters Gesicht so grau und leer wie seine Zukunft, und der Blick in seinen verhangenen Augen war ein dunkler. Es war der Blick eines Verzweifelten, eines zutiefst gebrochenen Menschen. Günter schaute in das Dunkel, blickte direkt in den Rachen dieses schwarzen Grauens, das ihn umgab, doch der Himmel dieser Nacht starrte ihn nur an, tat ihm nicht mehr weh. Dann trat Günter ans Fenster und sah, wie die Umrisse der Häuser aus den dunklen Schatten hervortraten. Lange schaute er diese Gemäuer an, die vergeblich der Nacht trotzten, bevor sie im Sog der Dunkelheit allmählich verschwanden.
Verletzt und von großem Schmerz erfüllt dachte Günter, als er am Fenster stand, daran, dass es, seit er Janka nun zum ersten Mal nach Jahren wieder zufällig auf der Straße gesehen hatte, so war, als habe er selbst keinen eigenen Willen mehr. Er spürte, dass er sie tief in seinem Herzen immer noch liebte. Er war betäubt in einem Wirbel sinnlicher Verwirrungen. Und er verzehrte sich nach ihr. Sie jedoch hatte ihn unmissverständlich zurückgewiesen, auch dann noch, als er ihr sein Herz zu Füßen legte. Tief in seinem Inneren fühlte er nun sein Wesen wie eine verschmutzte Wunde, die nicht mehr heilen konnte. Er fühlte sich ratlos und hilflos, er fühlte sich zutiefst verloren, und sein Leben kam ihm so trostlos und unsinnig, vor allem aber so durch und durch verlogen vor.
Als Kinder, da waren sie wie Bruder und Schwester gewesen, Günter und Janka, das Mädchen, deren Großeltern Emigranten aus Bulgarien waren. Und als sich Jankas Eltern trennten, da schwörten sie sich ewige Freundschaft, wollten immer füreinander da sein, Mädchen und Junge, und als Freundin und Freund berührten sie mit der rechten Hand das Herz des anderen. Die hübsche und so schlanke Janni, wie er sie früher nannte, im viel zu engen T-Shirt, die immer bei ihm war – sie berührte ohne Weiteres mit ihrer schmalen zarten Hand sein viel zu empfindsames Herz. Vieles war so viel einfacher früher, heute war vieles so viel schwieriger geworden, komplizierter, funktionierte nicht mehr so einfach wie früher. Und dennoch waren sie später dann immer noch wie Bruder und Schwester, wenngleich inzwischen ein durch und durch inzestuöses Geschwisterpaar.
Plötzlich wurde Günter aus seinen Gedanken gerissen, und er merkte, dass er trotz der Wärme im Raum am ganzen Körper fröstelte. Der Boden, auf dem er stand, war kalt, und er spürte auch eine Kälte in der Luft, die unnatürlich war für diese Jahreszeit. Wie scharfes Gift schoss ihm die Kälte in den Kopf, verteilte sich in seinem Körper und bereitete ihm einen stechenden Schmerz. Und am Himmel blickte der Mond zwischen zerrissenen Wolken hervor, warf einsam sein schales Licht in die nachtschwarze Finsternis und verklärte mit seinem blassen Schimmer die ganze Umgebung. Die nächtliche Stadt mit ihren schwarzen Schatten hatte etwas Gespenstisches. Günter schauderte, und eine sonderbare, fieberhafte Unruhe füllte nicht nur das Zimmer, sondern auch seinen ganzen Körper aus. Gedankenfetzen schlichen sich in seinen Kopf und blieben dort hängen. Wie Blut gespuckt.
