Die Prozessionen der Karwoche in Mendrisio

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Die Prozessionen der Karwoche in Mendrisio
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Anastasia Gilardi

Die Prozessionen der Karwoche in Mendrisio

Vorwort

Prozessionen und Trasparenti: Geschichte und Ursprung

Die Prozessionen: Aufbau und Zusammensetzung

Die Gründonnerstagsprozession: Aufstieg zum Kalvarienberg oder die «Funziun di Giüdee»

Die Karfreitagsprozession: «Entierro»

Die Prozessionsstatuen

Der tote Christus

Die Schmerzensreiche Muttergottes

Die tragbaren Lampions oder Leuchten

Die Trasparenti

Die Themen der ersten Tore

Der Stil der ersten Trasparenti

Die Trasparenti vom 19. Jahrhundert bis heute

Die Ausführungstechnik der Trasparenti

Die Trasparenti und die Ortschaft

Wo werden die Trasparenti das Jahr über aufbewahrt?

Apparate

Strecke und Anordnung der Prozessionen

Vorwort

Die Prozessionen der Karwoche in Mendrisio zählen zur Tradition der religiösen Feiern mit Beteiligung der Bevölkerung, wie die Heiligen Darstellungen, die man seit uralten Zeiten kennt und die früher sehr stark verbreitet waren. Durch die Säkularisierung im letzten Jahrhundert sind diese Bräuche jedoch fast gänzlich in Vergessenheit geraten. Doch in Mendrisio wurde diese Tradition nie unterbrochen; sie ist noch heute lebendig und in der Bevölkerung verwurzelt, die Einwohner der Stadt sind in verschiedenen organisatorischen Funktionen und als Darsteller aktiv daran beteiligt. Bei den Vorbereitungen und dem Ablauf befolgt man immer noch die über Jahrhunderte hinweg überlieferten Regeln und «Rituale». Die Prozessionen sind eine Kombination aus Ritualen, Tradition, Glaube, Theater und Folklore; was sie gegenüber anderen, ebenfalls noch heute in Europa praktizierten Prozessionen auszeichnet, sind die Trasparenti: Hunderte durchscheinende, von hinten beleuchtete Gemälde. Es handelt sich um regelrechte Kunstwerke, die ab 1791-92 von unterschiedlichen Künstlern angefertigt wurden. Diese Bilder werden an den Häusern der Ortschaft entlang der Prozessionsstrecke aufgehängt, zusammen mit über 300 Lampions, die man an der Karfreitagsprozession in der Hand mitträgt. Ausserdem feiert man in der Kirche San Giovanni, des ehemaligen Klosters der Serviten Marias, die Siebentägige Feier der Trauernden Jungfrau: Jeden Abend wird einem der Schmerzen Marias gedacht und das Stabat Mater (dessen lateinischer Text Jacopone da Todi zugeschrieben wird) wird mit Originalmusik aufgeführt. Der virtuelle Raum der Kirche wird dabei durch ein Altarbild aus dem Jahre 1794, erweitert, welches eigens entworfen wurde, um die Muttergottesstatue aufzunehmen (siehe Abb. S. 21).

Die Stiftung Historische Prozessionen von Mendrisio (Fondazione Processioni Storiche di Mendrisio) setzt sich für die Bewahrung und Förderung dieser Tradition ein; zwei in unregelmässigen Abständen tagende Kommissionen überwachen den Schutz, die Erhaltung und die Restaurierung der alten Trasparenti (von denen einige im Museo del Trasparente in der Casa Croci ausgestellt sind), sowie die Anfertigung von Kopien und die Erstellung von Neuanfertigungen.


Der älteste existierende Stadtplan von Mendrisio aus dem Jahre 1885 mit den vermutlichen Positionen der ersten 10 Tore.


