Drakula gegen Dracula

Text
Autor:
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Drakula gegen Dracula
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Andre Lux

DRAKULA GEGEN DRACULA

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

ISBN 9783957446633

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung und Danksagungen

KAPITEL 0

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

EPILOG

Dieses Buch ist Dr. Uwe Boll gewidmet:

»Schreib lieber mal ein Buch, Andre.

Die Film Industry ist over.«

Ein Dank für große Unterstützung gilt Andrea Lorenz,

Bernd Jäger, Stefanie Dürr (Lesen), Ralph Ulrich

(Soundtrack) und Marcel Richard (Malen und Basteln).

KAPITEL 0

Die dunkle Straße lag vor ihm. Doch bereits seit Stunden konnte Rüdiger Fitzgerald nicht mehr erkennen als seine fahlen Scheinwerfer, welche immer blasser zu werden schienen. Sein konzentrierter Blick über das Lenkrad verkrampfte immer mehr. Es war schon spät, aber wenn Mr. Fitzgerald für eine Sache bekannt war, dann dafür, dass er pünktlich ablieferte, und er hatte bereits den kompletten Vormittag an seinem Laptop in einem modrigen Motelzimmer vertrödelt. Für Recherchen, dachte er bei sich. Doch tatsächlich vergeudete er nur Zeit damit, sich billige Amateurvideos von Unfällen mit ferngesteuerten Helikoptern anzuschauen und nach einer eigens entwickelten Liste auszuwerten.

Sein richtiger Job war ihm mittlerweile ein Grauen und nur noch Mittel zum Zweck, um monatlich wenigstens halbwegs überleben zu können: Journalist. Zudem: Journalist für ein Fachmagazin, das schon seit Jahren niemanden mehr interessierte, »Wohnen – Reich und Schön«. Statusberichte der Lebenssituationen von prominenten Persönlichkeiten. Morgen sollte er eine seiner üblichen Geschichten abliefern, die in Form von Interviews den Weg ins Heft fanden.

Fitzgerald trat aufs Gas und drehte das Radio an: „Its alright“ von Paul Stanley bretterte aus den Boxen. Die kühle Luft aus dem Spalt des Fahrerfensters hielt ihn wach. »Was für eine Scheiße«, sagte Rüdiger Fitzgerald zu sich selbst. »Was für eine verfickte Scheiße«. Zwischendurch pfiff er die Melodien der alten Classic Rock-Gassenhauer, die aus dem Radio knarzten, mehr oder weniger fehlerfrei mit.

Die Nadel seiner Tankanzeige hatte Fitzgerald schon lange nicht mehr im Auge gehabt und so erschrak er kurz, als er bemerkte, dass das Reservesymbol aufleuchtete. Mitten in dieser Gegend um kurz vor elf noch eine Tankstelle auftun? Das schien fast unmöglich. Zudem sollte er doch relativ zeitnah bei seinem Gastgeber aufkreuzen. Vor Nervosität fing der junge Mann an zu schwitzen und legte den grünen Sonnenhut, den er immer auf seinem Kopf trug und der ihn eher selten irritierte, auf den Nebensitz. Aufgeregt und mit feuchten Händen fuhr er sich durch das blondierte, kurze Haar. Aus dem Handschuhfach holte er eine Packung Zigaretten hervor und steckte sich eine an. Er sog den Rauch ein und summte weiterhin die Melodien der Radiosongs mit. Mit jedem Zug bemerkte er, wie seine Konzentration langsam nachließ. Nervenschwach rieb er sich das unrasierte Gesicht.

Kurz nachdem ihn ein Sekundenschlaf übermannte, schreckte Fitzgerald auf. Eine Leuchtreklame strahlte ihm aus etwa drei Kilometern entgegen. »Endlich!« Er lächelte, schaltete einen Gang herunter und machte sich bereit, seinen Chevrolet Trailblazer an der nahenden Tankstelle zumindest bis zur Hälfte aufzufüllen. Gerade so viel, dass er noch in der Nacht sein Ziel erreichen konnte. »GAS 24H«, sagte das hell erleuchtete Schild. Das G des Schriftzuges zuckte.