Er wollte hinaus aus diesem Zimmer, fort von dieser Stadt und weg von diesem Ort, der so bitter schmerzhaft alle nur erdenklichen Gefühle in sich vereinte. Er musste fort, fort von diesen Dingen, die ihn an so vieles erinnerten, fort von diesen Menschen in dieser Stadt, die er beneidete, da sie nur Angst vor dem Tod hatten, während er sich vor dem Leben fürchtete, das er nicht mehr länger ertragen konnte, weil es einsam machte. Ein zwingendes Gefühl trieb ihn vorwärts und jagte ihn durch das Zimmer, ein zwanghafter, ein unbezwingbarer Drang. Kalten Atem keuchend lief er durch den Raum, riss Schubladen auf und schlug sie wieder zu, starrte auf das Mobiltelefon auf der Kommode und beschloss, es doch nicht zu verwenden. Schweißgebadet zog er weiter seine rasenden Runden, immer wieder und immer mehr, bis er vor einem Fenster endlich wieder zum Stehen kam. Hastig öffnete er es und sah tief unten den dunkelgrauen Fleck Beton vorm Haus, der ihn plötzlich sanft und friedlich stimmte und eine richtige Attraktion für ihn war, ein unwiderstehlicher Kitzel, bei dem ihm schwindelte. Die Versuchung war enorm und die Begierde unersättlich. Günter war fasziniert von diesem dunklen Loch, das sich vor ihm auftat und aus dem eine Melodie traurig und ernst in die Nacht hineintönte. Aber nur Günter konnte diese Musik hören, sie spielte sozusagen nur für ihn ein letztes Stück. Verzweiflung und Einsamkeit waren das Ergebnis, denn die schweren Takte füllten sich mit Angst, Unheil und Schmerz, bis alle Töne in seinem einsamen und verlassenen Herzen erstarben und nur noch eine Ahnung von dieser Musik zurückblieb. Und ein aussichtsloser Wunsch drängte sich ihm auf: Janka, seine Janni, seine Janka – nur noch ein Mal ihren Atem haben, nur noch ein einziges Mal ihre Ruhe spüren. Es wäre so friedlich.
Es war ein zu einsamer Wunsch.
Vorsichtig kletterte Günter auf das Fensterbrett. Die schroffen Kanten der Hausmauer und die seltsame Stille der sonst so belebten Stadt hatten etwas Lustvolles, das er begehrte, und mit einem Mal fühlte er sich unendlich frei, frei von allen Zwängen, die ihn so lange nicht leben ließen, die ihn ein ganzes Leben lang nicht leben ließen – sein Leben lang. In diesem Moment lag die Zeit in eisernen Ketten.
Mondheller Schein fiel auf den Boden, und Erinnerungen donnerten in Günter wirr gegeneinander und durchzuckten seinen Kopf beißend und brennend. Atemerschöpft riss er seine Augen auf, und für einen kurzen Augenblick hatte er das Gefühl, wesenlosen Schmutz in sich zu spüren. Sauer und heiß begann es, in ihm zu wühlen, in ihm zu stechen und den Ekel der vergangenen Tage aufzustoßen, und er fühlte sich völlig schwerelos, körperfremd und vom Leben eingeengt. Der dunkle Himmel über ihm war voller Schatten mit einem Wind, der sich durch die Lüfte in die Nacht erhob. Es war nur ein einziger zwischen den stillen Häusern erstickter Klagelaut aus Günters von all den unerfüllten Wünschen abgeschnürter Kehle zu hören, dann war alles still.
Es war wie der Abgesang einer griechischen Tragödie im Wiener-Walzer-Takt.
Ein kurzer Hauch von Hoffnung überkam Günter, als er so im offenen Fenster stand. Er streckte seine Arme aus, als wolle er sich dadurch Flügel geben. Er starrte in die Tiefe, sein Geist schien in eine leere, unwirkliche Nacht versunken. Nur noch ein kleiner Schritt, dann – –
Und in dem Moment, in diesem endlos langen Augenblick vor dem Fall, spürte er sich zum ersten Mal, er spürte sich ganz und gar, denn jetzt war er nicht mehr länger profillos und unscheinbar, sondern seltsam mächtig und stolz.
Kurz darauf streiften, als er so am Fensterbrett stand, die nackten Zehen seines rechten Fußes die Ferse seines linken, verschlangen sich ineinander und wurden im Sprung eins. Was ihn dann umfing, war wie ein weltweites Lachen und Weinen, das ihn davontrug, durch die Lüfte trug, als er plötzlich Janka vor sich sah. Eine reizende junge Frau mit dunklen Locken und leuchtenden Augen über schmalen Lippen, eine Schönheit, die aus dem Mond zu klettern schien. Doch es fehlte ihr der Schatten, sie hatte keinen Atem mehr. Aber sie war schön, so unsagbar schön mit ihrer weißen Haut und den langen zarten Fingern, die ihm, Günter, zuwinkten, ihn greifen wollten. Aber keine Menschenhand bot sich ihm an, es war die Sehnsucht selbst, die seine Brust und seine Schenkel streifte.
