Mutter

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Über dieses Buch

Am 21. Oktober 1921 stirbt Aline Valangins Mutter. Ihr Tod stürzt die 32-Jährige in eine tiefe Krise, die sie schreibend zu bewältigen sucht. Ins Tagebuch schreibt sie 1921/22 den Text «Mutter», eine ergreifende Hommage an die Frau, gegen die sie bei grosser Nähe und viel Liebe so lange gekämpft hatte. Denn Aline Valangin lehnte sich gegen die Besitzansprüche ihrer Mutter auf. Sie wollte nicht ihr Leben opfern, um die vom Ehemann ungeliebte Frau vor dem Alleinsein zu schützen. Sie zog in die Stadt, aber auch auf Distanz ging der Kampf zwischen Mutter und Tochter weiter.

Aufgewühlt und offen schildert Aline Valangin, wie sich ihre kindliche Liebe für die Mutter zunehmend in Hass verwandelte. Wie ihre Befreiung nur über «Verrat» möglich war, wie sie in die Arme eines Mannes flüchtete, obwohl sie schon bald an ihm zweifelte, und wie die Mutter in immer grössere Einsamkeit stürzte. Und sie zeichnet den Weg der Annäherung, die schliesslich am Sterbebett der Mutter möglich war.


Aline Valangin, 1889 bis 1986, aufgewachsen in Bern. Ausbildung als Pianistin. Verheiratet mit dem Juristen Wladimir Rosenbaum. Im Zürich der Dreißigerjahre empfing und betreute sie in ihrem Haus Emigranten und Künstler. Sie war mit Ignazio Silone und dem Komponisten Wladimir Vogel befreundet. Seit 1936 lebte sie im Tessin. Tätigkeit als Psychoanalytikerin, Publizistin und Schriftstellerin.

Aline Valangin

Mutter

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Liliane Studer

Limmat Verlag

Zürich

I

Mutter – Mutter –. Meine Mutter ist gestorben. Ich habe keine Mutter mehr. Meine Mutter ist tot.

Was ist das: tot sein?

Ich spür noch ganz genau ihre Stirn, wie ich sie stundenlang gestreichelt, als sie starb, in meiner Hand­fläche. Ich rieche noch ihre Haut, ich fühle sie unter meinen Lippen, glatt und warm und etwa so, wie nur die Mutter eine Haut hat. Ich sehe sie lächeln, so mühsam, denn das Gesicht wollte nicht mehr gehorchen, also so unendlich gütig, wie nur eine Mutter lächeln kann. Dieses Lächeln hat meine Härte und Bosheit geschmolzen. An ihm ist mein ganzer Stolz zusammengebrochen. Welche Tiefe, Güte, welch seltsames Verstehen braucht es, um so lächeln zu können.

Meine Selbstsucht und meine Eitelkeit, die mich von der Mutter getrennt hatten, standen nun vor mir in ihrer ganzen dummen Hässlichkeit. Ach, könnte ich je wieder gut machen, was ich aus trägem Herzen an der Mutter verfehlt, könnte ich büßen! Ich möchte hinknien in heißem Sand und beten, bitten, es soll mir einmal verziehen werden. Aber kann es?

Während ich dies schreibe, scheint mir, Mutter schaut mir über die Achsel zu. Sie hat ein junges Gesicht, fast wie sie auf ihren Mädchenphotographien hat, und lacht mich an. In der Hand hält sie einen seltsamen grauwollenen Sack, an dem sie eifrig strickte, seit sie gestorben ist, und in diesem Sack stecke ich. Und zwar kopfvoran stecke ich darin, aber nur ein gewichtloser Körper von mir, irgend ein Teil, der vielleicht in diesem grauen Sack büßt. – Ich selbst sitze hier am Schreibtisch bei der gelben Lampe, in einem grau und gelb gestreiften Kleid, über das die Leute draußen sich heute wunderten. Ich weiß gar nicht recht, was ich schreibe. Eigentlich wollte ich erzählen, wie Mutter gestorben ist. Schon oft wollte ich das niederschreiben, aber immer brech ich in Tränen und Verzweiflung aus, wenn ich beginnen sollte. Meine Sünde stand dann so unfassbar groß vor mir, dass ich den Mut verlor, ihr je mit Worten beizukommen. Und doch will ich das: ich muss es geschrieben vor mir sehen, wie alles gekommen ist und was ich ihr, meiner Mutter, getan habe.