F. Catenazzi (?), Jesus vor Herodes, um 1795, Tor Nr. 5, und kleine Leucht-Balkone in der Via San Damiano.

Das hohe Alter und die Einzigartigkeit der Trasparenti, die Vielfalt, das Überdauern und die Vitalität dieser Traditionen waren die Gründe, die dazu führten, die Prozessionen zur Aufnahme in die Liste der Vorschläge für das immaterielle Kulturerbe der UNESCO vorzuschlagen.


Die Einreichung des Dossiers für die UNESCO-Kandidatur am 27. März 2018. Von links: Nadia Lupi, Mitglied Stiftungsrat Prozessionen, Samuele Maffi, stellvertretender Bürgermeister von Mendrisio, Davide Vitali, Bundesamt für Kultur, Giuseppe Poma, ehemaliger Präsident und Förderer der Stiftung Prozessionen, Francesca Luisoni und Giovanna Ceccarelli, wissenschaftliche Beraterinnen Ufficio dialettologia e etnografia (Amt für Dialektologie und Ethnographie) des Kantons Tessin.


Die Bruderschaft von Morbio Superiore mit den Passionswerkzeugen, Fotografie aus dem Jahre 1924.

Die Hauptbestandteile der Prozessionen sind:

1) Die 'historische' Veranstaltung, die als «Funziun di Giüdee» bezeichnet wird, am Gründonnerstagabend. Der das Kreuz tragende Christus und weitere Personen in Kostümen (Einwohner von Mendrisio) ziehen durch die Gassen und stellen das biblische Ereignis dar.

2) Der 'religiöse' Umzug am Karfreitag, der «Entierro» genannt wird, also die «Beerdigung» mit Statuen des toten Christus und der Schmerzensreichen Madonna, begleitet vom Klerus, Musikgruppen, Symbolen der Bruderschaften und rund 300 tragbaren Lampions.

3) Verschiedene Objekte und Kunstwerke: An diesen Tagen ist die Stadt mit den Trasparenti (sowohl zwischen den Häusern aufgehängte Bögen als auch Bilder und Lampions) geschmückt; an der Prozession werden die Holzstatuen der Schmerzensmutter (Maria mit den 7 Schwertern) und des toten Christus zusammen mit verschiedenen weiteren symbolischen Objekten in Form von Skulpturen und Bildern mitgeführt; die ersten Kostüme des Umzugs am Gründonnerstags hatte man 1898 von der Theaterschneiderei der Mailänder Scala anfertigen lassen; seitdem werden sie im alten Stil ausgebessert.


Ausstellung zu den Gründonnerstags-Bräuchen im Gartenpavillon hinter der Kirche San Giovanni.

Prozessionen und Trasparenti: Geschichte und Ursprung


Giotto, Der Heilige Franziskus führt die Krippe in Greccio ein, 1295-99, Fresko, Basilica superiore in Assisi. Das Kreuz und das Pult – die perspektivisch verkürzt von hinten dargestellt werden – erlauben eine Einordnung des Bildes in die theatralischen Aufführungen der Heiligen Darstellungen.

Die Heiligen Darstellungen

Seit dem Mittelalter entstanden hauptsächlich im Mittelmeerraum verschiedene Heilige Darstellungen, die sich schnell nördlich der Alpen verbreiteten. Dabei werden die entscheidenden Episoden aus dem Leben Christi aufgeführt, wobei einerseits das Menschsein der Protagonisten ausdrucksvoll gezeigt wird, andererseits die religiöse Bedeutung der in den heiligen Texten erwähnten Geschehnisse. Besonders erfolgreich und traditionell waren die Darstellungen der letzten Tage Christi auf der Erde, also die Ereignisse in der Karwoche: Diese begangen oft mit der Fusswaschung und endeten mit der Auferstehung. Es gab unterschiedliche Varianten, je nach kultureller Offenheit und finanzieller Mittel der Orte, an denen sie aufgeführt wurden. In einigen Fällen hatten sie eine liturgische Komponente, als Abfolgen von Gesängen und Aufführungen, oder es handelte sich um Prozessionen. Diese unterstanden den kirchlichen Autoritäten. Andere wiederum entwickelten sich von den laude spirituali zu regelrechten Theatervorführungen mit oft volkstümlichem Charakter, die zumeist von den Bruderschaften oder einem religiösen Orden organisiert wurden. Dazu zählten im Mittelalter die Franziskaner, die ihrem Ordensgründer, dem Hl. Franziskus, nacheiferten, der in der Heiligen Nacht im Jahre 1223 in Greccio die erste Krippe aufstellte, eine 'lebendige' Darstellung der Episode aus dem Evangelium. Aus diesen Aufführungen entwickelten sich später die modernen Formen des Theaters, der Oper in der Musik und der Oratorien.

