Zauberer und Höllentore: Acht Fantasy Krimis

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„Es tut mir leid“, sagte er.

„Was?“

„Wenn ich nicht so dämlich gewesen wäre, dich zu bereden, bei diesem Spiel mitzumachen.“

„Das konntest du ja nicht wissen, Robert.“

„Der Typ, der mir das Spiel verkauft hat, kam mir gleich ziemlich seltsam vor. Ich kann es nicht erklären, aber irgendetwas stimmte mit dem nicht. Und das hatte nichts damit zu tun, dass seine Ware vielleicht aus zweifelhaften Quellen stammte. Da war etwas…“ Er brach ab und schüttelte den Kopf.

„Etwas, das einem den Willen nimmt!“

„So, wie wenn man diesen Vampirbestien in die Augen schaut!“, stellte Brenda fest.

Robert nickte.

„Ja, genau so!“

„Aber, das ist doch alles absurd! Was sollte dieser komische Gothic-Opa, von dem du gesprochen hast, mit diesem Spiel zu tun haben?“

„Die Grenzen zwischen der Spielwelt und der Wirklichkeit scheinen nicht ganz so genau gezogen worden zu sein, wie das eigentlich normal wäre“, erwiderte Robert. „Du erinnerst dich doch an das Bild auf dem Computerschirm…“

„Du meinst, als eine Vampirbestie dir die Kehle aufreißen wollte!“

„Ja, genau!“

Brenda schwieg einen Moment. „Wir sind auf irgendeine, nicht zu erklärende Weise tatsächlich in die Welt dieses Spiels hineingelangt.“

„Ja, so muss es sein. Jedenfalls fällt mir keine plausiblere Erklärung ein. Ich dachte, es wäre ein Trick oder eine besondere Technik, die direkt auf das Gehirn wirkt.“

„So ein Quatsch!“

„Das ist kein Quatsch. Wusstest du, dass die schnellen Schnitte in Kombination mit den bunten Farben in japanischen Animés epileptische Anfälle auslösen können?“

„Echt?“

„Natürlich nur bei bestimmten, sehr empfindlich reagierenden Personen, aber es kommt vor und letztlich weiß man nicht genau, weshalb das so ist. Warum sollte also nicht auch so ein Programm direkt auf das Gehirn wirken können?“ Brenda schüttelte den Kopf. Sie bückte sich und nahm etwas von dem Schnee in ihre Hand, der im nächsten Moment darin zu schmelzen begann. „Das hier ist mehr, Robert. Viel mehr. Nenn die Kraft, die uns hier hergebracht hat meinetwegen Magie oder wie immer du auch willst! Aber im Moment ist diese Höllenwelt für uns offenbar die einzige Realität. Wir frieren hier, wir verletzen uns – vielleicht sterben wir auch hier, wenn wir müde werden und für kurze Zeit nicht aufpassen.“

„Ja“, murmelte Robert düster.

Er wandte sich um und ging zu der im Schnee liegenden Armbrust, die er sich wieder über die Schulter hängte.

Er zitterte leicht und versuchte es zu unterdrücken. Aber inzwischen war er ebenso vollkommen durchgefroren wie Brenda, deren Lippen sich bereits blau zu verfärben begannen.

Anschließend ging er zu dem knorrigen, sehr verwachsenen und durch viele, knollenartige Missbildungen verunstalteten Baum, in der noch der angespitzte Holzpflock steckte, den Robert mit der Armbrust verschossen hatte. Es war schließlich besser, wenn sie sparsam mit der Munition umgingen.

Schließlich hatte keiner von ihnen Lust, den Gnom allzu bald erneut um Hilfe bitten zu müssen, um dann anschließend doch nur ein höhnisches Gelächter zu ernten.

Brenda sammelte in der Zwischenzeit ihren Bogen vom Boden auf.

„Wohin gehen wir jetzt?“, fragte Brenda.

Robert sah sich um.

Von allen Seiten umgab sie der von Nebel durchwirkte Wald.

Wohin man auch blickte, war nur eine graue Wand zu sehen.

„Wir müssen zum Schloss“, sagte Robert. „Schließlich scheint der einzige Weg, der uns aus dieser Hölle herausführt nur dann eröffnet, wenn wir den Schlossherrn töten.

Wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine Art Super-Vampir

- etwas größer, älter, schauriger als die Kreaturen, die er uns bis jetzt geschickt hat.“

„Und woher sollen wir wissen, ob das alles, was man uns gesagt hat, überhaupt stimmt?“, fragte Brenda.

Er zuckte die Schultern.

„Keine Ahnung, mein Vorschlag ist besser, als gar nichts zu unternehmen und abzuwarten, bis der Schlossherr wieder ein paar seiner fiesen Kreaturen auf den Weg schickt, um uns zu töten.“

„Wenn du meinst...“

„Auf dem Weg zum Schloss müssten wir an dem Dorf vorbeikommen, von dem der Gnom gesprochen hat. Vielleicht erhalten wir dort noch etwas mehr an Informationen.“

„Und warme Kleider! Himmel, ist mir kalt, Robert!“

„Mir auch.“

„Aber das ist keine gewöhnliche Kälte. Klar, hier liegt Schnee und überall sind Eiszapfen, vor denen man sich vorsehen muss, damit sie einen nicht erschlagen. Aber diese Kälte...“ Es gelang ihr nicht, das Zittern zu unterdrücken.

„Robert, diese Kälte geht einem durch und durch. Als ob sie das tiefste Innere erreicht und langsam gefrieren lässt.“ Robert machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich würde sagen, der letzte Blizzard in New York war schlimmer...“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Robert! Das ist etwas völlig anderes. Ich kann es schwer beschreiben. Mir kommt es vor wie die Kälte des Todes, die einem langsam überall hin kriecht. Sie bewirkt, dass wir langsam von innen heraus sterben. Auch warme Kleidung wird dagegen nicht helfen!“

Kapitel 5 : Hexenspuk im Nebel

Die Nebelschwaden waberten zwischen den knorrigen Bäumen her und wirkten wie die Arme eines konturenlosen Ungeheuers.

Von dem Schloss auf der Anhöhe war jedenfalls nichts mehr zu sehen.

„Hast du noch eine Ahnung, in welche Richtung wir uns wenden müssen, wenn wir zum Schloss wollen?“, fragte Brenda.

Roberts Gesicht wirkte genauso ratlos wie das seiner Begleiterin.

Er deutete in Richtung eines verwaschenen Lichtflecks, der durch die dichte Nebelfront hindurchschimmerte.

„Das muss der Mond sein!“, war er überzeugt. Er streckte den Arm aus. „Dann liegt das Schloss in dieser Richtung!“, verkündete er im Brustton der Überzeugung.

„Na, Hauptsache, du weißt, wohin wir gehen.“

„Von wissen kann keine Rede sein, Brenda. Aber ich denke, alles ist besser, als hier zu bleiben.“ Er nahm ihre Hand.

Sie war eiskalt.

Wie die Hand einer Toten, durchfuhr es Robert. Ihn schauderte unwillkürlich. As sie seinen Blick erwiderte, wusste er, dass sie bei der Berührung seiner Hand denselben Schauder empfand.

Keiner von ihnen sagte jedoch ein Wort.

Sie hat Recht, dachte Robert. Wir sterben. Langsam aber unaufhaltsam.

*

Robert und Brenda setzten ihren Weg fort, auch wenn sie sich im Laufe der Zeit immer unsicherer darüber wurden, ob er sie tatsächlich an ihr Ziel bringen würde.

Zunächst mussten sie sich ihren Weg durch knietiefen Schnee und dichtes Gestrüpp bahnen. Dann liefen sie über vereisten Waldboden, der so hart wie Asphalt war. Die Sicht wurde immer schlechter. Das Mondlicht verschwand schließlich beinahe zur Gänze im Nebel und so verloren sie zeitweilig jede Möglichkeit, sich zu orientieren.

Immer wieder mussten sie sich vor plötzlich in die Tiefe stürzenden Eiszapfen in Acht nehmen und einmal begrub sie eine Ladung nasser Schnee unter sich.

Ihre Kleidung war inzwischen längst klamm und kalt.

„Wir werden uns hier eine Lungenentzündung holen“, glaubte Robert irgendwann und nieste.

Brenda reagierte kaum. Sie wirkte apathisch.

Nicht einmal die schrillen Schreie, die immer wieder die Stille des Waldes unterbrachen, ließen sie jetzt noch zusammenzucken.