Jetzt sehe ich sie, wie sie, ein ganz junges Mädchen, durch den Mittelweg in Großmutters Garten wandert, zwischen den Buchsträgern durch, dem Rasenplatz zu. Droben im Saal macht ihr Bruder Musik. Am Fenster steht sein Freund, ein junger Student wie er, und schaut in den Garten hinunter, der Gehenden nach. Er hat dunkle Locken und einen sehr weichen Mund. Sie setzt sich nun auf die alte Bank und sinnt. Viel lieber würde sie heiraten, als wieder als Erzieherin nach England fahren. Aber wen heiraten? Den blondwimprigen, faseligen Busenfreund des großen Bruders gewiss nicht. Viel eher jenen dunkellockigen mit dem weichen Mund, oben am Fenster … Und bald darauf war sie seine Braut. – Ich glaube, sie war eine glückliche, fröhliche Braut. Sie konnte lachen wie keine und zwitschern wie ein Vogel. Sie war hübsch und ihr Schwiegervater zeichnete sie aus durch etwas altmodische, aber durchaus betonte Galanterie. Dieser Schwiegervater – mein Großvater – war ein überaus geistreicher und kluger Mann, der französische Leichtigkeit mit einer calvinistischen Strenge zu verbinden wusste und es verstand, seinen ausgeprägten Willen in eine weiche Form zu kleiden, so dass er keinen verletzte und doch überall als äußerst bestimmt galt. Im Kreise meines Großvaters – alles ältere, aber lebendig gebliebene Männer – lebte sie auf, lernte, hörte und freute sich. Wohl war da die Schwiegermutter, und diese galt bei ihrem einzigen Sohne sehr viel, ja – sehr viel – doch dieses würde sich machen, dachte sie.

Es machte sich aber nicht. Schon 2 Wochen nach der Heirat kam die Schwiegermutter auf Besuch, und alle Zärtlichkeit des Mannes strömte auf diese. Sie war allein – und sie blieb allein. Der Mann, eine träge Natur, begriff ihre große Jugend nicht. Er bremste, in jeder Hinsicht bremste er. So wurde meine Mutter aus einem frohen Wesen eine gedrückte Frau. Als nicht sogleich Kinder kamen, brach sie eines Tages auf die Knie nieder und flehte ihren Gott unter Tränen­strömen an, er möchte ihr ein Kind schenken, sonst könne sie das Leben nicht tragen.

Und dann erwartete sie mich. Nun war sie glücklich. Der Mann konnte tun und nicht tun, was ihm gut schien, sie brauchte ihn nicht mehr, sie hatte ja das Kind. Nun brauchte sie nicht mehr zu lechzen nach einer andern Seele, die ihr in letzter Liebe zugetan, nun hatte sie ja das Kind. Nun konnte wer wollte den Mann in Beschlag nehmen, sie hatte das Kind.

Das Kind würde ein schöner Knabe werden, klug und rasch und in allem ganz anders als der Vater. Es würde ihr Freund werden und alles ersetzen, was sie in Brüche gehen sah. Ja, das Kind.

