Fünfzehn Hunde

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Fünfzehn Hunde
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André Alexis

Fünfzehn Hunde

Eine Fabel

Aus dem Englischen von

Norbert Hofmann

FUEGO

- Über dieses Buch -

Es beginnt wie so viele seltsame Geschichten in einer Bar. Die Götter Hermes und Apoll streiten darüber, was geschähe, wenn man Tiere mit menschlicher Intelligenz ausstatten würde. Sie schließen eine Wette ab und geben fünfzehn Hunden, die in einer Tierklinik untergebracht sind, Bewusstsein und Sprache. Die Hunde, plötzlich zu komplexem Denken fähig, entkommen und bilden ein Rudel. Einige von ihnen widerstehen den neuen Möglichkeiten und ziehen ihr altes Hundeleben vor, die anderen nehmen die Veränderung an. Die Götter schauen zu, wie sich die Hunde auf unvertrautes Terrain wagen und sich streiten, während jeder mit neuen Gedanken und Gefühlen kämpft. Der schlaue Benjy zieht von Haus zu Haus, Prince wird ein Dichter, und Majnoun entwickelt eine enge Beziehung zu einem freundlichen Paar, die selbst die Schicksalsgöttinnen in ihrem Tun aufhält.

Faszinierend und voll unerwarteter Einsichten in das Denken von Menschen und Hunden gewährt diese Fabel einen außergewöhnlichen Blick auf die Schönheit und Gefahren des Bewusstseins.

Ausgezeichnet mit dem Giller Prize für den besten kanadischen Roman 2015.

»Alexis‘ fünfzehn Hunde entdecken in diesem Roman viel mehr als menschlichen Intellekt: ein Bewusstsein tiefer als Intelligenz, Liebe stärker als Loyalität, das den Menschen eigene Mitleid und einen neuen Blick auf die Welt.« | World Literature Today

»Ich bin kein Hundeliebhaber, aber als ein Büchermensch liebe ich diese kluge, überschwängliche Fantasie vom Anfang bis zum Ende.« | The Guardian

Für Linda Watson

... por qué es de día, por qué vendrá la noche ...

– Pablo Neruda, »Oda al perro«

... warum dieser Tag, warum muss die Nacht kommen ...

– Pablo Neruda, »Ode an einen Hund«



DIE HUNDEAKTEURE

AGATHA – ein alter Labradoodle

ATHENA – ein brauner Zwergpudel

ATTICUS – ein imposanter Mastiff mit Hängebacken

BELLA – eine Dogge, Athenas engste Rudelgefährtin

BENJY – ein findiger und hinterhältiger Beagle

BOBBIE – ein unglücklicher Duck Toller

DOUGIE – ein Schnauzer, Freund von Benjy

FRICK – ein Labrador Retriever

FRACK – ein Labrador Retriever, Fricks Wurfbruder

LYDIA – eine Kreuzung zwischen Whippet und Weimaraner, gepeinigt und nervös

MAJNOUN – ein schwarzer Pudel, kurzzeitig »Lord Jim« oder einfach »Jim« genannt

MAX – ein Mischling, der Poesie verabscheut

PRINCE – ein Mischling, der Gedichte schreibt, auch Russell oder Elvis genannt

RONALDINHO – ein Mischling, der die herablassende Haltung von Menschen bedauert

ROSIE – eine Schäferhündin, die Atticus nahesteht

1
EINE WETTE

EINES ABENDS IN TORONTO saßen die Götter Apollo und Hermes in der Wheat Sheaf Tavern. Apollo hatte sich einen Bart bis zum Schlüsselbein wachsen lassen. Hermes war glattrasiert, seine Kleidung war irdisch: schwarze Jeans, eine schwarze Lederjacke und ein blaues Hemd.

Sie hatten getrunken, aber es war nicht der Alkohol, der sie berauschte. Es war die Verehrung, die ihre Anwesenheit hervorrief. Das Wheat Sheaf kam ihnen wie ein Tempel vor, und die Götter waren höchst zufrieden. Auf der Herrentoilette ließ Apollo es zu, dass ein älterer Mann in einem Geschäftsanzug ihn berührte. Diese Freude, die intensiver war als alles, was der Mann erfahren hatte oder noch erfahren würde, kostete ihn acht Jahre seines Lebens.