Sie setzte einfach nur einen Fuß vor den anderen.

Wenn das so weiter geht, werden wir selbst zu Zombies, ging es Robert durch den Kopf.

*

Während Brenda und Robert ihren Weg fortsetzten, verloren sie nach und nach jeden Bezug zur Zeit. Ihre Uhren, das hatten sie inzwischen festgestellt, waren stehen geblieben.

Und zwar genau in dem Moment, in dem dieses dämonische Höllenspiel sie auf magische Weise in sich hinein gesogen hatte.

„Ich frage mich, wann in dieser Welt die Sonne aufgeht und endlich diesen Nebel vertreibt“, sagte Robert irgendwann in die Stille hinein.

Sie stoppte und lehnte sich gegen einen der knorrigen Bäume, die aussahen, als würden sie jeden Augenblick aus ihrer Totenstarre erwachen, sich bewegen und zu einem unheimlichen Eigenleben erwachen. Schon jetzt war es ja kaum möglich, die groben Strukturen seiner Rinde mit den knollenförmigen Missbildungen und Wucherungen anzusehen, ohne Gesichter darin zu erblicken.

Brendas Blick wirkte erschöpft, die Augen glänzten fiebrig.

Sie hob den Kopf.

„Vielleicht gibt es in dieser Welt weder einen Sonnenaufgang, noch einen Tag“, befürchtete sie.

„Das wäre doch absurd.“

„Nicht absurder, als alles andere, was hier geschieht.“

*

Irgendwann schimmerte dann wieder das Mondlicht durch die grauen Nebelschwaden. Zumindest glaubten Brenda und Robert zunächst, dass es sich um das Mondlicht handelte.

Aber schon bald waren sie sich da gar nicht mehr so sicher, denn plötzlich tauchten mehrere derartige Lichtflecke in verschiedenen Richtungen auf.

Robert blieb stehen. „Das gibt es doch nicht!“, stieß er hervor.

Brenda wurde durch das Auftauchen dieser zusätzlichen Lichter aus ihrer Apathie gerissen.

„Das müssen Irrlichter sein!“, war sie überzeugt.

„Irrlichter, die nur den Sinn haben, uns zu verwirren.“

„Meinst du wirklich?“

„Auf jeden Fall irgendeine Teufelei!“

„Fragt sich nur, nach welchem dieser Lichter wir uns jetzt richten sollen.“

 

„Spielt das noch eine Rolle?“

Sie entschieden sich für eines der Lichter, aber schon nach kurzer Zeit tauchten weitere Lichter aus dem Nebel auf.

Manche bewegten sich, als würde jemand eine Fackel schwenken.

Andere verschmolzen scheinbar miteinander oder teilten sich aus unerfindlichen Gründen.

Jedenfalls verloren Robert und Brenda schon nach kurzer Zeit den letzten Rest ihrer Orientierung.

Bald hatten sie sich vollkommen verlaufen.

„Gib’s zu, wir könnten jetzt schon stundenlang im Kreis laufen und würden es nicht merken!“, erklärte Brenda irgendwann.

Das Heulen eines Wolfes ließ sie beide plötzlich aufhorchen.

„Das kam ganz aus der Nähe!“, glaubte Robert.

Er hielt die Armbrust mit beiden Händen, konnte im Nebel nichts erkennen. Äste knickten. Dann war erst einmal nichts mehr zu hören.

„Ich weiß nicht, ob eine Armbrust mit Holzpflöcken wirklich gegen alle Schattenkreaturen das richtige Mittel ist, Robert.“

Er zuckte die Schultern. „Schon möglich, dass die verschiedenen Waffen auf unterschiedliche Gegner auch eine verschieden starke Wirkung haben. Und so wie es aussieht, werden wir wohl Gelegenheit bekommen, das genau auszuprobieren. Schließlich müssen wir ja den Endgegner des letzten Levels erreichen.“

„Ich glaube das nicht, Robert.“

„Nein?“

„Ich denke, dieser Gnom…“

„Dienstbarer Dämon nannte er sich!“

„Wie auch immer. Dieser kleine Teufel wollte uns doch nur auf eine bestimmte Bahn bringen. Wir sollten uns nicht darauf einlassen.“

„Leider haben wir doch keine andere Wahl! Dass wir den Schlossherrn töten müssen, um in ein höheres Level zu gelangen, gehört doch zu den wenigen Hinweisen, die wir besitzen!“

Brenda wollte sich auf der knorrigen, vereisten Wurzel eines besonders großen und breiten Baumes niedersetzen.