Fast ist sie daran gestorben. Der Mann hatte sich nicht die Mühe genommen, in seiner großen Trägheit nachzudenken, dass die Geburt eine schwere schwere Stunde für die Frau ist. Die erste beste Hebamme wurde bestellt. Sie erschien betrunken. Die Geburt dauerte zwei Tage und drei Nächte, und die ganze Zeit über war die trinkende und ständig angeheiterte Frauensperson um meine Mutter als einzige Hülfe. Sie schrie, in größerer seelischer Not noch als in körperlicher, obschon die physische Qual längst unerträglich war; sie schrie zum Himmel, er möge das Kind [unleserliches Wort] aus ihrem Leibe erlösen; sie schrie, sie brüllte, als die Schmerzen stiegen und unendlich sich ausdehnten, dass nichts als eine Hölle der Pein um sie war, das Kind möge unverletzt bleiben, es möge leben. Sie bäumte sich gegen die Schatten, die nach ihr griffen, gegen die Schwäche, die überhand nahm, und immer wieder schrie sie ihre Bitte um Erlösung. Langsam fing sie an, in Nacht zu tauchen. Seltsam war das. Sie wollte doch leben, aber etwas wollte nicht, dass sie lebe. Sie staunte. Müsste sie vielleicht sterben? Und ein Nein in ihr geschrien als Antwort. Und wieder beginnt der Kampf. Aber lahmer. Und wieder so eine Nacht und daraus eine Frage behalten: Wohl muss sie sterben? Oh, das schöne Leben. War es schön? Ja früher und jetzt … das Kind. Schrei um Schrei. Das Kind darf nicht sterben, auch nicht allein bleiben; also muss auch sie leben. Leben. Nicht dein Wille geschehe, nein, oh, bitte nein, nicht der deine. –

Und das Kind wurde geboren, mit ganz verschobenen Schädeldecken und einem Schopf braunen Haares. Es war ein braunes Mädchen. Ich.

War sie nun glücklich? Ich glaube nein. Ich war viel krank. An meinem Vater hatte sie wenig Stütze in schweren Stunden. Sie ging ihrer Wege, er die seinen. Aber allein war sie nicht mehr: sie hatte mich.

Wenn sie mich im Hof badete, standen die anderen Frauen vom Haus um uns herum und bewunderten meine starken, schlanken Glieder. Die Prinzessin, die im ersten Stock wohnte, richtete sich so ein, meine Badestunde auf dem Hofbalkon zu verbringen, und dann sprach sie oft freundlich mit meiner Mutter. Auf dem Spaziergang guckte ich mir sehr bald schon die Welt an und Mutter fand, kein Kind sei so frühreif wie ich. Mit 10 Monaten ging ich an ihrem Finger und damals ist sie wohl sehr glücklich gewesen.

Wenn ich versuche, meine ersten Erinnerungen an Mutter zu finden, so kommen Töne, einzigartige Töne von schöner Süße – und begleitet von einem eben so einzigartigen, mir eben so süßen Geruch. – Mutter. Spätere Erinnerungen: Mutters weiche Wangen, das lange schwarze glatte Haar und Lider. Noch später ernste Augen, ein Mund, der spricht, Laute wie aab und laad, die meinen Sinn in eine bestimmte geliebte und gefürchtete Richtung ziehen, die mich sanft dort anbinden, und immer deutlicher diese Süße, die keine irdische Süße ist. Wie Brot schmeckt Mutter, so köstlich wie gutes braunes Brot. Das wusste ich bald. Dann wieder: etwas unendlich Gutes beugt sich über mein Bettchen: Mutter. Riesenhaft groß ist sie – nur sie ist da, dunkel und süß. Die Vorhänge mit den bunten Blumen darauf, der rote Betthimmel dehnen und weiten sich, rund wie der Himmel, und Mutter ist darin. Oder: Nacht. Ich bin allein und die Luft knistert. Gleich wird ein Wolf durch die Vorhangspalte hineinspringen; er steht sicher schon davor und wartet nur auf den Augenblick, wo ich meine Augen schließe. Dann geht unten eine Tür. Mutters Stimme ertönt. Sie sagt dem Dienstmädchen etwas für den andern Tag. Und glatt wird rings die krause Luft. Der Wolf ist weg – war er je da. Nun kommt Mutter hinauf und mit ihr die Süße, die stets da ist, wo sie ist, und ohne die ich nicht sein kann.