In der Bar begannen die Götter eine zwanglose Unterhaltung über das Wesen der Menschheit. Zu ihrem Vergnügen sprachen sie Altgriechisch, und Apollo argumentierte, dass Menschen weder besser noch schlechter seien als irgendwelche anderen Lebewesen, nicht besser oder schlechter als etwa Flöhe oder Elefanten. Menschen, sagte Apollo, hätten kein besonderes Verdienst, auch wenn sie sich selbst für etwas Höheres hielten. Hermes vertrat die gegenteilige Meinung und meinte, dass zum Beispiel die menschliche Art und Weise, Symbole zu kreieren und zu benutzen, interessanter sei als etwa der komplexe Tanz, den Bienen vollführen.

Die Menschensprachen sind zu vage, sagte Apollo.

Mag sein, erwiderte Hermes, aber das macht Menschen amüsanter. Hör doch nur mal diesen Leuten hier zu. Man könnte schwören, sie würden einander verstehen, obwohl keiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung hat, was seine Worte den anderen tatsächlich bedeuten. Wie kann man so einer Farce widerstehen?

Ich sage ja nicht, dass sie nicht amüsant sind, antwortete Apollo. Aber Frösche und Fliegen sind auch komisch.

Wenn du Menschen mit Fliegen vergleichst, kommen wir nicht weiter. Und du weißt das.

In perfektem, wenn auch göttlich akzentuiertem Englisch – das heißt, in einem Englisch, das jeder Gast in der Bar verstand – sagte Apollo:

Wer wird für unsere Drinks bezahlen?

Ich, rief ein armer Student. Bitte, überlassen Sie mir das.

Apollo legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes.

Mein Bruder und ich danken dir, sagte er. Wir hatten jeder fünf Sleeman Bier. Für die nächsten zehn Jahre wirst du weder Hunger haben noch Mangel erleiden.

Der Student kniete nieder und küsste Apollos Hand, und als die Götter gegangen waren, fand er Hunderte von Dollars in seinen Taschen. Tatsächlich hatte er, solange er die Hose besaß, die er an jenem Abend trug, mehr Geld in seinen Taschen, als er ausgeben konnte, und es vergingen zehn Jahre seit jenem Moment, bevor sich die Cordhose auflöste.

Die Götter verließen die Bar und gingen die King Street Richtung Westen entlang.

Ich frage mich, sagte Hermes, wie es wäre, wenn Tiere menschliche Intelligenz hätten.

Ich frage mich, ob sie wohl so unglücklich wären wie die Menschen, antwortete Apollo.

Manche Menschen sind unglücklich, andere nicht. Ihre Intelligenz ist eine schwierige Gabe.

Ich wette gegen ein Jahr Dienstbarkeit, sagte Apollo, dass Tiere – ganz gleich, welches du wählst – sogar noch unglücklicher wären, wenn sie menschliche Intelligenz hätten.

Ein Erdjahr? Die Wette nehme ich an, sagte Hermes, und gewonnen habe ich, falls auch nur eines dieser Lebewesen am Ende seines Lebens glücklich ist.

Aber das ist eine Sache des Zufalls, sagte Apollo. Das beste Leben endet manchmal schlimm, und das schlimms­te manchmal gut.

Wohl wahr, erwiderte Hermes, aber man kann nie wissen, wie ein Leben war, bevor es vorbei ist.

Sprechen wir von glücklichen Wesen oder glücklichen Leben? Na egal. So oder so, ich nehme deine Bedingung an. Menschliche Intelligenz ist keine Gabe. Sie ist eine gelegentlich nützliche Plage. Welches Tier wählst du?

Zufällig befanden sich die beiden Götter nicht weit entfernt von der Tierklinik in Shaw. Unbemerkt betraten sie den Ort und fanden Hunde, zumeist Haustiere, die von ihren Besitzern aus dem unterschiedlichen Gründen über Nacht dort untergebracht worden waren. Hunde also.

Soll ich ihnen ihr Gedächtnis lassen?, fragte Apollo.

Ja, sagte Hermes.

Und da verlieh der Gott des Lichts den fünfzehn Hunden, die sich in dem Zwinger hinter der Klinik befanden, »menschliche Intelligenz«.

Irgendwann um Mitternacht hielt Rosie, eine Schäferhündin, die gerade ihre Vagina leckte, inne und fragte sich, wie lange sie wohl an diesem Ort bleiben müsse. Und dann fragte sie sich, was mit ihrem letzten Wurf geschehen war. Es erschien ihr äußerst unfair, mit so viel Mühsal Welpen zu bekommen und sie dann aus den Augen zu verlieren.