Mit einer beinahe schmerzlichen Deutlichkeit nahm er Janka als eine Frau wahr, als seine Frau, denn sie kam ihm so unerträglich schön und vollkommen vor. Er erkannte sie jedoch nicht, denn sie war kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern nur die Hülle seiner Sehnsucht. In der Hand hielt sie mit ihren weißen Fingern eine kleine schwarze Blume fest umklammert, und die Erde schimmerte unter ihren Füßen. Doch dort unten, auf dem Boden, lagen schon so viele tote Fliegen, mit Sand auf ihren zart geäderten Flügeln. Janka winkte Günter verheißungsvoll zu. Sie blickte ihn an, und er sah, als er in ihre braunen Augen schaute, etwas beängstigend Zeitloses darin. Ein Licht brannte in diesen Augen, als würde das Helle darin ihn zu einem Flügeltanz einladen, mit all den dort verborgenen langen Gedanken. Und Günter nahm die Einladung freudig an, denn nun hatte er alles Licht hinter sich.
Günter stürzte sich aus dem Fenster, das im vierten Stockwerk lag, er ließ sich in diese alles verheißende, in diese alles versprechende Tiefe fallen, die ihn so freundlich aufnahm, bis ihn schließlich nur mehr eine langsam anschwellende, eine beklemmend tote Stille umgab.
Und noch während sein Pulsschlag ein letztes Mal durch seinen Körper donnerte, verwischte draußen der Mond den Schatten der Nacht, und Sterne klebten plötzlich in der nächtlichen Schwärze.
Piotr oder
Die Wegverzehrung
Später dann, an einem anderen Ort und an einem Tag irgendwann in dieser Zeit im September, öffnete Piotr mit dem silbernen Flaschenöffner ein weiteres Bier. Nicht weit von ihm entfernt hatte an diesem Nachmittag Günters Beerdigung stattgefunden. Aber das wusste er nicht, denn Piotr und Günter waren sich völlig unbekannt gewesen. Es war ein sonniger Tag mit einem hohen hellen Himmel gewesen, und kein Wind war in der Luft.
Etwas Melancholisches, eine beinahe greifbare Traurigkeit ging von Piotr aus, als er dabei zusah, wie sich am Rand einer schleimigen Pfütze auf seinem Schreibtisch eine blau schillernde Fliege abmühte und zappelnd und zuckend in die pappige Mitte hineintrieb. Ein winziger, blau schimmernder Fleck, der zu pulsieren schien, während die Fliege vergeblich um ihr Leben kämpfte. Sie scheiterte hoffnungslos daran. Es überkam Piotr ein geradezu unheimlicher Drang, diesem hämmernden und zum Scheitern verurteilten Punkt in der schleimigen Substanz mit seinen Blicken zu folgen, unfähig, dem Insekt zu helfen, bis dieses an der Oberfläche der zähen Flüssigkeit ein letztes Mal zuckte und dann nur mehr reglos dahintrieb.
Piotr wusste es, er hatte vermutlich wieder einmal zu viel getrunken, zu wenig geschlafen, das tat er immer, wenn er Kummer hatte. Und besonders in letzter Zeit. Langsam nippte er am Hals seiner Bierflasche und konnte doch nur auf die tote Fliege starren, die mit ihren ausgebreiteten, zart vernetzten Flügeln über sein verschüttetes Bier trieb.
Er konnte nur staunen über die fein geäderten Flügel der Fliege, über die beinahe schmerzhafte Schönheit des Insektes. Er konnte nur staunen und empfand doch nichts dabei. Die Kaltblütigkeit seiner Gefühle lähmte ihn, und abrupt griff er nach einer neuen Bierflasche auf der Kommode hinter dem Schreibtisch. Sein blassgelbes Gesicht verzog sich krampfartig, als er sich zu entspannen versuchte.
Draußen betätigte jemand die Haustür, die daraufhin unsanft ins Türschloss fiel. Ein paar rasche Schritte, dann Stille. Hin und wieder hörte er noch ein Auto starten, ab und zu einen Betrunkenen johlen oder das Klacken von Stöckelschuhen am Asphalt. Sonst war nichts zu hören von diesem Leben draußen auf der Straße in dieser jungen Nacht. Scheinbar friedlich lag die Stadt im zunehmenden Zwielicht, das die Häuser in eine scharfkantige Klarheit tauchte. Die Geräusche wie ein dumpfer Schmerz, ein Halbkreis aus Gefühlen.