Der junge Mann Ende zwanzig fuhr den SUV ruhig an die erste Zapfsäule und stieg aus. »Verdammtes Idaho. Ich hasse es«, murmelte er, während ihm der kalte Herbstwind ins Gesicht peitschte. Der Regen hatte ihn bereits nach wenigen Sekunden völlig durchnässt. Um Fitzgerald herum war es stockfinster und er benötigte einige Augenblicke, um sich zu orientieren.

Langsamen Schrittes ging er auf das Tankstellenhäuschen zu. Drinnen brannte schwaches Licht. »Hallo? Ich hätte gerne Sprit auf Pumpe 3. Ich zahle cash.« Fitzgeralds Weg führte ihn an die Kasse. Im Häuschen schien sich derzeit niemand aufzuhalten. »Hallo?« Er schaute sich um. Außer einem Flipperautomaten und einem gerahmten Bild von Kylie Minogue befand sich keinerlei Interieur in der alten Baracke. »Ich brauche dringend Benzin!«, rief Rüdiger Fitzgerald laut, um seinen Wunsch noch einmal deutlicher zu äußern.

Er bemerkte nicht die Gestalt, die sich aus dem Schatten hinter ihm herausschälte. »Was möchten Sie?«

Fitzgerald erschrak und zeigte dies mit einem lauten Keuchen. »Sprit, Mister. Ich benötige Sprit.« Er hielt dem Fremden nun doch seine Kreditkarte ins Gesicht.

»Welche Zapfsäule?« Der Fremde sprach mit einer eigenartig klingenden, heiseren Fistelstimme, so, als habe er nur wenige Minuten zuvor eine lange Operette singen müssen. Er ging an Fitzgerald vorbei hinter die Theke, nahm die Kreditkarte und zog sie durch das dafür vorgesehene Gerät. Rüdiger Fitzgerald wartete ungeduldig, bis der Mann mit der Prozedur fertig war.

»Echt ein Sauwetter, was? Ist das hier immer so? Ich meine, ich bin nicht von hier und zum ersten Mal überhaupt im Staate Idaho.«

»Ja. Ist immer so. Aber was soll man machen. Man kann das Wetter ja nicht wegwichsen, oder?«

Fitzgerald unterdrückte ein hysterisches Lachen.

»Wie viel wollen Sie denn?« Der fremde Mann hielt sich weiterhin im Dunkeln; es war unmöglich, außer seinen Konturen etwas anderes von ihm zu erkennen.

»So, dass es bis oben auf den Berg reicht. Ich denke, dreißig sollten reichen!«

Plötzlich hielt der Mann inne. Seine Silhouette wirkte nun noch merkwürdiger und bedrohlicher als zuvor. »Auf den Berg? Also auf das Drake-Anwesen?« Er rieb die Kreditkarte aufgeregt zwischen seinen Fingern.

»Ja. Ich habe heute Nacht noch ein Interview mit Mister Drake.«

Der Fremde tippte zittrig auf den Tasten seiner Kasse. Dabei atmete er überdurchschnittlich stark und Fitzgerald hatte das Gefühl, als würde der Mann nicht auf sein Gerät, sondern direkt in sein Gesicht starren. Augen konnte er dennoch nicht an der dunklen Erscheinung ausmachen, die ihm mit ihrer Aktion gerade das sowieso schon stark strapazierte Kreditkartenkonto belastete. »Ich würde Mister Drake nicht besuchen gehen. Man erzählt sich, er sei ein Arschloch«, schnaubte er ungefragt in die Richtung des jungen Journalisten, dessen müde Augen von tiefschwarzen Ringen umschlossen wurden.