 

Aber auch anderes: ich war bös. Mutter sagte, das Teufelchen sei in mir. Sie machte das Fenster auf und schickte das Teufelchen hinaus. Ich schaute ernst und etwas ängstlich zu, ob das Teufelchen auch wirklich gehen werde. Und es ging. – Aber später, als ich älter wurde, ging es nicht immer und nicht sogleich. Oft musste Mutter weinen, erst dann verließ es mich. Es war ein merkwürdiges Teufelchen. Ich spürte gleich, wenn es kam. Ich musste stets nein sagen, so fing es an, und dann musste ich nein tun. Ganz steif wurde ich inwendig, und Mutter und ich litten darunter und weinten uns zusammen aus, wenn ich wieder frei war. – Einmal hatte ich zu gehorchen. Das Teufelchen ließ es nicht zu. Es kam so weit, dass Mutter in ihrer Qual sagte, so habe sie kein Kind mehr und ich solle nur fortgehn. Ich litt grässlichen Zwiespalt. An ihr Herz fliegen und sie lieben, lieben, lieben – gerne, aber ich konnte nicht. Also bat ich um ein Bündelchen Kleider und als ich es erhielt, machte ich mich auf den Weg. Mutter stand unter der Türe und sagte mir Lebewohl. Ihre Stimme war ganz tief und die Augen fast schwarz. Dann wusste ich, sie stand am Fenster mit zuckendem Herzen, in größter Not: das Kind ging fort, es ging einfach fort. Es setzte ein rotes Beinchen vor das andere, schaute gradeaus und ging den Weg hinunter der Bahn zu. Sie stand und flehte innerlichst, das Kind möge die Qual hören und umkehren, umkehren – umkehren – Aber es ging immer weiter, ganz gleichmäßig. Sie stand und kämpfte einen harten Kampf mit ihrem Gott: ich will es nicht gehen lassen, es ist meines, es ist alles, was ich habe, ich kann nicht. Sie rang die Hände und weinte so, dass das ganze Gesicht nass war und sie vom Kind nur noch einen kleinen roten Punkt sah. Da schrie sie dem Mädchen, es solle mich sofort holen gehen. – Ich wehrte mich gegen die dicken roten Hände, die mich packen wollten, und biss und kratzte. Mehr getragen als gezogen kam ich in Mutters Schlafzimmer an. Ich sah ihr tränenüberströmtes Gesicht, ich fühlte ihre nassen salzigen Hände. Sie kniete vor mir nieder und nahm mich in die Arme. Und ich konnte immer noch nicht, konnte nicht mein Herz öffnen. Ich litt körperlich heftige Schmerzen, wie Stichwunden von Dolchen. Ich knirschte innerlich vor Elend, der Mutter weh zu tun, sie einsam zu lassen. Aber die Starre blieb. Da stand Mutter ganz blass auf und sagte still, ich sei ein recht böses Kind, ich müsse zur Strafe zu Bett. Da schmiss ich ihr im Zorn und Schmerz meinen roten Schuh ins Gesicht. Sie fuhr sich sonderbar staunend mit dem Handrücken über die Wange, wo mein Schuh sie getroffen. Dann schaute sie mit weit offenen Augen, wie ein entsetztes kleines Mädchen den Handrücken an und ging lautlos und geneigt aus dem Zimmer. – Sie war zu Tode verletzt. Etwas war in ihr gesprungen, nicht die Liebe zu mir, o nein; sie war so stark, dass sie keinen Moment an meiner Liebe zu ihr zweifelte. Aber sie hatte soeben erfahren, dass etwas stärker ist als sie und ihre Liebe, und eine Ahnung mag in ihr aufgestiegen sein, ein grübelndes Staunen darüber, dass dieses starke Etwas ein anderer Wille ist als der ihre, dem sich zu unterziehen sie wohl einmal lernen müsse, so unendlich schwer es ihr auch würde. Im eigenen Kind tauchte dieses Etwas auf? Im Eigensten, was sie kannte, dieses fremde, andere? War das auszudenken? Ist das nicht Grauen? – Und ich saß am Boden und unter letzter Anstrengung brach ich den Widerstand in mir, wohl im Moment, als Mutter leise an die Möglichkeit dachte, es könnte das Etwas einen Sinn haben …

