Buch lesen: «Die Rosa-Hellblau-Falle»
Zum Buch
Rosa ist für Mädchen, Hellblau für Jungs, nach diesem Prinzip sind ganze Kaufhausabteilungen geordnet. Lego hat gerade eine neue Mädchen-Spielsteinreihe auf den Markt gebracht, für die Jungs gibt es eigene Cyber-Raketen-Roboterwelten. Als emanzipierte Erwachsene haben wir Geschlechterklischees längst für überwunden gehalten, doch Eltern werden derzeit wieder unerbittlich mit ihnen konfrontiert. Alles nur gut gemeint und kein Problem? Sind Geschlechterunterschiede nicht vielleicht wirklich angeboren und damit eine Lebensrealität?
Almut Schnerring und Sascha Verlan, selbst Eltern von drei Kindern, beschäftigen sich mit den Rollenklischees, die derzeit wieder fröhlich ins Kraut schießen, eine ganze Produktindustrie am Leben halten und sich zunehmend in den Köpfen der Betroffenen festsetzen. Hautnah und pointiert beschreiben sie Szenen aus dem Familienalltag, hören sich in Kindertagesstätten um, diskutieren mit Marketingstrateginnen, Genderforschern, Pädagoginnen und, natürlich, mit anderen Eltern. Wie würden unsere Kinder aufwachsen, wenn die Klischeefallen und Schubladen nicht immer wieder bedient würden? Ein Aufruf zum Widerstand, der ganz konkrete Tipps bietet, wie sich die Genderfalle im Alltag umschiffen lässt.
Über die Autoren
Almut Schnerring ist Kommunikationswissenschaftlerin, Journalistin und Trainerin. Als »Wort & Klang Küche« schreibt und produziert sie gemeinsam mit Sascha Verlan Hörspiele und Radiofeatures für den öffentlich-rechtlichen Hörfunk. Almut Schnerring und Sascha Verlan leben mit ihren drei Kindern in Bonn.
Sascha Verlan ist Literaturwissenschaftler, Regisseur und Journalist. Als »Wort & Klang Küche« schreibt und produziert er gemeinsam mit Almut Schnerring Hörspiele und Radiofeatures für den öffentlich-rechtlichen Hörfunk. Almut Schnerring und Sascha Verlan leben mit ihren drei Kindern in Bonn.
Almut Schnerring / Sascha Verlan
DIE ROSA-HELLBLAU-FALLE
Für eine Kindheit ohne Rollenklischees
Verlag Antje Kunstmann
INHALT
Vorwort von Ferda Ataman
#Rosahellblaufalle 2021
Die FAQs zur Rosa-Hellblau-Falle
Einleitung
1Mathe ist kein Bauchgefühl
Warum Klischees so beharrlich sind
2Von Beginn an zwei Welten
Warum wir schon vor der Geburt Unterschiede machen
3»Du wärst jetzt wohl mal die Mutter«
Rollenklischees im Kindergarten – und wie es anders geht
4Wir Gatekeeper
Im Spielzeugland der Marketingstrategen
5Strammer Max und Elfentrank
Was Ernährung mit dem Geschlecht zu tun hat
6Nachmittage zwischen Blutgrätsche und Prinzessinnen-Cup
Das Rollenbild vom echten Kerl
7»Mann redet, Frau nackig«
Geschlechterrollen in den Medien
8Hilfe für Bildungsverlierer
Allein oder zusammen – wie Schulen weiterführen
9Zwischen fünf und Sex
Körperbilder
10Wenn die Fachmännin mehr Manpower braucht
Sprache der Macht und Macht der Sprache
11Schluss
Braunäugige und Blauäugige
Dank
Literatur
Anmerkungen
VORWORT
Mal Hand aufs Herz: Sind für Sie wirklich alle Menschen gleich? Oder legen Sie nicht doch Wert auf ein akademisches Umfeld bei der Kinderbetreuung und der richtigen Schule? Lotsen Sie Ihren Sohn im Kaufhaus vielleicht unbewusst weg vom Spielzeugregal mit Puppen und Haushaltsdingen und hin zu den Angeboten für Jungs? Gibt es Verhaltensweisen oder Merkmale, die Sie als ›unmännlich‹ oder auch ›nicht weiblich genug‹ empfinden? Und prüfen Sie bei manchen Spielfreund*innen ihrer Kinder das Elternhaus etwas genauer, als bei anderen? Wenn ja, sind Sie damit nicht allein.