Fitzgerald wischte sich die nassen Hände an seinem violetten Polohemd ab und hob seinen rechten Zeigefinger: »Ich hatte auch Besseres vor heute. Aber das ist nun mal mein Job. Es geht um Prominente und ihre unkonventionellen Lebens- und Wohnsituationen. Da Mister Drake sich schon seit Jahren in dieses komische Gruselschloss eingemietet hat, bot sich ein Bericht darüber eben an. Und so schickten sie mich den ganzen Weg von Louisville hierher.« In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass der Mann wohl die einzige Person war, mit der er sich in den letzten zwölf Stunden unterhalten hatte.

 

»Dann gehen Sie doch wenigstens tagsüber da hoch.« Die Stimme des fremden Mannes wurde bestimmter. Er zog die Quittung aus der Kasse und legte sie auf den Tresen.

»Nein, ich mach das heute noch. Ich will morgen wieder zurück nach Hause fahren. Es ist ein Mehrtagestrip von hier bis Kentucky. Danke schon mal. Ohne ihre Tankstelle hätte ich wohl im Graben übernachten müssen.«

Fitzgerald steckte seine Kreditkarte ein und verließ das kleine Tankstellenhäuschen. Der fremde Mann blickte ihm vom Tresen aus nach.

Wieder auf dem Highway ärgerte sich Fitzgerald über die Tatsache, dass er dem Mann keine Fragen zu dessen merkwürdiger Reaktion gestellt hatte, und darüber, dass er sich nicht noch einen Kaffee mitgenommen hatte, denn die Fahrt kam ihm jetzt noch fordernder vor, als es bereits vor seinem Tankstellenbesuch der Fall gewesen war. Das Navigationsgerät gab ihm die Information, dass es noch zwanzig Minuten bis zum Erreichen des Anwesens von Drake dauern sollte. Was die sowieso schon unangenehme Lage noch erschwerte, war die Tatsache, dass Fitzgerald vergessen hatte, an der Tankstelle noch einmal die Örtlichkeiten aufzusuchen. Unter stechendem Druck öffnete er seinen Gürtel und den obersten Knopf seiner Jeans.

KAPITEL 1

Rüdiger Fitzgerald sah sich noch etwas um, bevor er die steilen Treppen zum Anwesen bestieg. Es machte sich leichtes Unbehagen in seinem Körper breit, denn das Schloss erhob sich vor ihm wie ein schwarzes, monströses Ungetüm aus der Dunkelheit. Es war von Nebel umgeben und löste beim bloßen Betrachten sofortige Beklemmung im Innern des Journalisten aus. Auf den ersten Blick erschien ihm das Schloss viel zu alt für die allgemein noch recht junge nordamerikanische Architektur. Fehl am Platz und doch passend eingebettet in die Umgebung, die aus hohen Bäumen und Hügeln bestand. Fast wie ein kitschiges Ölgemälde, welches nur dazu diente, seinen Betrachtern kalte Schauer über den Rücken zu jagen.

Mit jedem Schritt, den er dem Gebäude näher kam, stieg ihm immer mehr ein beißender Modergeruch in die Nase. Er wollte das Ganze aber so schnell wie möglich hinter sich bringen. Wütend dachte er an das Wrestling Match, welches er heute Abend hätte schauen können. Fitzgerald zog sein Smartphone hervor, um den Ausgang des Sportevents zu überprüfen, da hörte er ein lautes Husten aus dem Gebüsch, welches sich am rechten Rand der Treppe entlangzog. Erschrocken stopfte er das Gerät zurück in seine Tasche, um dem Geräusch nachzugehen. »Hey? Was ist los?« Fitzgerald rief in die unbestimmte Finsternis hinaus. »Mister … äh … Drake?!«

Er entdeckte einen kleinen Feldweg, welcher von den Treppen wegführte, aber ebenfalls in Richtung Schloss verlief. Seine Schritte wurden langsamer, denn Fitzgerald hatte nun fürchterliche Angst. Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, dass ich genau heute Nacht Angst vor dem Tod bekomme, dachte er bei sich.