Mindestens zwei Dutzend Männer wären nötig gewesen, um diesen Baumriesen einmal mit ausgestreckten Armen zu umfassen.

„Wir müssen in Bewegung bleiben Brenda, sonst ist es aus.“ Sie wusste, dass er Recht hatte. Und doch war die Versuchung inzwischen sehr groß geworden, sich einfach niederzulegen und die Augen zu schließen, um anschließend auf den Angriff der ausschwärmenden Nachtkreaturen zu warten.

Auf diesen Moment warteten die Schattenwesen im Schloss doch nur! , sagte sich Robert. Und er war wild entschlossen, ihnen diesen Gefallen nicht zu tun.

„Ja…“, murmelte sie.

„Wenn wir reden, ist das auch ein Mittel gegen die Müdigkeit. Also lass es nicht still werden.“ Erneut knackten Äste. Etwas Dunkles kam aus dem Nebel heraus. Es war ein riesiger Wolf mit struppigen weißem Fell und roten Augen. Ein Albino. Er hechelte und musterte Brenda und Robert.

Die beiden erstarrten förmlich.

Robert hob langsam die Armbrust. Er ahnte, dass dieses Tier ein gewaltiges Sprungvermögen hatte und innerhalb von Sekundenbruchteilen bei ihm sein und seine Kehle zerfleischen konnte. Der Wolf knurrte leicht und entblößte dabei sein Gebiss.

Ein durchdringender Pfiff ertönte. Das Tier drehte um und verschwand wenig später im Nebel.

Etwas später war nach einmal aus weiter Ferne das Heulen des Wolfs zu hören.

Ein Chor seiner Artgenossen antwortete ihm aus verschiedenen Richtungen.

*

Robert und Brenda wankten halb erfroren vorwärts, bis sie schließlich einen Singsang hörten. Es war eine helle Frauenstimme, die in einer unbekannten Sprache ein Lied vor sich hin sang.

Ein flackerndes Licht schimmerte durch den Nebel. Es wirkte wärmer, als die fahlen Irrlichter, von denen eines der Mond sein mochte.

Als Robert und Brenda sich weiter näherten, mischten sich knisternde Laute in den Gesang der Frau hinein.

Hin und wieder waren auch die Wölfe zu hören, die überall im Umkreis zu finden waren. Es gab also keine Möglichkeit, vor ihnen auszuweichen. Sie haben uns längst eingekreist! , dachte Robert.

„Ein Feuer!“, stieß Brenda hervor. „Das muss ein Feuer sein!“

Ein Ruck ging durch ihren Körper, der auf einmal von neuer Kraft erfüllt war. Sie ging schneller.

„Warte! Wir sollten vorsichtig bleiben!“, gab Robert zu bedenken. „Es könnte sich um eine Falle handeln – oder um eine Aufgabe, die wir erfüllen müssen, um zum Schloss zu gelangen.“

„Ja“, murmelte sie. Einen kurzen Moment nur die Wärme dieses Feuers spüren! , ging es ihr durch den Kopf. Was würde ich dafür jetzt alles geben…

Eine rußige Wolke aus schwarzem Qualm wehte ihnen entgegen. Sie vermischte sich mit dem grauen Nebel.

Aus dem Nichts tauchten ein gutes Dutzend der riesigen weißen Albino-Wölfe auf. Sie umringten Robert und Brenda knurrend, hielten aber gehörigen Abstand.

Brenda legte sicherheitshalber einen Pfeil in den Bogen ein, obwohl sie bezweifelte, dass ihr dies im Ernstfall helfen konnte. Selbst wenn sie es schafften, die ersten Angreifer zu stoppen, waren immer genug dieser Bestien vorhanden, um sie schon im nächsten Moment bei lebendigem Leib zu zerfleischen.

Der Speichel troff den Albino-Wölfen aus dem Maul, während sie die Ankömmlinge interessiert musterten und ihre Witterung aufnahmen.

„Am besten, wir unterlassen jede überflüssige Bewegung“, schlug Robert vor.