Kriechen war mir zu wenig, zerfließen hatte ich wollen zu ihren Füßen, vergehn für immer in meiner heißen Reue. Und ich gelobte, nie mehr solle Mutter um mich weinen und nie mehr werde ich sie verlassen wollen. In ihren Armen schlief ich, erschöpft durch den furchtbaren Kampf, ein. Als ich lange Zeit von meinem Teufel verschont blieb, vergaß sie – wie sie es vergessen wollte – jenes Erlebnis. Es lebte aber von der Zeit an in ihr weiter als dumpfe Angst. Angst um mich, und Angst vor mir. Manchmal fand ich in ihrem Gesicht jenen Ausdruck des grübelnden Staunens, den ich nach meinem Wurf zum ersten Mal an ihr bemerkt. Er schnitt mich ins Herz und ich verdoppelte meine Gewissensbisse und meine guten Vorsätze. Es schien, als ob ich den Teufel wirklich besiegt hätte.

Dann kam meine kleine Schwester zur Welt. Sie hatte nun Mutter mehr nötig als ich, hieß es, und ich wurde die Große genannt. Das freute mich, tat aber gleichzeitig weh. Es trennte mich von Mutter. Ich wagte meine Zärtlichkeiten nicht mehr. Ich kam mir steif und albern vor verglichen mit dem rosigen, zappelnden Ding, das Mutter nun ganz in Anspruch nahm.

Sie war wohl glücklich in jener Zeit. Die Sorge um mich hatte gewichen und die neue liebe Sorge um das kleine Kind war lauter Freude. Es gedieh fast von selbst und war ein liebes, harmloses Geschöpf. Ich war nun schon ein halber Mensch, mit dem sie reden konnte und der vieles verstand. Als ich jedoch einmal nach ­irgend einem Gespräch unvermittelt sagte und im Tone tiefsten Wissens, mein Vater sei ein Dummkopf, nicht wahr? bekam ich eine Ohrfeige. Diese Ohrfeige konnte ich nie begreifen. Sie gab mir jahrelang zu denken. Überhaupt eine Ohrfeige, was soll das sein? Ich hatte nie Schläge bekommen und vor Überraschung vergaß ich den Schmerz und das Heulen. Doch nicht die sonderbare Tatsache der Ohrfeige war das Verwunderlichste, nein, das war unverständlich, warum Mutter mich geschlagen, wo ich glaubte, genau das gesagt zu haben, was auch sie dachte und was sie also bestätigen muss­te. Was ein Dummkopf ist, wusste ich freilich nicht. Ich hatte das Wort von Kindern auf der Straße gehört und ich hatte nur den Ton davon begriffen. Danach war Dummkopf etwas zu Bedauerndes, weil Schwaches und ein wenig etwas Verächtliches. – Von da an wusste ich, dass Vater und Mutter nicht glücklich waren zusammen. Und mit noch mehr Eifer schloss ich mich innerlich an Mutter an. Ich ging damals schon zur Schule. Die Schule war aber nur der Rahmen um Mutter herum. Kam ich nach Haus, stürzte ich gleich durch alle Zimmer, bis ich sie fand. Dann nahm ich mich aber zusammen und überfiel sie nicht, wie ich wohl gewollt hätte, sondern berichtete alles, was ich erlebt hatte. Von den Stunden, von den Freundinnen, von den Freistunden. Aber davon, dass ich immer an sie gedacht, erzählte ich nichts. Sie wusste es aber, und gerade meine Zurückhaltung war für sie eine höhere Beglückung als die Zärtlichkeit der kleinen Schwester. Es kam so weit, dass ich sie kaum mehr küsste und doch vor Sehnsucht danach verging. Sie liebte es so. Oder vielleicht fürchtete sie meine Heftigkeit, meine Leidenschaftlichkeit, denn sie selbst hatte darauf früh verzichtet neben dem ruhigen und ängstlichen Mann. Sie lebte für die Kinder, ganz in deren Welt aufgehend und nichts anderes mehr begehrend. Ja, begehrte sie nichts anderes?