Doch urplötzlich spürte er eine enorme Veränderung seines emotionalen Zustandes. Fitzgerald zitterte, als er den schmalen Weg im immer größer werdenden Nichts entlangging. Die Kälte und der klamme Wind taten ihr Übriges. Die Dunkelheit kam ihm auf einmal noch schwärzer vor und der Geruch von Fäulnis war nicht mehr zu ignorieren, selbst, als er sich die Nase zuhielt.

Während er den Feldweg vorsichtig voranschritt und die Äste unter seinen Füßen knacken hörte, kam ihm jede Sekunde wie eine Ewigkeit vor. Die Neugierde trieb ihn dennoch immer weiter vom vorgesehenen Weg zum Eingang des Drake-Anwesens ab. Hinter Fitzgerald wurde es dunkler und dunkler. Fast vergaß er, warum er überhaupt diesen Umweg gewählt hatte, denn außer dem lauten Husten hatte er seit Minuten kein weiteres, bedeutsames Geräusch vernommen. Rüdiger verspürte leichten Schwindel, der Gestank wurde mittlerweile so stark, dass er glaubte, jemand würde ihm in diesem Moment einen vergammelten, alten Wellensittich direkt in die Nase schieben.

Endlich änderte sich etwas in seinem Blickfeld. Er nahm ein trübes Leuchten vor seinen Augen wahr. »Hey, sind Sie vielleicht … hallo?« Rüdiger Fitzgeralds Stimme zitterte. »Warum sind Sie noch draußen? Ich meine, es ist schon spät und gerade läuft auf CNN …«

Plötzlich spürte er ein feuchtes, kaltes, sämiges Etwas auf seine rechte Schulter fallen und zuckte zusammen. Im selben Moment vernahm er eine Stimme vor sich: »Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Die Worte klangen für Fitzgerald wie durch einen Kaffeefilter gesprochen. Mit der linken Hand wischte er den unbekannten, glibberigen Gegenstand von seiner Schulter.

»Sind Sie möglicherweise Rüdiger Fitzgerald, der Mann vom Magazin?«

Die Stimme wurde klarer und Fitzgerald leuchtete mit seinem Smartphone in ihre Richtung. Innerlich ärgerte er sich, dass er auf diese Idee nicht schon bereits beim Begehen des Weges gekommen war. »Sie sind Mister Drake? Genau, ich komme vom Magazin für den Schlossbericht. Sie meinten, Sie hätten auch einen Pennplatz für mich …«

Eine dunkle Gestalt baute sich vor dem jungen Journalisten auf. Der Schatten kannte fast kein Ende. »Richtig, lassen Sie uns gemeinsam hineingehen, dann zeige ich Ihnen schon mal etwas vom Schloss.«

Aufgrund der schaurigen Art und Weise, wie Mister Drake seine Worte formte, fuhr es Fitzgerald noch einmal zusätzlich durch die Glieder. Vor lauter Furcht fiel ihm beinahe das Schinkenhörnchen aus der Hand, welches er vor lauter Schreck aus seiner Tasche gezogen hatte. Er verspürte dennoch ein bisschen Erleichterung, als er dem Mann, der sich als Mister Drake persönlich herausstellte, in vorsichtigem Gang folgte.

Wieder musste er den verdammten Trampelpfad zurück, den er gerade erst gekommen war. Jeder Ast, jeder Stein kam ihm nun noch einmal doppelt so ätzend vor wie beim vorherigen Mal. Eine wahre Tortur. Die erstaunlich breit gebaute Gestalt vor ihm machte keine Anstalten, ein Gespräch führen zu wollen. Er hörte nur lautes Schnauben und hin und wieder ein leises Fluchen ob des komplizierten und anstrengenden Weges, den die beiden zurücklegten. Genervt von den Geräuschen des Mannes setzte Fitzgerald seine Kopfhörer auf, um sich noch ein wenig den Klängen von 80er Thrash-Metal-Bands zu widmen.