 

Die ersten gesicherten Nachweise für die Prozessionen in Mendrisio gehen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Die erste eindeutige urkundliche Erwähnung bezieht sich auf die Gründonnerstagsprozession. Sie findet sich in einem Rechnungsbuch der Sakramentsbruderschaft, die für die Durchführung der Prozession verantwortlich war und betrifft die Ausgaben für den Kauf von Wachs und Öl zur Beleuchtung des nächtlichen Umzugs im Jahre 1697. Für sämtliche Aktivitäten in den Kirchen sind die Ausgaben für Wachs aufgeführt. Dieses verwendete man in Form von einzelnen, grossen und kleinen oder doppelten Kerzen, die man «Torchie» nannte, d. h. 'aufgewickelt'. Die Prozessionen wurden aber vermutlich schon ein Jahrhundert zuvor abgehalten, zumindest aber seit Mitte des 16. Jahrhunderts. In den Dokumenten sind auch vor Mitte des 19. Jahrhunderts keinerlei Pastorenbesuche verzeichnet, obwohl aus anderen Quellen bekannt ist, dass diese bereits vorher stattgefunden hatten. Das liegt vielleicht daran, dass man sie im Zuständigkeitsbereich der Bruderschaften und religiösen Orden sah: Der Servitenorden Marias (OSM) organisierte die Karfreitagsprozession, der Sakramentsorden die am Gründonnerstag. Leider existieren von der letztgenannten Bruderschaft keine Bücher vor Mitte des 16. Jahrhunderts in Mendrisio; auch die wenigen Male, in denen Sonderausgaben erwähnt sind, wird nur sehr selten der Grund für diese Ausgaben aufgeführt.


Nur die Drucke, auf denen alte Fotografien zu sehen sind, liefern noch Einblicke in den nicht «beaufsichtigten» Brauch der Seitenschilder in den Toren, ohne Rücksichtnahme auf die chronologische Abfolge der dargestellten Episoden und der Beziehungen zwischen der Szene im Mittelteil und den Texten der Propheten auf den Seitenteilen. Nach dem Ausbau der Strasse kamen weitere Schilder hinzu, bis der von den Toren besetzte Platz gefüllt war.


Andachtstafel mit dem Wappen der Brüder des Allerheiligsten Sakraments, 1889, aus der Kirche Santa Maria, heute in der Kirche San Giovanni.

Die Gegenreform und die Bruderschaften

Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts fand auch in Mendrisio, das bis 1885 zur Diözese Como gehörte, eine allgemeine Neuordnung der geistlichen Strukturen statt, die mit einer Vereinheitlichung der lokalen Sitten und Gebräuche nach den Regeln der Gegenreform einherging. Dies war auch auf den kulturellen Einfluss von Karl Borromäus, dem Erzbischof der angrenzenden Diözese von Mailand, zurückzuführen. Der Klerus der Gegenreformation war besonders sensibel für die örtliche Lage, wurden doch die italienischsprachigen Vogteien bis 1798 von den zwölf Schweizerischen Kantonen verwaltet, die alle zwei Jahre einen Landvogt einsetzten, der oft der protestantischen Religion angehörte. In praktisch jeder Pfarrei förderte man die Gründung oder Neuausrichtung einer oder mehrerer Bruderschaften. Diese Vereinigungen wurden von gläubigen Laien geführt, die sich – häufig aus Reue – besonders zu wohltätigen oder religiösen Werken berufen fühlten, mit dem Ziel, den öffentlichen Kult zu fördern und zu verbreiten. In Mendrisio blieben drei dieser Strukturen bis ungefähr Mitte des 20. Jahrhunderts erhalten: der Rosenkranzorden (vielleicht seit dem frühen 16. Jahrhundert), der Sakramentsorden (sicher seit 1518; 1585 übernahm er die Kirche Santa Maria nascente, in der noch heute die «Beerdigung» stattfindet) und der Orden der Heiligen Maria der Befreierin des Einsiedlers Hl. Nikolaus (seit 1606, der einzige heute noch in Mendrisio aktive Orden).