Ein schöner Italiener, Bekannter des Vaters, hatte sich in Mutter verliebt, und da er als liebekundiger Mann bald heraushatte, wie es zwischen meinen Eltern stand, machte er sich Hoffnungen. Dass Mutter ihn liebte, dessen bin ich sicher. Es mag zwischen den beiden wohl auch zur Aussprache gekommen sein. Er hatte sie gebeten, mit ihm zu gehen, und alles, was Weib in ihr war und unerlöst, jauchzte ihm entgegen. Ich spürte das und liebte den dunkeln Mann um der Freude willen, die Mutter durch ihn erlebte. Sie aber konnte sich nicht befreien. Sie kämpfte und suchte nach ihrem Weg. Es schien ihr richtig zu sein, dem geliebten Manne zu folgen, aber die Kinder? Sie konnte ja mich nicht verlassen. Ich war zu ihr gekommen, damit sie nicht einsam sei, und nun würde sie es mir so lohnen? Das war so ausgeschlossen, dass sie den Mann bat, sie nie mehr zu sehen. Und er gehorchte. Ach, hätte Mutter nur jenen Wurf mit dem Schuh nicht so ganz vergessen. Sie wäre frei geworden und hätte das fein klingende liebe Leben kennen gelernt. So blieb sie bei mir, zusammengerollt ihre Seele wie ein Tierchen zum Winterschlaf, und fand Gleichmut, Zufriedenheit, ja Beglückung in uns. Doch musste ich erfahren, wie schwer der Verzicht auf ihr Frauenleben war: denn ich hatte sie zu entschädigen. Immer enger zog sie mich in sich hinein, ja ich verwuchs dermaßen in sie, dass ich keinen eigenen Wunsch mehr kannte. Wir lasen zusammen und auf langen Spaziergängen wurde das Gelesene besprochen, und da ich, ungleich schwächer und zarter als sie, stets Eindrücke aufnahm, ohne kaum mich zu wehren, begann ich zu denken und zu schauen und zu fühlen genau wie sie. Unsere Einigkeit, oder besser unser Einssein war so groß, dass ein Blick, ein Lachen oder ein Ton genügte, um uns zu verständigen. Und damals waren wir restlos selig ineinander. Die körperliche Süße der Mutter und ihr Duft waren nun für mich zur seelischen Süße und zu seelischem Duft geworden, worinnen ich atmete und war.

Und dann wurde ich krank. Ich war Monate lang krank und immer am Tod. Ein Bild: aus tiefer Nacht erwache ich und sehe Mutter bitterlich weinend an meinem Bett sitzen. Sie wusste nicht, dass ich sie anschaute. In ihrem Gesicht lag wieder der Ausdruck schmerzlichen Starrens über etwas Unfassbares, den ich nach dem Wurf mit dem Schuh und nachher manchmal an ihr gesehn. So trostlos verwundert wie ein Kind. Doch zwischen den Augen lag eine ernste Falte wie bei einem ganz alten, ganz weisen Menschen. So saß sie und weinte ganz leise. Ihre Wangen waren nass wie eine Wiese nach dem ersten schönen Regen. Die Hände lagen gefaltet im Schoß. Ich begriff, dass sie um mein Leben gefleht hatte und wohl, als sie mich begann loszulassen, kam ich zum Bewusstsein zurück. Lange lag ich. Dann begegneten sich unsere Augen und sie verstand, dass ich sie nicht verlassen würde, noch nicht. Noch eine Spanne Zeit. Noch ein wenig Glück lag vor ihr.

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