Rosie stand auf, um etwas Wasser zu trinken und an den harten Pellets zu schnüffeln, die man ihr zum Fressen gegeben hatte. Mit der Nase an dem Futter in dem flachen Napf herumstupsend, entdeckte sie zu ihrer Verblüffung, dass der Napf nicht wie gewöhnlich dunkel war, sondern vielmehr eine seltsame Färbung hatte. Sie ähnelte dem Pink von Kaugummi, aber da Rosie diese Farbe nie zuvor gesehen hatte, erschien sie ihr schön. Bis zum Ende ihres Lebens gefiel ihr keine Farbe besser.

In der Zelle nebenan träumte ein grauer Neapolitanischer Mastiff namens Atticus von einem weiten Feld, auf dem es zu seinem Entzücken von kleinen pelzigen Tieren wimmelte. Tausende von ihnen – Ratten, Katzen, Kaninchen und Eichhörnchen – bewegten sich über das Gras wie der Saum eines Kleides, das weggezogen wird, gerade außerhalb seiner Reichweite. Dies war Atticus’ Lieblingstraum, eine nicht nachlassende Freude, die immer damit endete, dass er glücklich ein zappelndes Lebewesen zurück zu seinem geliebten Herrchen brachte. Sein Herrchen nahm das Ding, schlug es gegen einen Stein, führte dann seine Hand über Atticus’ Nacken und sagte seinen Namen. Immer endete dieser Traum so, immer. Aber diesmal nicht. In dieser Nacht, als er in den Nacken einer dieser Kreaturen biss, kam es Atticus in den Sinn, dass das Lebewesen Schmerz verspüren musste. Der Gedanke – klar und unerhört – weckte ihn aus dem Schlaf.

 

Andere Hunde in dem Zwinger wachten auf, aufgeschreckt von seltsamen Träumen oder dem plötzlichen Bewusstsein einer unbestimmbaren Veränderung in ihrer Umgebung. Diejenigen, die nicht geschlafen hatten – es ist immer ungewohnt, weg von zu Hause zu schlafen –, erhoben sich und gingen leise zu der Tür ihrer Zelle, um zu sehen, wer den Ort betreten hatte. Zuerst nahm jeder von ihnen an, dass seine neuentdeckte Vorstellung einzigartig war. Nur allmählich wurde es ihnen klar, dass sie nun alle in dieser seltsamen Welt lebten.

Ein schwarzer Pudel namens Majnoun bellte leise. Er schaute nachdenklich auf Rosies Käfig, der seinem gegenüberlag. Und zufällig fiel sein Blick auf das Schloss: eine längliche Schlaufe, die an einem Riegel befestigt war. Sie lag zwischen zwei Stücken aus Metall und hielt den Riegel sicher an seinem Platz. Die Vorrichtung war einfach, elegant und effektiv. Doch um die Tür zu öffnen, musste man nur die Schlaufe anheben und den Riegel zurückschieben. Genau das tat Majnoun, indem er sich auf die Hinterbeine stellte und eine Pfote durch das Käfiggitter schob. Er brauchte einige Versuche, denn es war gar nicht so einfach, aber nach einer Weile war das Schloss entriegelt, und er stieß die Tür auf.

Obwohl die meisten Hunde verstanden, wie Majnoun seine Zelle geöffnet hatte, waren nicht alle fähig, das Gleiche zu tun. Es gab verschiedene Gründe dafür. Frick und Frack, zwei einjährige Labradore, die am nächsten Tag kastriert werden sollten, waren zu jung und ungeduldig. Die kleineren Hunde – ein schokoladenfarbener Zwergpudel namens Athena, ein Schnauzer namens Dougie, ein Beagle namens Benjy – wussten, dass sie körperlich nicht in der Lage waren, den Riegel zu erreichen, und winselten frustriert, bis ihre Zellen für sie geöffnet wurden. Die älteren Hunde, insbesondere ein Labradoodle namens Agatha, waren zu müde und verwirrt, um klar zu denken, und zögerten, die Freiheit zu wählen, selbst nachdem die Türen ihrer Zellen offen standen.

Natürlich besaßen die Hunde bereits eine gemeinsame Sprache. Sie war auf das Wesentliche reduziert, eine Sprache, in der vor allem der soziale Status und physische Bedürfnisse von Bedeutung waren. Alle Hunde verstanden die entscheidenden Ausdrücke und Gedanken: »Vergib mir«, »Ich werde dich beißen«, »Ich bin hungrig«. Nun, da ihnen das Primatendenken auferlegt worden war, änderte sich auch die Sprache, in der die Hunde zueinander und zu sich selbst sprachen. Zum Beispiel kannten sie zuvor nicht das Wort »Tür«. Nun verstanden sie, dass »Tür« ein Ding war, das sich von dem Verlangen nach Freiheit unterschied, dass »Tür« unabhängig von Hunden existierte. Seltsamerweise stammte das Wort für »Tür« in der neuen Sprache der Hunde nicht von den Türen zu ihren Zellen, sondern vielmehr von der Hintertür zu der Tierklinik. Diese Tür, groß und grün, ließ sich öffnen, indem eine Metallstange in der Mitte zur Seite geschoben wurde. Diese Metallstange verursachte beim Öffnen einen starken, nachhallenden Knall. Seit jener Nacht kamen die Hunde überein, dass das Wort für »Tür« ein Klick (Zunge gegen Vordergaumen), gefolgt von einem Seufzer, sein sollte.