Gesellschaftlich normierte Sichtweisen auf Gruppen haben mit den Informationen zu tun, die wir zu einem Thema haben, und damit, wie unser Gehirn diese Informationen verarbeitet. Bei ›Indien‹ denken deshalb viele Menschen spontan an Curry Pulver oder Yoga, bei Behinderung an einen Rollstuhl und bei ›Junge‹ an Fußball. Das menschliche Gehirn arbeitet pragmatisch und nicht ausgewogen-fair, also sind unsere Denkmuster geprägt von Klischees und Schubladen.
Phänomene wie Sexismus, Rassismus, Transfeindlichkeit, Ableismus (Abwertung von Menschen mit Behinderung) und ähnliches haben mit unseren Denkmustern zu tun. Ich sage unsere, denn wirklich niemand ist frei davon. Viele haben »Mitleid« mit behinderten Menschen, finden trans Personen »nicht normal«, glauben Schwarze Kinder kommen aus Afrika und seien nicht von hier. Die Denkmuster sind da, auch wenn dahinter keine böse Absicht oder feindliche Haltung steckt.
Seit Jahren reden sich Feminist*innen den Mund fusselig, dass ›Sexismus‹ nicht erst sichtbar wird, wenn eine Frau beleidigt oder sexuell genötigt wird. Bei Sexismus geht es um die Frage, wie unsere Gesellschaft tickt: also inwieweit Männer und Frauen unterschiedliche Rollen mit unterschiedlichen Eigenschaften zugeteilt bekommen. Dieses Verhalten ist leider problematisch für alle Beteiligten: Jungen und Mädchen werden in tradierte Verhaltensmuster gedrängt und andere Geschlechter sowie nicht-heterosexuelle Identitäten unsichtbar gemacht.
Sexistische Ansichten kommen oft als scheinbar nette Worte daher, wie etwa: »Du bist doch viel zu hübsch, um Feuerwehrmann zu werden.« Vermeintliche Komplimente wie dieses bekommen Kinder und Erwachsene gleichermaßen zu hören. Und immer, wenn darüber diskutiert wird, finden sich ein paar Neunmalkluge, die meinen, man dürfe sowas nicht Sexismus nennen – weil das ›echte Fälle‹ von Sexismus verharmlose. Doch echte Fälle sind es auch, wenn Eltern, Erzieher*innen, Lehrkräfte oder die Werbung Kinder unterschiedlich behandeln, weil sie Thomas oder Yasemin heißen. Das passiert meist ohne böse Absicht. Einfach nur, weil sie Mädchen und Jungen sind. Und trotzdem leiden Kinder unter diesen Zuschreibungen.
Dieses Buch ist enorm wichtig. Es zeigt auf, wie stark Sexismus noch immer unseren Alltag prägt. Es ist nicht nur ein Elternratgeber für alle, die wollen, dass ihr Nachwuchs sich frei entfalten kann – es ist auch ein gesellschaftspolitisches Manifest. Kapitel für Kapitel hilft es den Lesenden dabei, sich bewusst zu werden über Geschlechterrollen und -zwänge, in die wir gepresst wurden und die wir an unsere Kinder weitergeben. Wer »Die Rosa-Hellblau-Falle« gelesen hat, wird die Welt um sich herum mit anderen Augen sehen.
Ich habe dank der »Rosa-Hellblau-Falle« erstmals begriffen, warum sich Sexismus so hartnäckig hält, obwohl wir doch in einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft leben. Sich dessen bewusst zu werden, ist der erste, wichtige Schritt, um damit reflektierter umzugehen. Der nächste ist, sich mit anderen Menschen darüber auszutauschen. Ich habe dabei festgestellt, dass es vielen ähnlich geht, wie mir – dass auch sie die omnipräsenten Rollenklischees in der Erziehung, im Berufsleben oder auch im Supermarkt endlich überwinden wollen. Und das macht große Hoffnung.
Wer sich gemeinsam mit den Autor*innen auf den Weg raus aus der »Rosa-Hellblau-Falle« machen möchte, kann sich auch in den Initiativen engagieren, die von Almut Schering und Sascha Verlan gestartet wurden: dem ›Equal Care Day – Aktionstag für mehr Wertschätzung, Sichtbarkeit und eine faire Verteilung der Sorgearbeit‹, oder bei ›Goldener Zaunpfahl - Preis für absurdes Gendermarketing‹.