»Dies hier ist mein Flurbereich, Sie können gerne Fotos machen, Herr Fitzgerald.« Mister Drake machte eine präsentierende Armbewegung.

Äußerlich wirkte der Mann nicht wie einer, der schon seit vielen Jahrzehnten in einem alten Schloss wohnte. Mit seinem schwarzen Hemd und den modischen Breitcordhosen machte er eher den Eindruck, im Versicherungsgewerbe tätig zu sein. Die gegelten, dunklen Haare und die geschmackvolle Brille mochten ebenfalls so gar nicht ins Bild passen.

»An den Wänden hängen Bilder meiner Vorfahren. Diese Tradition sollte man als eine Person von Adel schon erhalten.« Mister Drake zeigte auf eine Vielzahl alter Ölgemälde. Die älteren weckten in Rüdiger Fitzgerald eine starke Abneigung. Alte Männer mit Schnurrbärten starrten ihn mit ihren leeren Augen an und machten ihm die Sterblichkeit bewusst.

»Fotos mache ich immer erst hinterher«, meinte Fitzgerald in ruhiger Professionalität. Der gute Mann sollte ja nicht glauben, dass er ein Nichtsnutz sei.

Drake führte ihn durch den langen Flur bis in einen großen Saal, welcher eher einer Turnhalle glich als einem festlichen Ort, der bereits viele Könige und Barone dieser Welt beherbergte. »Nein, das ist nicht, was Sie denken, Herr Fitzgerald! Dies ist nur ein Übungsraum für meine Karatekurse. Ich bilde nun bereits seit fünfzehn Jahren jugendliche Menschen im Karate aus.«

Verdutzt schaute Rüdiger Fitzgerald Herrn Drake in die starre Miene. Noch einmal musterte der Journalist die um ihn herum stehenden kalkweißen Statuen. Es waren zwölf an der Zahl und sie stellten tatsächlich Kampfsportposen nach.

»Wissen Sie, Mister Fitzgerald, mit den Jahren muss man sich einige Hobbys suchen, um nicht völlig abzustumpfen. Möchten Sie etwas zu trinken? Ich habe auch Bier da. Und Schnaps.«

Fitzgerald holte sein Telefon hervor, um die Uhrzeit zu überprüfen. Es war mittlerweile 23:32 Uhr. »Ich nehme ein Bier. Gerne. Danke schön, Mister Drake. Ich habe mich sowieso noch gar nicht für die Einladung bedankt. Mein Magazin ist ziemlich stolz darauf, eine Reportage über ihr Schloss abdrucken zu dürfen. Ich meine, es ist ein sehr junges Schloss. Aber die Geschichte überhaupt. Sie waren immerhin einmal Sänger einer Hard Rock-Band.«

Drake schaute ihn an, während dieser den Grund seines Besuchs noch einmal erklärte, und ging zu einem Kühlschrank, der für Rüdiger im ersten Moment eher wie ein Erste-Hilfe-Kasten aussah. »Es erscheint mir sonderbar, dass es so interessant sein soll, einen Mann Mitte fünfzig in seinem Zuhause zu beehren. Aber ich gebe Ihnen gerne Auskunft über mein Schloss. Und natürlich, Sie können heute Nacht in unserem Westflügel schlafen. Immerhin ist der Weg sehr lang und es ist schon spät. Die Straßen hier im Norden von Idaho sind um diese Jahreszeit ebenfalls nicht zu unterschätzen. Sie erzählten etwas von einem Interview. Möchten Sie das heute noch durchführen?«

Gebannt von den säuselnd gesprochenen Worten Drakes, spürte Fitzgerald eine Art Trancezustand aufkommen. Vermutlich lag dies aber auch nur an der starken Übermüdung und der unnötigen Pfad-Begehung. Außerdem war der hohe Alkoholgehalt des Biers, welches ihm von Drake gereicht worden war, merklich spürbar.