Zu sagen, die Hunde seien verwirrt gewesen, wäre eine Untertreibung. Wenn sie »verwirrt« waren, als die Bewusstseinsveränderung über sie kam, in welchem Zustand befanden sie sich, als sie die Klinik durch die Hintertür verließen und auf die Shaw Street sahen? Ein Chaos aus Lärm und Gerüchen überfiel sie, dessen Bedeutung nun eine Wichtigkeit für sie hatte wie nie zuvor. Plötzlich verstanden sie, dass sie frei und zugleich hilflos waren.

Wo waren sie? Wer sollte sie anführen?

Für drei der Hunde endete die seltsame Episode bereits an dieser Stelle. Agatha, die an ständigen schrecklichen Schmerzen litt und in der Klinik war, um eingeschläfert zu werden, hielt es für sinnlos, mit den anderen weiterzugehen. Sie hatte ein gutes Leben gelebt, drei Würfe gehabt und so all den Respekt bekommen, den sie von den Hündinnen erwartete, die sie auf Spaziergängen mit ihrem Frauchen traf. Sie wollte nicht Teil einer Welt sein, in der ihr Frauchen keine Rolle spielte. Sie legte sich vor der Tür der Klinik und ließ die anderen wissen, dass sie nicht weglaufen werde. Sie wusste nicht, dass diese Entscheidung ihren Tod bedeutete. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass ihr Frauchen sie verlassen hatte und sie dem Tod allein ins Auge sehen musste. Am schlimmsten war, dass die Klinikangestellten, die sie am nächsten Morgen zusammen mit den Mischlingen Ronaldinho und Lydia entdeckten, nicht freundlich waren. Sie ließen ihren Frust an Agatha aus und taten ihr weh, als sie zu dem Silbertisch gebracht wurde, wo sie eingeschläfert werden sollte. Einer der Männer schlug sie, als sie den Kopf hob, um ihn zu beißen. Sobald Agatha den Tisch sah, wusste sie, dass ihr Ende gekommen war, und ihre letzten Momente verbrachte sie mit der nutzlosen Anstrengung, ihren Wunsch mitzuteilen, dass sie ihr Frauchen sehen wollte. In ihrer Verwirrung bellte Agatha heiser wieder und wieder das Wort für »Hunger«, bis ihr Geist ihren Körper verlassen hatte.

Wenn Ronaldinho und Lydia auch länger lebten als Agatha, war ihr Ende fast genauso unglücklich. Beide waren in der Tierklinik wegen leichter Beschwerden. Beide wurden heimgeschickt zu dankbaren Besitzern. Und in beiden Fällen vergiftete ihre neue Denkweise, was (zumindest in ihrer Erinnerung) ein idyllisch und relativ langes Leben gewesen war. Ronaldinho lebte bei einer Familie, die ihn liebte, aber nach seiner Rückkehr aus der Klinik begann er zu bemerken, wie herablassend sie ihm gegenüber war. Trotz des spürbaren Beweises, dass Ronaldinho sich verändert hatte, behandelte die Familie ihn immer nur wie ein Spielzeug. Er lernte ihre Sprache. Er saß, stand, stellte sich tot, rollte herum oder bettelte, bevor die Befehle auch nur ausgesprochen waren. Er schaffte es, den Herd abzustellen, wenn der Kessel pfiff. Und einmal, als in seiner Gegenwart behauptet wurde, dass Hunde nicht bis zwanzig zählen könnten, starrte er die Person an, die das gesagt hatte, und bellte – ironisch, verbittert – zwanzig Mal. Niemand nahm es wahr oder zeigte Interesse. Schlimmer noch: Vielleicht weil die Familie vermutete, Ronaldinho sei »nicht mehr der Alte«, mied sie ihn eher, streichelte ihm flüchtig den Rücken oder Kopf, gewissermaßen in Erinnerung an den Hund, der er einmal gewesen war. Er starb desillusioniert und verbittert.