Doch zuerst einmal viel Spaß mit dieser spannenden Lektüre!
Ferda Ataman
#ROSAHELLBLAUFALLE 2021
Als wir 2012 mit der Recherche für die erste Auflage dieses Buch begannen, hatten wir in unserem Umfeld kaum Gleichgesinnte, mit denen wir uns über das Phänomen der Rosa-Hellblau-Falle® hätten austauschen können. Tatsächlich gab es noch nicht einmal eine Bezeichnung dafür, und wir überlegten hin und her, welchen Titel wir überhaupt wählen könnten, der unkompliziert auf den Punkt bringt, was uns mit drei Kindern jeden Tag, mal bewusster, mal unbewusst begegnete und im Weg stand: Die Zuweisung von Interessen, Eigenschaften, Farben, Fähigkeiten und Berufswünschen nach Geschlecht. Eine Gleichmacherei in Medien und Werbung, die alle Mädchen über den pinken Kamm schert und alle Jungs als wilde Raufbolde abstempelt. Die Hierarchie zwischen »Aber Hallo, an der ist wohl ein Junge verloren gegangen?!« und »Heul nicht, sonst denken die Anderen noch, du wärst ein Mädchen!«, die letztlich bis ins eigene Berufsleben hineinreicht, wo ein und dasselbe Verhalten einmal als durchsetzungsstark beziehungsweise als zickig bewertet wird, je nachdem, ob es um einen Mann oder eine Frau geht.
Die Rosa-Hellblau-Falle® war noch nicht besetzt, und so sollte es denn sein. Wir benannten unseren Blog danach, gründeten eine Facebook-Gruppe und waren schnell erleichtert, nicht mehr allein zu sein mit unseren Zweifeln und unserem Staunen darüber, was so schlimm daran sein soll, wenn unser Sohn die geblümte Jacke seiner Schwester trägt, warum Tanzen und Weinen als unmännlich gilt, und wie es dazu kommt, dass Mädchen in vielen Familien so viel selbstverständlicher in die alltägliche Familienarbeit einbezogen werden als Jungen. Die Überraschungseier mit rosa Blümchen waren gerade auf den Markt gekommen, es gab neuerdings violette Legosteine, und wir dachten, jetzt wäre aber langsam mal gut mit dieser »extra für Mädchen«-Werbeoffensive, die immer so ein bisschen nach Frauenförderung klingt, aber natürlich das genaue Gegenteil meint und bewirkt. Wie naiv wir waren!
Eigentlich wollten wir uns ja am liebsten direkt wieder abschaffen, hätten uns gewünscht, die Inhalte dieses Buchs würden sich wenige Jahre später bereits wieder als irrelevant erwiesen haben. Einige Jahre sind nun vergangen seit der Erstauflage 2014, und als Autor*innen freuen wir uns zwar über das anhaltende Interesse, gleichzeitig macht es uns doch fassungslos, dass sich keins der Kapitel erledigt hat, auch heute nicht. In manchen Bereichen ist die Situation nicht nur unverändert geblieben, sondern noch extremer geworden. Gender-Reveal-Partys zum Beispiel, ein Trend aus den USA, erfreuen sich auch in Deutschland zunehmender Beliebtheit: nicht nur, dass weit über 80 Prozent der werdenden Eltern gerne wissen wollen, welche Geschlechtsorgane ihr Ungeborenes hat (vgl. Kapitel 2), sie wollen sie auch klischeevoll feiern. Dafür färben sie das Innere von Kuchen, die dann beim Aufschneiden Rosa oder Hellblau enthüllen, lassen Luftballons in der entsprechenden Farbe aufsteigen oder entzünden mit Farbpulver gefüllte Raketen – in Kalifornien hat im Herbst 2020 eine solche Aktion einen tagelangen Waldbrand ausgelöst. »Was wird es denn?« – die Frage, mit der alles Leben beginnt, scheint noch wichtiger geworden zu sein.