»Waren Ihre Verwandten im Zweiten Weltkrieg aktiv, Mister Fitzgerald? Ich meine, haben Ihr Opa oder Uropa für die Army gedient?«

Der Journalist aus Louisville, Kentucky konnte den Worten des Mannes nur schwer folgen. Er fühlte sich immer noch beeindruckt von den Karatestatuen und der künstlichen, plastischen Atmosphäre des Raumes, in dem er und Mister Olaf Drake sich gerade befanden. Sein Gastgeber stand ihm gegenüber und knöpfte den oberen Knopf seines schwarzen Hemds zu, während er auf Fitzgeralds Antwort wartete. Diese Geste ließ Drake noch intellektueller wirken, als es die rahmenlose Brille in seinem Gesicht sowieso schon tat.

»Ich … ähm … also, ich wollte das Interview schon noch heute machen.« Fitzgerald hörte seine eigenen Worte im Nachklang noch einmal durch die Halle schallen.

»Gern.« Drake brach die Stille mit einem knappen Wort und schlenderte vergnügt in den nächsten Raum. Fitzgerald folgte ihm und versendete nebenher auf seinem Smartphone eine Nachricht an seinen Auftraggeber.

Drake zeigte auf einen großen Monitor: »Ich schaue gern die Aktienkurse. Ich unterstütze viele Firmen und habe so viele Anteile an verschiedenen Unternehmen. Ich muss den Überblick behalten.«

Nach dem seltsamen Gefühl, welches Fitzgerald im Karatesaal fast übermannte, war er heimlich froh, dass nun etwas mediale Berieselung auf ihn hereinbrach. Der Monitor war fast so groß wie sein eigenes Apartment und er wünschte sich, nur einmal auf diesem Riesenbildschirm eine Runde Tetris spielen zu dürfen.

Mister Drakes Griff ging zu einer Fernbedienung. »Ich schaue mir alles an. Die Kurse, was in der Welt passiert, Kriege. Manchmal ein paar zeitgenössische Filme.« Seine Finger glitten über die Fernbedienung, während bunt zappende Bilder auf ihn einprasselten. »Der Monitor war im Übrigen eine Spende. Das ist doch eine feine Geste, na, Mister Fitzgerald?«

Wieder spürte dieser einen kalten Hauch von Schauer auf seinem Rücken, während der energisch klingende Ton seines Gastgebers auf ihn einwirkte.

»Haben Sie einen Lieblingsfilm? Ich meine, viele mögen ja diese neuen, abgehackten Actionfilme, bei denen man gar nicht mehr hinterherkommt. Visuelle Bilderfluten und nebenher werden neue Messages auf den Smartphones gelesen. Oder geschrieben.«

Wort um Wort bohrte sich die Stimme von Olaf Drake in Rüdiger Fitzgeralds Ohren. Eine Jubelarie und ein Pfeifkonzert gleichermaßen. Hatte er gerade eine ganze Unmenge an Blut auf dem Bildschirm wahrgenommen? Warum fühlte er sich an den alten Bauernhof erinnert, auf dem er als Kind oft gespielt und dem Bauern beim Schlachten der Schafe und Schweine zugesehen hatte? Wie ein Stroboskop in seinem Kopf zuckten nun die Erinnerungen hin und her und wechselten sich mit dem ab, was auf der Mattscheibe gezeigt wurde. Was war nun die Realität, was fand in seinem Kopf statt? Er konnte das Gefühl kaum reflektieren, aber er merkte, dass sich während des Aufenthalts bei dem eloquenten Schlossbesitzer, bei dem er doch nur ein paar Dollars verdienen wollte, eine prekäre Situation zu entwickeln schien.

 

»Um auf Ihre Frage zurückzukommen …« Fitzgerald versuchte, die Contenance zu bewahren und nicht einfach im großen Kinosaal des Herrn Drake umzukippen. »Also, mein Lieblingsfilm ist zweifellos …« Was war denn nun sein Lieblingsfilm? Der Journalist grub in seinem Gedächtnis nach diesem einen Film. Er hatte ihn zu Hause in mehreren Formaten unter seinem kleinen Flachbildfernseher. Direkt neben der Playstation und den entwickelten Fotos seiner Exfreundin.