Lydia erging es schlechter. Eine Kreuzung zwischen einem Whippet (ihre Mutter) und einem Weimaraner, war sie immer schon ein nervöses Wesen. Die Gabe der menschlichen Intelligenz machte sie noch nervöser. Auch sie lernte die Sprache ihrer Besitzer, tat oder antizipierte genau, was immer von ihr gewollt wurde. Die Herablassung der Menschen machte ihr nichts aus. Ihr missfiel, dass sie unaufmerksam und nachlässig waren, denn mit dem »Primatenverstand« bildete sich ein scharfes Zeitbewusstsein heraus. Das Vergehen der Zeit – jeder Moment war wie eine Krätzmilbe, die ihr unter die Haut kroch – erwies sich als eine unerträgliche Plage. Diese Qual wurde nur durch die Nähe ihrer Besitzer, durch ihre Gesellschaft gelindert. Da ihre Besitzer, ein berufstätiges Paar, das nach Flieder und Zitruspflanzen roch, jedoch oft acht Stunden ununterbrochen weg waren, litt Lydia furchtbar. Sie bellte, heulte und flehte stundenlang. Als sie schließlich die wiederholte Qual nicht länger ertragen konnte, verfiel sie auf einen typisch menschlichen Schutz vor Leid: Katatonie. Eines Tages fanden ihre Besitzer sie im Wohnzimmer, die Beine steif, die Augen weit geöffnet. Sie brachten Lydia zu der Klinik in Shaw, und als der Tierarzt ihnen mitteilte, dass er nichts mehr tun könne, ließen sie sie einschläfern. Sie waren keine fürsorglichen Besitzer gewesen, aber sie waren sentimental. Sie begruben Lydia in dem Garten hinter ihrem Haus und pflanzten ihr zu Ehren einen Teppich gelber Blumen (Genista lydia) auf dem Erdhügel, ihrer letzten Ruhestätte.

Die Zwölf, die von Shaw aus aufbrachen, wurden von Verwirrung und Neugier getrieben. Die Welt erschien neu und wunderbar und doch vertraut und banal. Nichts hätte sie überraschen sollen, doch das Gegenteil war der Fall. Das Rudel bewegte sich vorsichtig auf der Strachan Avenue Richtung Süden: über die Brücke zum See.

Fast instinktiv zog es sie zum Seeufer. Die zahlreichen Gerüche waren für die Hunde so betörend, wie es der Duft einer Bäckerei am frühen Morgen für Menschen ist. Erst einmal war da der See selbst: sauer, pflanzlich, fischig. Dann gab es den Geruch von Gänsen, Enten und anderen Vögeln. Noch verführerischer roch die Vogelscheiße, die Gemüse, gedünstet in Gänseschmalz, ähnelte. Und dazu kamen flüchtigere Duftwolken: gekochtes Schweinefleisch, Tomaten, Kuhfett, Mais, Brot, Süßigkeiten und Milch. Keiner von ihnen konnte dem widerstehen, obwohl es kaum Schutz an dem See gab, nur wenige Plätze, um sich zu verstecken, sollten ihre Besitzer hinter ihnen her sein.

Keiner konnte dem See widerstehen, nur Majnoun dachte, sie sollten es. Ihm kam in den Sinn, dass die Stadt für sie der schlimmste Ort war, da es vor Leuten wimmelte, die Angst vor fremden umherstreunenden Hunden hatten. Was sie brauchten, sagte er sich, war ein Ort, wo sie sicher wären, bis sie entschieden hätten, was gut für sie alle war. Er dachte auch, dass Atticus, der der Kopf des Rudels war, nicht notwendigerweise der Chef sein sollte. Es war nicht so, dass Majnoun selbst Anspruch darauf erhob. Auch wenn er sich von dem Abenteuer hatte mitreißen lassen und gerne mit den anderen zusammen war, fühlte er sich wohler unter Menschen. Er traute anderen Hunden nicht. Und dies machte für ihn den Gedanken an Führerschaft unangenehm. Die wichtigen Dinge – Futter, Unterkunft, Wasser – mussten gemeinsam geklärt werden, aber wer würde sie anführen und wem wäre er bereit zu folgen?