War Rot vor einigen Jahren noch eine Farbe, die auch Jungen tragen durften (vgl. Kapitel 3), werden Eltern heute auf Spielplätzen angesprochen, gar gemaßregelt, warum sie ihrem Sohn denn eine rote Jacke gekauft hätten. Selbst Schuld, wenn das Kind dann als Mädchen angesprochen wird. Ist das so? Markieren wir neuerdings farblich das Geschlecht unserer Kinder, und suchen, damit Fremde es erkennen, die von Firmen entsprechend gelabelte Kleidung und Spielzeuge aus? Oder sollte es nicht erst einmal darum gehen, was uns und unseren Kindern gefällt, weil die individuelle Wahl doch wichtiger ist als ein Etikett? Allerdings gibt es inzwischen kaum mehr einen Produktbereich, in dem Waren nicht getrennt nach Rosa und Blau beziehungsweise Pink und Mattschwarz angeboten werden. Oft ist die pinke Version dann sogar etwas teurer. Dieses Preisgefälle in Rosa-Blau, das vor allem auf Drogerieprodukte angewandt wird, zum Beispiel bei Rasierern, bei Shampoo oder Parfum, gibt es auch in anderen Bereichen, wie eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes zum Gender Pricing1 2017 aufgezeigt hat, die diese Strategie eindeutig als diskiminierend einstuft. Von Hersteller*innen wird sie trotzdem verteidigt, indem die Verantwortung den Konsumentinnen angelastet wird: Selbst schuld die Frauen, wenn sie für die pinke Variante mehr bezahlen. Wirklich? Und vor allem: dürfen und wollen wir das dann auch Kindern anlasten?
Beim Kleiderkauf erkennt man heute noch deutlicher als vor ein paar Jahren die für Jungen gedachte Abteilung an der grün-braun-schwarz-matsch Farbpalette, an Botschaften rund um Coolness-Motoren-wilde Tiere. Farbenfroh, Glitzer-Lila-Rosa, aber auch Ponys, Regenbögen, Einhörner, Herzen und niedliche Tiere sind dagegen Mädchen vorbehalten2. Ausnahme: Es soll tatsächlich einmal ein paar Wochen lang Wendepailetten-Shirts mit Dinosauriern gegeben haben! Gendermarketing, die Werbestrategie, Produkte nach Geschlecht zu sortieren, hat den Regenbogen für Jungs eingeführt – für Kinderstoffe in sogenannten Jungenfarben wird das Violett ersetzt durch Grau. Und sie hat dazu beigetragen, dass sich Eltern im Kleiderkreisel vergewissern, ob das Shirt mit Dinosaurier-Aufdruck nicht vielleicht doch ungeeignet sei für den Sohn, weil der Dinosaurier einen Hauch von rosa Wangen hat. Sie hat unterstützt, dass beim Schuhkauf die Frage nach dem Geschlecht noch vor der Frage nach der Größe der Füße kommt. Eltern müssen sich fragen lassen, ob der Säugling im Kinderwagen wirklich und wahrhaftig ein Junge sei, mit so langen Wimpern? Sie hat mit dafür gesorgt, dass die meisten Interessen, Spielzeuge und Materialien nach Geschlecht sortiert werden, obwohl Bausteine, Puppenhäuser und Strickliesel in den 1970ern für alle da waren und sich auch seit den 1990ern die meisten Schulen einig wurden, dass aus pädagogischer Sicht nichts dafür spricht, Mädchen vom Werken und Jungen vom Nähen auszuschließen. Heute untergraben Marketingteams diesen Konsens und so manche*r beginnt in Folge zu zweifeln und jongliert in biologistischer Argumentation mit Hormonen, Genen und Steinzeitbrocken.