»Lassen Sie mich raten, Mister Fitzgerald. Ihr Lieblingsfilm ist irgendein typischer Blockbuster, der fast jedem gefällt, aber zu uncool ist, um als Lieblingsfilm genannt zu werden. Wenn Sie von der Arbeit kommen, gucken Sie sicher gerne Filme und essen dazu eine dieser japanischen Nudelsuppen.«

Rüdiger Fitzgerald brach zusammen. Mit gekreuzten Beinen, angelehnt an einen der Bildschirme, saß er da. Die Bilder vor seinen Augen wurden immer diesiger und die immer weiter auf ihn einredende Stimme von Mister Drake wurde dumpfer. Bis sie vollkommen verschwand.

»Wissen Sie, Mister Fitzgerald. Sie hätten ja mal nachschauen können. Ich bin ebenfalls ein hervorragender Journalist.«

Die Stimme klang, als käme sie aus einer dieser Sprechanlagen im Kaufhaus, über die Eltern ihre verloren geglaubten Bälger ausrufen.

»Ich habe Texte geschrieben. Zum Beispiel für die Times. Ja. Und auch für andere Zeitungen. Zeitungen, die es schon lange nicht mehr gibt. Entschuldigen Sie die Theatralik.«

Langsam erhielt Fitzgerald sein Körpergefühl zurück, welches ihm mitteilte, dass seine Beine und Arme komplett unbeweglich waren. »Ähm … Mister Drake.« Rüdiger Fitzgerald stellte fest, dass sich bei der Aussprache der Silben auch ein sonderbarer Geschmack in seinem Mund breitmachte. Blut. Er spürte, wie das Blut aus seinem Mund quoll und sich über seine Wangen ausbreitete wie eine dieser japanischen Suppen, wenn er sie mal wieder über seinen Couchtisch verschüttete.

»Sprechen Sie bitte nicht so viel. Es wird sonst nicht sehr lange dauern, aber ich brauche ein bisschen Zeit. Ich habe da so eine Angewohnheit. Bei lebenden Speisen schmeckt es mir einfach besser, wenn ich die Teile direkt aus ihnen heraus esse und dann erst das Blut konserviere. Nachdem ich natürlich viel davon probiert habe. Ich verkaufe immerhin keinen Mist. So, und nun drehen Sie sich … ach, ich mach es selbst.«

Mit einem harten Ruck rollte Mister Drake den bewegungsunfähigen Körper von Rüdiger Fitzgerald auf der kalten Eisenplatte um etwa 94 Grad nach links.

»Ich habe keine Freunde, Mister Fitzgerald. Meine Arbeit beziehungsweise mein Hobby lassen das nicht zu. Ich denke, ich bin zu süchtig danach, mich darin selbst zu verwirklichen. Tut es weh?« Drake reagierte mit dieser Frage auf ein lautes Schreien des Journalisten. »Entschuldigung, ich bin gleich so weit. Ich habe das Meiste schon herausgenommen. Zumindest das, dessen Fehlen Sie noch leben lässt.« Mister Drakes Hand ging zu einer Bohrmaschine, die sorgfältig aufgeräumt neben ein paar verschmierten Instrumenten lag.

Rüdiger Fitzgerald kamen die Sekunden wie eine Unendlichkeit vor. »Wie bin ich hierhergekommen?« Er sah an seinem Körper herab, der nun an einem Fleischerhaken in einer dunklen Halle hing. Wie ein feuchter Lappen wurde Fitzgeralds blasser, nackter Leib auf einem Hakenkarussell durch den Raum geschwungen. Sein Verstand war nicht mehr dazu in der Lage, die Situation zu begreifen.