Es war dunkel, nur hin und wieder fiel Mondlicht durch ein Loch in der Wolkendecke. Um vier Uhr morgens war die Welt voller Schatten. Die Tore zur Canadian National Exhibition tauchten drohend auf, und es schien, als ob sie schwankten und alles unter sich begraben würden. Noch fuhren nicht viele Autos, aber Majnoun wartete am Straßenrand auf das grüne Licht. Die Hälfte des Rudels – Rosie, Athena, Benjy, ein albertinischer Mischling namens Prince und ein Duck Toller, der auf den Namen Bobbie hörte – wartete mit ihm. Die andere Hälfte – Frick, Frack, Dougie, Bella, die Dogge und ein Mischling namens Max – überquerte unbekümmert mit Atticus den Boulevard.

Auf der anderen Seite lag der dunkle und stille See, während längs der Promenade verschiedene Arten von Kot, Nahrungsreste und andere Dinge zum Schnüffeln verlockten. Atticus, ein Hund mit Knautschgesicht, dessen Instinkt ganz auf die Jagd gerichtet war, konnte auch die Anwesenheit von kleinen Tieren spüren, Ratten und Mäuse höchstwahrscheinlich, und er wollte ihnen nachstellen. Er forderte die anderen auf, mit ihm zu jagen.

Warum?, fragte Majnoun.

Diese Frage – eine Neuheit in der gemeinsamen Hundesprache – war verblüffend. Atticus hatte nie darüber nachgedacht, dass es vernünftig sein könnte, sich von Ratten, Vögeln oder Fressen überhaupt zurückzuhalten. Er erwog das »Warum?« und leckte dabei zerstreut seine Schnauze. Schließlich sagte er, selbst etwas Neues in ihrer Sprache erfindend:

Warum nicht?

Frick und Frack stimmten sofort entzückt zu.

Warum nicht?, wiederholten sie. Warum nicht?

Wo verstecken wir uns, wenn ein Besitzer kommt?, gab Majnoun stattdessen zur Antwort.

Eine scharfsinnigere Frage hätte kein Hund stellen können. Die Annahmen dahinter fühlten sich richtig an und doch merkwürdig falsch. Auch wenn Majnoun sein eigenes Herrchen respektierte, nahm er an, dass sich die Hunde alle vor ihren Besitzern verstecken wollten. Freiheit, dachte Majnoun, kommt vor Respekt. Aber das Wort Besitzer rief in ihnen widersprüchliche Gefühle hervor. Für einige war die Vorstellung von einem Besitzer tröstlich. Prince, der seit seiner Ankunft in der Stadt von Kim, seinem Herrchen, getrennt war, hätte alles getan, um ihn zu finden. Athena mit ihren dreieinhalb Pfund Gewicht war daran gewöhnt, getragen zu werden, wohin auch immer sie ging. Sie war bereits erschöpft, nachdem sie so lange mit dem Rudel Schritt gehalten hatte. Angesichts des weiten Weges, den sie noch zu gehen hatten, angesichts der Ungewissheit, hätte sie sich gerne jemandem ergeben, der sie fütterte und herumtrug. Da jedoch den größeren Hunden wie den meisten anderen die Vorstellung von Unterwerfung offensichtlich missfiel, gab Athena vor, dass auch sie nichts davon halte.

Selbst Majnouns Standpunkt war nicht ohne Subtilität oder Ambivalenz. Er war immer stolz auf seine Fähigkeit gewesen zu tun, was sein Besitzer von ihm verlangte. Er hatte sich die Kekse und Leckereien, die ihm zuteilwurden, verdient, aber er hatte das Ritual auch gehasst. Nicht selten musste er das Verlangen unterdrücken, die Flucht zu ergreifen. Tatsächlich wäre er seinem Besitzer entlaufen, wäre er in der Lage gewesen, die Leckereien mitzunehmen – und nicht nur die Leckereien, sondern das ganze Gefühl der Verwöhnung, getätschelt und so angesprochen zu werden, wie es sein Herrchen tat, wenn er gute Laune hatte. Jetzt, da er frei war, war es natürlich sinnlos, an so etwas auch nur zu denken.

 

Frick und Frack, beide noch zu jung, um ganz die Freuden der Unterwürfigkeit verstanden oder erfahren zu haben, waren die einzigen, die Majnouns Vorschlag völlig zustimmten, dass sie ein Versteck benötigten, sobald ein Besitzer auftauchte.

Atticus, dessen Gefühle so nuanciert waren wie die Majnouns, sagte trotzdem:

Warum verstecken? Haben wir keine Zähne?

Er fletschte seine Zähne, und alle verstanden die furchtbare Andeutung.

Ich könnte mein Frauchen nicht beißen, sagte Athena. Sie wäre nicht erfreut.

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, sagte Atticus.