Rollenstereotype sind Jahrhunderte alt, aber nicht so alt, wie viele vielleicht meinen (vgl. »Die Rollenverteilung des Biedermeier« im Kapitel 5). Und allein in den Jahren seit Erscheinen der Rosa-Hellblau-Falle® haben Entdeckungen und Entwicklungen gezeigt, dass das binäre Weltbild nicht annähernd so unverrückbar und naturgegeben ist, wie jene behaupten, die »Ideologie« rufen, sobald sie das Wort »Gender« hören. So haben Archäolog*innen 2016 herausgefunden, dass der berühmte Wikingerkrieger von Birka in Schweden eine Frau war – Schwerter und Pfeilspitzen wurden jahrzehntelang als typische Grabbeigaben eines Mannes interpretiert. Ein Irrtum. Oder die ‚Liebenden von Modena‘, als Symbol ewiger Liebe zwischen Mann und Frau gedeutet – 2019 stellte sich heraus, es handelte sich um zwei Männer. Weitere Meilensteine auf dem Weg #RausAusDerFalle war 2017 der Beschluss des Deutschen Bundestags zur »Ehe für alle« und im selben Jahr das Urteil des Bundesverfassungsgerichts für einen dritten positiven Geschlechtseintrag. In Frankreich wurde 2018 ein Gesetz gegen Sexismus und damit auch gegen sexistische Werbung verabschiedet, und in Großbritannien warnt die ASA, die britische Entsprechung des deutschen Werberates, vor den Folgen stereotyper Werbebotschaften und hat 2019 eine Selbstverpflichtung dazu veröffentlicht. Allein die Sichtbarkeit und Relevanz junger Frauen wie Greta Thunberg und Malala Yousafzai oder die zunehmende Zahl an Ländern, die von Frauen regiert werden, zeigen, dass sich viel getan hat in den vergangenen, wenigen Jahren.
Trotzdem bleibt mit dem Gender Care Gap die Hauptursache für die geschlechtliche Lohn-, Renten- und Vermögenslücke nahezu unberührt. Er verhindert darüber hinaus die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe und das politisches Engagement von Frauen und verringert damit ihren Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse. Das hat nicht nur negativen Einfluss auf ihr individuelles Vorankommen, sondern steht auch wirtschaftlichen wie ökologischen Zielen im Weg. Der »Global Gender Gap Report 2020«3 zeigt, dass es noch ein Jahrhundert dauern wird, bis die Gleichberechtigung weltweit abgeschlossen sein wird, wenn wir keine zusätzlichen Maßnahmen ergreifen, um die Entwicklung zu beschleunigen. Wollen wir wirklich so lange warten?
Wachsendes Netzwerk, Vereinsgründung und Projekte der Rosa-Hellblau-Falle®
Unsere Kinder sind inzwischen alle drei in weiterführenden Schulen und haben natürlich durch viele Gespräche über Rollenklischees und Alltagssexismus herausgefunden, mit welchen rosa-hellblauen Sprüchen sie uns auf die Palme bringen können. Sie sind es aber auch, die uns mit kuriosen Anekdoten aus ihrem Umfeld, aus Schulunterricht, TikTok und Insta-Feed versorgen, die wir dann in unseren Workshops und Vorträgen in Kitas, Schulen, Unis und Firmen weitererzählen dürfen. Unsere Geschichten-Sammlung wächst vor allem, weil uns jede Woche Emails, Tweets und Direktnachrichten mit dem Hashtag #RosaHellblauFalle erreichen, gesendet von Gleichgesinnten, die von absurden Momenten und unfassbaren Dialogen erzählen. Immer wieder ist etwas dabei, bei dem wir denken, das sei nun wirklich nicht mehr zu toppen. Bisher haben wir uns leider jedes Mal getäuscht.
Wichtig ist uns, dem Missverständnis vorzubeugen, es ginge uns um irgendeine Schuldfrage. Wir wollen niemanden vorführen oder von oben herab erklären, was falsch und was richtig sei. Wir stecken doch selbst mit drin in der Falle! Wir sind mit denselben binären Erwartungen aufgewachsen und haben sie verinnerlicht. Aber nur im Austausch mit unseren Kindern, im Gespräch mit anderen können diese Prägungen bewusst werden. Und dafür braucht es auch diese lustigen, erschütternden, rührenden Geschichten. Wir wollen also in erster Linie informieren und sensibilisieren. Denn Vorurteile zu haben, ist nicht so schlimm wie zu glauben, man hätte keine! Wer das von sich meint, verbreitet sie munter weiter und merkt es nicht einmal. Jedenfalls haben wir uns lange sehr zurückgehalten mit Negativbeispielen aus dem Alltag anderer. Was zur Folge hatte, dass unser persönliches Erleben oft als Ausnahme herabgespielt wurde: »Also bei uns ist das kein Problem«, gehört zu den Antworten, die wir irgendwann, als es uns dann doch zu bunt wurde, ins »Bullshitbingo der Rosa-Hellblau-Falle« mit aufgenommen haben.
Und dann gratulieren wir! Denn es ist wirklich eine Freude, wenn jemand durchs Leben gehen kann, ohne jemals in eine Klischeeschublade gesteckt und dadurch eingeschränkt zu werden. Aber auch in deren Umfeld wird es Menschen geben, Kinder, die anderes zu berichten haben.