Benommen ging Piotr zum Fenster und öffnete es. Frische Luft drang herein, eine kalte, einsame Luft, und er stand nur da und wartete auf eine Rettung, die doch nicht kam. Jeder Atemzug schmerzte ihn bis in die Brust, doch er bemerkte es kaum. Von der Straße unten stieg tauber Nebel auf, dumpf und klagend wie ein sonderbar stiller Gruß.
Nach und nach breitete die Nacht ihre erbarmungslose Schwärze in Piotrs Zimmer aus. Er konnte die Umrisse der Gegenstände in seinem Zimmer gerade noch erkennen und auch den Tisch, auf dem in einer schleimigen Pfütze neben seiner umgekippten Bierflasche die Fliege mit ihren ausgebreiteten, zart vernetzten Flügeln immer noch still und tot dahintrieb, wenn der kalte Wind einen kurzen Luftzug durchs offene Fenster ließ. Ohne viel zu sehen, blieb sein Blick an der Stelle haften, wo er das verschüttete Bier und die tote Fliege vermutete. Betreten starrte er diesen Fleck auf seinem Schreibtisch an, während er um sich nur diese Stille hörte, diese eine Stille, die sich wie ein Seil immer fester um ihn schloss und ihn fast erwürgte. Und es kam ihm fast so vor, als würden sich die Wände immer enger um ihn schließen. Es kam ihm vor wie in einem Verließ.
Abrupt sprang er auf und hastete durchs Zimmer, zog seine wahnsinnigen Runden und grinste dabei wie ein Totenschädel.
Er fischte nach seiner Jacke und rannte aus der Wohnung, stürmte aus dem Haus auf die Straße in die stille Nacht hinein. Von einem unerklärbaren Zwang getrieben, lief er durch die Stadt, rannte durch die Nacht, dem Bahnhof entgegen und kam vor einem Wirtshaus zum Stehen. Ihm war, als liefe er im Stehen um sein Leben.
Sein Schatten versank in der Dunkelheit und wurde im matten Licht einer Laterne auf die schwach beleuchtete Hauswand zurückgeworfen. Seine Augen waren dunkel und brennend in ihren Höhlen versunken, von Wolken verhüllt.
Er konnte die Beklommenheit spüren, die an Panik grenzte, und blickte zum Himmel, wo der Mond grundlos in der Schwärze hing. Mit einem heftigen Ruck stieß er die Tür der Schenke auf und fand sich plötzlich in einem luftleeren Raum, in einer dichten Hülle aus schwerem Vakuum, eingeschlossen in seinem Verderben wie in einem Sarg. Mit aller Kraft versuchte er zu atmen, rang nach Luft, sog sie in sich hinein und sah sich um in diesem Raum, wo ein paar Säufer mit Schnapsgläsern an der Theke hingen und wo sich um ihn herum ein Krach und ein Gelärme erhob, das auch durch den Qualm der Zigaretten, der dick und zäh über den Köpfen hing, nicht gedämpft werden konnte. Neben sich hörte Piotr Stimmen, er achtete nicht darauf. Er bestellte ein schnelles Bier auf Polnisch, das passierte ihm immer, wenn er aufgeregt war, dann sprach er die Sprache seiner Kindheit in Warschau. Als das Bier vor ihm stand, leerte er es in vier, fünf Zügen, dann zahlte er und machte sich auf den Weg zum Bahnhof, der zu dieser Zeit fast menschenleer war. Am Schalter löste er eine Fahrkarte und ging durch die Halle zum Bahnsteig, ohne zu wissen, was er hier eigentlich wollte. Nervös kramte er in seiner Jackentasche herum, dann hatten sich endlich die Zigaretten gefunden. Er zog eine aus der Packung heraus und rauchte sie mit hastigen Zügen, verschlang sie fast. Die beißende Kälte fiel über ihn, und eine plötzlich auftretende Übelkeit ließ ihn aufs Neue erstarren, als sie seinen Körper mit dieser sauer schmeckenden, mit dieser würgenden Flüssigkeit ausfüllte. Und die Tauben, die von Schmutz und Dreck erzählten, vom Kot der Straßen einer unruhigen, tödlichen Stadt, flatterten immer noch rastlos im grellen Licht der Lampen um verstreute Brotkrumen herum.