Einige Jahre später, im Jahre 1712, findet man unter Ausgaben für Wachs die Karfreitagsprozession angegeben, die von den Klosterbrüdern von San Giovanni, die dem Servitenorden angehören, organisiert wurde. Seit diesem Datum findet man fast jedes Jahr Ausgaben und unterschiedliche Vermerke im Zusammenhang mit den Prozessionen, und zwar auch in anderen Büchern sowohl der Kirchen als auch der Gemeinde Mendrisio. Im Jahre 1769 ordnete der österreichische Kaiser Joseph II. die Schliessung mehrerer Klöster im nahe gelegenen Italien an und zwang einige Mönche, die aus der Schweiz stammten, zur Rückkehr in ihre Heimat: darunter auch Bruder Giuseppe Maria Baroffio vom Servitenorden, der viele Werke, viel Wissen und auch viel Geld nach Mendrisio brachte; dies war vermutlich der Grundstock für die Anfertigung der ersten Trasparenti im Jahre 1791. Mit der Auflösung des Sitzes dieses Ordens, dem Kloster San Giovanni, im Jahre 1852 ging auch ein Grossteil seines Archivs verloren.

Seit der Gründung des neuen Kantons im Jahre 1803 übernahm die neue Gemeinde Mendrisio eine viel aktivere Rolle bei der Organisation der vorösterlichen Darbietungen; diese boten dem Ort die Gelegenheit, sich von anderen in der Nähe gelegenen Städtchen abzuheben, und schon damals zogen diese Prozessionen viele Zuschauer an. So liessen verschiedene Privatbürger sich neue Trasparenti anfertigen, um sie an ihren Häusern aufzuhängen. Seit 1836 leistete die Gemeinde nicht nur einen Beitrag zur Ausstattung der Werke, sondern beauftragte auch den aus Mendrisio stammenden Maler Augusto Catenazzi (1808-1880) mit der Anfertigung von 12 neuen Leuchten für den Corso Bello. Dem Tagebuch des Geistlichen Don Giuseppe Franchini entnehmen wir, dass er der edle Spender war. Schliesslich, im Jahre 1898, trat vielleicht erstmals offiziell eine Kommission zusammen, um die Veranstaltungen zur sogenannten «ersten Einhundertjahrfeier» der Neuorganisation der historischen Prozessionen einzuführen und zu organisieren. Man wählte dieses Datum, weil es das letzte Jahr war, in dem es in Mendrisio einen nicht namentlich bekannten Landvogt gab, der in dem einzigen existierenden, undatierten handschriftlichen Dokument, das die Paradeordnung der Karfreitagsprozession enthält, als Teilnehmer aufgeführt wird (siehe Abb. S. 16). Seit dieser Zeit werden die meisten Unterlagen dazu im Archiv der Institution aufbewahrt, die seit 2008 für die gesamte Organisation der Veranstaltung verantwortlich ist: die Stiftung Historische Prozessionen von Mendrisio mit Sitz in der alten Casa Maggi. Hier werden auch die meisten Trasparenti eingelagert und hier befindet sich die Werkstatt für die Restaurierung der heute noch gezeigten Trasparenti; die grössten und ältesten Trasparenti befinden sich in dem vom Kunstmuseum Mendrisio eingerichteten Lager und einige auch im Museo dei Trasparenti in der Casa Croci (siehe S. 43-44).

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