Der Austausch über all diese Themen hat nicht nur uns gefehlt, sondern wir durften erfahren, dass es Vielen ähnlich geht. So konnte ein Rosa-Hellblau-Falle®-Netzwerk zusammenwachsen, aus dem heraus inzwischen mehrere Projekte entstanden sind. 2018 haben wir den gemeinnützigen Verein klische*esc e.V. gegründet (klischeesc.de). Er verantwortet verschiedenen Projekte, wie zum Beispiel den »Goldenen Zaunpfahl«, Preis für absurdes Gendermarketing (goldener-zaunpfahl.de); das Freispiel-Abzeichen (freispiel-abzeichen.de), das Positivbeispiele hervorhebt, nämlich Unternehmen, die sich öffentlich und explizit gegen Gendermarketing positionieren; oder den klische*esc-Medienkoffer mit Fachliteratur und Bilderbüchern für Fachkräfte in Kindertagesstätten, die sich mit der Rosa-Hellblau-Falle® im Kita-Alltag und genderreflektierter Pädagogik befassen wollen. 2016 haben wir die »Initiative Equal Care Day« gegründet, ein Aktionstag und ein Netzwerk, in dem sich Menschen aus den unterschiedlichsten Care-Bereichen für mehr Wertschätzung, Sichtbarkeit und eine faire Verteilung der Sorgearbeit einsetzen und auf den Gender Care Gap und seine individuellen wie gesellschaftlichen Folgen hinweisen.
Es erleichtert ungemein zu lesen und zu hören, dass es vielen ganz ähnlich geht wie uns. Dass wir nicht alleine sind mit unserer Kritik an einem geschlechtergetrennten Angebot, das Mädchen mit einer rosa Puppenausrüstung und Putzwägelchen versorgen möchte und Jungs in die Abenteuer-Technik-Coolness-Ecke schiebt, die sich natürlich niemals pinke Knete, Feen-Müsli oder Glitzer Stifte wünschen könnten. »Sei alles, bloß kein Mädchen!« ist die Botschaft an Jungen, die immer lauter wird, anstatt als peinlicher Spruch ignoriert zu werden. »Du Mädchen« gilt nach wie vor als Schimpfwort und taucht inzwischen sogar im Bußgeldkatalog auf, macht € 200,-, wenn man es zu einem Polizisten sagt.
Ja, wir waren naiv, als wir glaubten, Chips für den Mädelsabend und Männersalz seien kurzlebige Aktionen, denn sie werden inzwischen wöchentlich abgelöst von noch absurderen Werbeideen: Ein Globus in zwei Versionen – in der Variante für Mädchen sind sogar die Ozeane pink und es schwimmt eine Meerjungfrau darin herum. Gegenderte Globuli, die Bibel für Frauen mit Blümchen, die Bibel für Männer mit Metall-Einband, Männermarzipan, Mädchen-Burger, Wasser für Ihn, Seife mit Mutti-Siegel, Tierbuggys und Fressnäpfe farbsortiert, denn für immer mehr Tierhalter*innen entscheidet nicht die persönliche Vorliebe sondern das Geschlecht von Hund, Katze, Fisch über die Farbwahl der Accessoires.
Das alles konnten wir nicht vorhersehen, weil uns die Tragweite des Begriffs »Zielgruppe« noch nicht erreicht hatte. Jedes Ding braucht seine Bestimmung, bevor es angeboten werden kann. Eine Schneeschippe für Menschen in Schneegebieten anzubieten, wäre zu schlicht gedacht. Es braucht natürlich auch eine pinke Schneeschippe, und diese nicht etwa für Menschen, die Pink mögen, sondern für Frauen, die ja, wie alle Welt weiß, die pink-rosa-lila Palette bevorzugen und deshalb ab Tag Eins in die Wiege gelegt bekommen – dass die Kausalitätskette andersherum ablaufen könnte, wer will das schon hören? Es bleibt deshalb natürlich nicht aus, dass auch das Buch selbst, »Die Rosa-Hellblau-Falle« eine Kategorie braucht, in die es gepackt werden kann, ein Regalfach, in dem es im Buchhandel von seiner Zielgruppe gefunden wird. Und das sind nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, Menschen, die sich für Geschlechterstereotype und Rollenvorbilder im Alltag, für Feminismus oder für Normierung im Marketing interessieren, sondern zuallererst jene, die sich von der Abbildung von zwei niedlich guckenden Babys angesprochen fühlen sollen: Eltern. Und da es in mancher Buchhandlung kein Fach für »Elternratgeber« gibt, sondern stattdessen das Regal »Mutter und Kind«, steht unser Buch ironischerweise oft dort: Die Rosa-Hellblau-Falle wird also in die Rosa-Hellblau-Falle® gesteckt.