Die kleine Hündin hat nicht Unrecht, sagte Majnoun. Wenn wir unsere Besitzer beißen, bemerken das andere Besitzer und ärgern sich über unsere Freiheit. Ich habe gesehen, wie viele freie Hunde geschlagen wurden. Wir sollten nicht beißen, außer wenn wir angegriffen werden. Und wir sollten eine Unterkunft finden.

Das ist alles Gerede, sagte Atticus. Es ist nicht typisch für Hunde, so viel zu reden. Wir werden Nahrung finden. Dann kümmern wir uns um eine Unterkunft.

Sie gingen jagen. Das heißt, einige machten sich auf die Suche nach dem, was sie als Futter kannten, und andere verfolgten die Tiere, die sie atavistisch mit Nahrung assoziierten. Sie waren äußerst erfolgreich. Ihr Instinkt führte sie unfehlbar zu den kleinen Tieren – vier Ratten, fünf Eichhörnchen –, die sie mit effizienter Geschicklichkeit töteten. Nach zwei Stunden, als die Morgensonne das Land beschien und den See bläulich grün färbte, hatten sie Ratten, Eichhörnchen, Hot Dog Brötchen, Bro­cken von Hamburgern, jede Menge Fritten, halbgegessene Äpfel und Konfekt angehäuft, aber alles war so mit Dreck bedeckt, dass man kaum noch etwas davon erkennen konnte. Die einzig wirkliche Enttäuschung war, dass sie es nicht geschafft hatten, auch nur eine Gans zu fangen. Die meisten Hunde mieden die kleinen Tiere und machten sich über die Essensabfälle her. Sie ließen die kopflosen, halbgekauten Reste der Ratten und Eichhörnchen in einer geraden Reihe auf dem Hügel neben dem Boulevard Club liegen.

In den Tagen, die folgten, gab es viele Anzeichen – subtil und eindeutig zugleich –, dass ihre neu erworbene Nachdenklichkeit zu einer kollektiven Veränderung geführt hatte. Zunächst blühte eine neue Sprache unter ihnen auf und änderte die Art und Weise, wie sie sich miteinander verständigten. Diese Veränderung zeigte sich besonders bei Prince. Er fand unaufhörlich Wörter in seinem Kopf, Wörter, die er mit den anderen teilte. Es war Prince, der sich das Wort für »Mensch« einfallen ließ (ungefähr: grrr- ahhi, der Knurrlaut, gefolgt von einem für Menschen typischen Geräusch). Dies war eine bedeutsame Fähigkeit, da die Hunde nun über die Primaten ohne Erwähnung ihrer Herrschaft sprechen konnten. Es war auch Prince, der ersann, was das erste Wortspiel der Hunde genannt werden könnte: das Wort für »bone« in der neuen Sprache (ungefähr: rrr- eye) und das Wort für »stone« (ungefähr: rrr- eeye) ähnelten sich sehr. Als Prince eines Abends gefragt wurde, was er aß, antwortete er »stone« und zeigte auf einen Knochen. Einige Hunde fanden das amüsant, aber auch zutreffend, denn die besagten Knochen waren schwer zu kauen.

Sie wurden auch geschickte Jäger und anspruchsvolle Abfallsucher, als ihnen ihr Territorium vertrauter wurde: Parkdale und High Park, von der Bloor Street bis zum See, von Windemere bis Strachan. Alle lernten schnell die Orte, wo sie zusammenkommen konnten, ohne allzu viel Aufmerksamkeit von Menschen oder Hunden auf sich zu ziehen. Außerdem lernten sie, angespornt durch die Beobachtungen des Sonnenlichts und der Schatten, die Prince anstellte, den Tag in nützliche Einheiten aufzuteilen. Das heißt, gemeinsam entdeckten sie die Zeit, die das quälende Bewusstsein ihres Vergehens milderte. (Der Tag, von Sonnenaufgang bis zum ersten Moment ihres Untergangs, wurde in acht ungleiche Einheiten geteilt, von denen jede einen Namen bekam. Die Nacht, wenn die Welt still zu werden begann, bis zum ersten Vogellärm, wurde in elf Einheiten geteilt. So bestand für die Hunde ihr Tag statt aus vierundzwanzig aus neunzehn Einheiten.)

Es war zum Teil diese neue Beziehung zu Zeit und Ort, die die Einrichtung ihres Verstecks beeinflusste. Atticus, praktisch und überzeugend (obwohl er der neuen Sprache misstraute) schlug vor, sich in ein Stück Wald im High Park zurückzuziehen, eine Lichtung unter einer Anhäufung immergrüner Bäume. Dorthin brachten sie Tennisbälle, Laufschuhe, Kleidung, Decken, Quietsch­spielzeug … alles, was sie finden oder stehlen konnten, um den Ort behaglicher zu machen. Sie hatten nicht vor, für immer in diesem Waldstück zu bleiben. Es sei, sagte Atticus, behelfsmäßig und vorläufig, ein Ort, um sich nach Einbruch der Dunkelheit zu treffen, aber bald hatten sie das Gefühl, als wäre dort ihr Zuhause. Es roch nach Kiefernharz, Hund und Urin.