In einem dunklen Winkel sah Piotr eine alte Frau auf dem Boden sitzen, eine Bettlerin, die Sommer wie Winter vermutlich immer in ihre gleichen Tücher und Fetzen gehüllt war, die knochigen Hände, die sie zum Betteln verurteilten, mit Fingernägeln, die so gelb und dick wie Hufe waren, eng an den Körper gepresst, um nicht zu frieren. Ihr Gesicht war alt und zerfurcht, mit einer böse verkrusteten Narbe auf der rechten Wange, wo eigentlich keine Wange mehr war, sondern nur noch Haut und Knochen. Ihre Augen, so vermutete Piotr, hatten jeden Glanz wahrscheinlich schon vor Jahren verloren, und ihre Lippen waren voller Falten von den vielen unausgesprochenen Worten. Ihre ganze Gestalt hatte etwas Schreckliches, weil Abstoßendes, dem man distanziert begegnet, heute wie morgen wie vor hundert Jahren schon: Man will nichts zu tun haben mit dem sichtbaren Elend auf der Straße, man wendet sich ab. Und genau das machte auch Piotr, er wandte sich ab, hatte mit sich selbst zu tun. Mit fest zusammengezurrten Lippen zog die Alte an einem Zigarettenstummel, den jemand achtlos weggeworfen hatte. Bei jedem Zug zitterten ihre dürren Finger.
Mitunter wird sie auch Leute ansprechen, die an ihr vorbeigehen, dachte Piotr, diese wird sie dann um Geld anbetteln, aber die meisten werden nur weiter an ihr vorbeigehen, weil sie es eilig haben und schließlich auch nach Hause wollen.
Auch Piotr hatte es eilig, aber wenn er sich nur einmal noch nach ihr umgedreht hätte, hätte er bemerkt, dass sie verschwunden war.
Dies war der erste Bruchteil eines toten Augenblickes.
Pfeifend und dröhnend rollte endlich der Zug an und blieb stehen. Piotr kletterte in ein Abteil und war froh, von hier wegzukommen. Dann fuhr der Zug ab, und Piotr lehnte am offenen Fenster, der Fahrtwind schlug hart gegen sein Gesicht. Die Luft rauschte in seinen Ohren.
Er trippelte von einem Bein auf das andere, die Hände tief in seine Jackentaschen vergraben, während ihm die klirrende Kälte erbarmungslos ins Gesicht peitschte, bis der Zug rasselnd und quietschend in den nächsten Bahnhof einfuhr und bremste, was in seinen Ohren klang wie ein beruhigendes Versprechen. Piotr stieg aus dem Zug und ging den Bahnsteig entlang. Ziellos schlenderte er dahin, während der Wind mit Eisfingern nach ihm griff, als ihn eine todbringende, eine verderbliche Einsamkeit umfing – ein scharfer Splitter in seiner Haut.
In tiefen Zügen holte er Luft, schneidend kalte Luft, und bangte um sein Leben, bangte im Schatten seiner Seele und verzweifelte fast daran. Nie wollte er sich dem Leben anderer anpassen, sich nie von ihnen einschränken lassen, er wollte ein Meister der Tarnung, der Verheimlichung sein. Held und Antiheld zugleich. Er wollte den Blicken der anderen ausweichen, diesem rot-weiß-rot gestreiften Verhör, und konnte doch nur staunen über ihr Heucheln und Lügen und über das gemeinschaftliche Grinsen hinter ihren Lippen.
Früher, noch vor seiner Depression oder Krise, war er ein stiller, sanfter, ein zutiefst ahnungsloser und unschuldiger junger Mann gewesen, ein unglaublich unverdorbener junger Mensch, der unbefangen in die Welt schauen konnte mit seinen klugen Augen, aus denen dann ein ganz besonderer unbewusster Augenstrahlenglanz blickte. Das sagte zumindest René, sein Geliebter, sein Ein, sein Alles, das dieser damals für ihn war. Mit René war er das erste und vielleicht auch letzte Mal so richtig glücklich im Leben gewesen, mit so einem Gefühl dabei, wenn einem vor Glück in der Seele das Herz überschäumt und einem ganz unvermittelt die Tränen in die Augen schießen, die dann ja doch nicht fließen, weil der Grund dafür, nämlich das Glück in der Seele, ein schöner ist. Aber wenn er dann doch weinte, was manchmal vorkam, wirkten die Tränen, so sagte ihm René, nicht entstellend auf seinem Gesicht, sondern waren nur das sichtbare und unsichtbare Zeichen einer großen Verletzlichkeit.
Der kostenlose Auszug ist beendet.