»Mister Fitzgerald, Sie werden jetzt sterben. Aber ich benötige die Show! Wie in jedem anständigen Gruselfilm muss ich Ihnen nun noch sagen, was mein Plan ist. Ich mache das so. Ich habe das schon immer so gemacht und es gehört einfach dazu. Ich muss es quasi tun.«

Olaf Drake stand inmitten der um ihn herumkreisenden, blutüberströmten Fleischstücke. Die Schlachthalle war riesig. Monströse Gerätschaften, Besteck und Stoffreste befanden sich in jeder Ecke. Hier wurde fachmännisch gearbeitet. An einer Wand befand sich so etwas wie ein großer Bottich, von dem Schläuche wegführten. Ein großer Ventilator rotierte langsam an der Decke und sorgte dafür, dass das grelle Neonlicht immer wieder seinen Eintrittswinkel änderte. Trotz des vielen Blutes und der herumliegenden Kadaver wirkte der Raum sehr steril und hygienisch.

»Also, das ist so: Morgen Früh werde ich aufstehen, aus einem Sarg heraus. Ganz so, wie es sich eben gehört, und ich werde vermutlich einen Ständer haben. So, wie Sie jeden Morgen, wenn Sie aus Ihrer versifften Koje steigen. Und dann werde ich gottfroh sein, dass ich für die nächsten sechs Jahre vorgesorgt habe. Immerhin verkauft sich der ganze Scheiß doch unheimlich gut, mal vom gesicherten Eigenbedarf abgesehen. Menschen wollen das, sie kaufen das Blut, das ich Ihnen abzapfe. Und wissen Sie, ich muss es tun, so will es die Geschichte. Es ist ein Job: Ich bin Vampir. Das ist das, was ich tue. Klingt irgendwie jedes Mal so, als ob es ein Witz wäre.«

Drake biss ein großes Stück von einem Schinkenhörnchen ab, während er schmatzend sein Vorhaben erklärte.

»Ich mache den größten und besten Export mit Blut an allen Posten. Niemand wird das in irgendeiner Weise infrage stellen. Alle wollen sie echtes, frisches Menschenblut. Nicht irgendeinen artifiziellen Mist oder Tierexkremente. Echtes. Scheiß. Blut! Und ja, ich liebe es. Distributor für Blut. So würde meine Stellenbeschreibung heißen. Oder Blut-Consultant. Wollen Sie etwas erfahren? Erst kürzlich hat eine große französische Energiefirma eingekauft. Die kennen Sie. Allein der Aufhänger für diese Story würde Ihnen einen besseren Journalistenjob einbringen, als Sie jemals zuvor hatten. Da ist politische Brisanz drin.«

Mit einem großen Küchenmesser schnitt Mister Drake ein kleines Stück eines blutigen Organs ab, das vor ihm auf einem Blümchenteller lag. Ein Organ, welches üblicherweise in Rüdiger Fitzgeralds Körper gehörte.

»Ich lebe hier übrigens allein. Aber ich glaube, Sie fühlen sich einsamer als ich.«

Drake öffnete den Mund und führte das rohe Stück Fleisch mit dem Messer hinein.

»Geschmack: geht so. Sie hätten sicher eine bessere Qualität, wäre Ihre Ernährung nur ein klein wenig gesünder gewesen. Ihr Privileg, in vollkommener Freiheit zu leben, hätten Sie ruhig vorausschauender nutzen können.«

Der Vampir setzte sich nun daran, die einzeln abgeschnittenen, blutigen Stücke in kleine Frischhalteboxen einzusortieren. Akribisch bildete er kleine Häufchen und packte diese wiederum in große Kühltruhen, die sich in der Mitte der herumhängenden, leblosen Körper befanden. Der Klang von aufeinanderprallendem Metall und der Verwendung von Werkzeug hallte durch das grausame Schlachthaus. Fröhlich pfiff Drake ein Lied, während er seiner Arbeit nachging. Irgendwo spielte ein altes Radio alte Folkmusik.

Rüdiger Fitzgerald wurde schwarz vor Augen. Sein Leben erlosch.