Doch das wohl auffälligste Indiz, dass das »Primatendenken« nützlich war, zeigte sich in der Beziehung zwischen Bella und Athena. Die zwei waren völlig unterschiedlich, was Gewicht und Höhe betraf. Sie hatten das gleiche Alter – drei Jahre –, aber Athena brachte kaum vier Pfund auf die Waage, und ihre Beine waren kurz. Sie konnte nicht mithalten, wenn das Rudel losrannte. Bella war über einen Meter groß und wog etwa zweihundert Pfund. Sie lief nicht viel. Vielmehr bewegte sich Bella, auch wenn sie nicht die nachdenklichste war, majestätisch, mit Bedacht. Als sie sah, dass Athena nicht mit den anderen mithalten konnte, und sie sich daran erinnerte, wie ein vierjähriges Mädchen auf ihr geritten war, ließ Bella es zu, dass Athena auf ihrem Rücken saß.

Für Bella war das kein Problem. Sie kniete mit den Vorderbeinen nieder und wartete, bis der Pudel hinaufgeklettert war. Anfangs fiel Athena fast immer sofort wieder herunter, und es tat ihr weh. Doch sie lernte schnell. Nach dem dritten Tag, ihre Krallen benutzend und in Bellas Nacken beißend, um Halt zu finden, befand sich Athena so im Gleichgewicht, dass es schwer gewesen wäre, sie abzuschütteln. Sie bildeten einen seltsamen Anblick. Bella fühlte sich nach einigen Tagen sicher genug, um leicht trabend und arrythmisch zu rennen, wenn sie es wollte. Ihr Widerrist senkte und hob sich, während Athena wie ein Passagier auf dem Vorderdeck eines Schiffes fröhlich auf ihrem Platz ausharrte.

So aufregend das für die beiden auch war – sie fühlten sich bald wie Geschwister – sorgte das Arrangement für das Rudel Ärger. Athena und Bella verursachten ungewollte Aufmerksamkeit. Eines Tages, als die Hunde am Seeufer nach Essbarem suchten, bemerkte eine Gruppe männlicher Jugendlicher Athena auf dem Rücken von Bella. Zuerst amüsiert und dann feixend, begannen sie, den Hunden hinterherzulaufen. Nicht vertraut damit, wie fremd Menschen sind, konnten Bella und Athena den Übermut der Jugendlichen nicht von Aggression oder Abneigung unterscheiden. Die Jungen nahmen Steine und warfen sie auf die Hunde. Bella war nicht schnell, und sie konnte keine lange Strecken laufen, ohne eine Pause zu machen. Nach einer Weile wurde sie langsamer, und ein Stein traf Athena, die vor Schmerz jaulte und von Bellas Rücken fiel. Athenas Unglück und Schmerz rief bei den Menschen noch größere Belustigung hervor. Sie sammelten mehr Steine in der Absicht, den Hunden so viel Leid zuzufügen, wie sie konnten.

Auch wenn Bella von Natur aus ausgeglichen und nur schwer zu reizen war, war sie, als die jungen Männer näherkamen, um Athena besorgt und bereit zu töten. Als einzige List kam ihr in den Sinn, zuerst den größten der Angreifer auszuschalten, und so lief sie knurrend und unbeirrt auf die Gruppe zu. Sie stürzte sich auf den Anführer, bevor er oder einer der anderen reagieren oder wegrennen konnte. Ihre zweihundert Pfund auf ihn werfend, schnappte sie instinktiv nach seiner Kehle und hätte ihm den Hals durchgebissen, hätte er nicht im letzten Moment seinen Arm gehoben. So biss sie tief in seine rechte Hand bis auf den Knochen. Blut spritzte, als er unter ihr aufschrie. Die anderen, obwohl sie mit Steinen bewaffnet waren, sahen wie gelähmt zu. Sie standen bewegungslos und hörten ihren Freund um Hilfe schreien. Ihre Angst gab Bella einen Vorsprung. Sie ließ von dem Jungen ab und rannte direkt zu dem, der ihr am nächsten stand. Schreiend lief er davon und überließ seine Freunde ihrem Schicksal.