Wer aber zu Beginn noch meinte, bei der Rosa-Hellblau-Falle® handle es sich um ein Spezialthema für Eltern, spürt bald, dass es sich an allen Ecken und Enden im Alltag bemerkbar macht, auch ohne Kinder. Hat man nämlich einmal den Blick dafür geschärft, wird klar, dass es sich bei der Reproduktion enger Rollenbilder um ein strukturelles Problem handelt, das an vielen Stellen institutionell verstärkt und zementiert wird. Es ist nur leichter zu erkennen, wenn man Großeltern hat, die dem Enkelsohn keinen Puppenwagen schenken wollen, wenn man ein Umfeld hat, das irritiert ist, wenn er länger in Elternzeit geht als sie und im Beruf zurücksteckt. Man kann ihm nicht so leicht ausweichen, wenn die mathebegabte Tochter aus der Berufsberatung die Empfehlung »Was mit Sprachen« mitbringt. Aber auch ohne den Blick auf Kinder wird klar, dass Interessen und Verhaltensweisen nach Geschlecht sortiert werden, auch wenn die meisten Personaler*innen überzeugt sind, »Also wir achten ja nur auf Qualität, nicht auf Geschlecht«.
Der sogenannte ›Unconscious Bias‹, die unbewussten Vorannahmen kommen immer dann an die Oberfläche, wenn wir nur behaupten, keine Unterschiede zu machen zwischen den Geschlechtern, Menschen unterschiedlicher Religion, Alter und Herkunft, aber die Auseinandersetzung scheuen mit den eigenen Prägungen … und auch den Vorteilen, die einzelne aus diesen Verhältnissen ziehen. Doch wenn sich das wirklich ändern soll und wir es ernst meinen mit dem Wunsch, dass die Fünfjährigen von heute in 20 Jahren nicht dieselben Vorträge halten und dieselben Bücher über Prinzessinnenjungs4 und das Mädchen für Alles5, über Unsichtbare Frauen6, Männlichkeit7 und die Mental Load Falle8, über Equal Care9 und Rosa-Hellblau-Falle® schreiben müssen, dann bleibt uns nichts anderes übrig als unsere eigenen Sozialisation zu reflektieren und anzuerkennen, dass sowohl Pay Gap als auch Care Gap und Alltagssexismus ihren Anfang im Kinderzimmer nehmen. Es hilft nur dann über die Lohnlücke zu diskutieren, wenn Jungen nicht weiterhin im Durchschnitt mehr Taschengeld und die teureren Geschenke bekommen als Mädchen. Es wird sich langfristig nichts ändern, wenn Mädchen zu Hause weiterhin mehr im Haushalt mithelfen müssen als ihre Brüder. Die #aufschrei-Debatte versandet, wenn wir nicht den Bezug herstellen zum Miteinander in Kitas und auf (Grund-)Schulhöfen, wo »Mädchen«, »schwul« und »Bitch« als Schimpfwörter durchgehen.
Wir kämpfen für mehr Gleichberechtigung und lassen zu, dass unsere Kinder zunehmend und immer stärker in zwei Schubladen gepresst werden, die außen schön rosa und hellblau sind und innen mit den Rollenklischees längst vergangener Zeiten ausgepolstert, damit das Erwachsenwerden nicht so weh tut. Zeit also, die Kinderwelt mit in den Blick zu nehmen bei der nächsten Sitzung oder Konferenz, bei der Zukunftsplanung, damit es nicht noch hundert Jahre dauert bis zu Gleichberechtigung und Wahlfreiheit.
Mit vielen Grüßen von
Almut Schnerring und Sascha Verlan
Insta: @RosaHellblauFalle
Twitter: @AlmutSchnerring + @SaschaVerlan
Seite: wu2k.de
Blog: rosa-hellblau-falle.de