Brenda senkte den Bogen. „Ich frage mich, was sie davon abhält, uns einfach anzufallen?“

„Gute Erziehung, würde ich sagen. Sie gehorchen irgendjemandem.“

„Der Frau, die da singt?“

„Keine Ahnung, aber wir sollten uns keinen Illusionen darüber hingeben, dass sie sofort zuschlagen, wenn ihr Herr und Meister es ihnen befiehlt. Fragt sich nur, wer das ist.“

„Dieser Schlossherr mit seinen Schattenkreaturen scheidet ja wohl aus, würde ich sagen“, äußerte Brenda ihre Ansicht.

„Sonst wären wir doch schon längst tot. Meinst du nicht auch?“

Die Albino-Wölfe begleiteten Brenda und Robert bis zum Feuer, an dem die singende Frau saß. Im Hintergrund hob sich ein dunkler Schatten aus dem Nebel heraus. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es sich um eine Holzhütte handelte.

Ein paar Raben saßen auf dem Dach und krächzten vor sich hin.

Die Frau unterbrach ihren Gesang. Sie war in einen dunklen Umhang gehüllt, sodass ihr Gesicht im Schatten lag. Zunächst sah es so aus als wäre unter diesem Umhang nichts außer absoluter Dunkelheit. Doch dann fielen Robert die leuchtenden Augen auf. Weiß waren sie. Weiß, wie das grelle Feuer der Sonne. Unwillkürlich wich Robert diesem gleißenden Blick aus und Brenda erging es nicht anders. Sie hob die Hand um sich davor zu schützen.

„Guten Abend!“, sagte Robert, obwohl das sicherlich nicht die richtig Bezeichnung der Tageszeit sein konnte.

Schließlich währte diese Nacht schon so lange, wie es die beiden in die bizarre Welt jenseits des Höllentores verschlagen hatte. Andererseits war es auf seiner Uhr immer noch wenige Minuten nach halb sechs.

Die Albino-Wölfe fletschten die Zähne. Der Speichel troff in Strömen aus ihren Mäulern heraus. Dumpfe Knurrlaute kamen tief aus ihren Wolfskehlen.

Die weißen Bestien rückten näher.

Da brauchte man wohl kein Begleit-Booklet zu Hellgate mehr zu lesen, um zu erfassen, worauf es die Albino-Wölfe offensichtlich abgesehen hatten.

„Die denken wohl, dass wir ihre nächste Mahlzeit sind!“, brachte es Brenda auf den Punkt.

„Tut mir leid, aber so groß ist mein Herz für Tiere dann allerdings doch nicht, Brenda!“, gab Robert zurück.

„Wem sagst du das? Aber sie kommen immer näher!“ Die Frau stieß einen Pfiff aus.

Er war so durchdringend, wie Robert zuvor noch nie jemanden hatte pfeifen hören. Für den Bruchteil einer Sekunde, glaubte er taub zu ein.

Die hechelnden Bestien zogen winselnd davon.

Sie verzogen sich mit eingekniffenem Schwanz und verschwanden in den wabernden Nebelschwaden. Es dauerte nur wenige Augenblicke und keiner von ihnen war noch zu sehen.

Brenda atmete hörbar auf und senkte den Bogen. Dann steckte sie den Pfeil zurück in den Köcher.

Jetzt erhob sich die Frau.

Von der Singstimme her hatte Robert damit gerechnet, es mit einer jungen Frau zu tun zu haben.

Aber das war offensichtlich eine Illusion gewesen. Sie hatte eine stark gebeugte Körperhaltung. Auf ihrer Schulter hatte sich ein Buckel gebildet und der flackernde Schein des Feuers erhellte nun ihr Gesicht.

Es war uralt.

Ein von runzeliger, faltiger Haut bedeckter Totenschädel.

Es gab fast kein Bindegewebe mehr und als sie den lippenlosen, eingefallenen Mund verzog, kam ein einziger Zahn zum Vorschein.

Nur die leuchtenden Augen schienen irgendwie nicht zu ihr zu passen.

Ihr irres Kichern mündete schließlich in einem heiseren Räuspern. Sie stützte sich auf einen Stock, in dessen Knauf der Totenschädel eines Nagetiers eingearbeitet war. Eine Ratte, schätzte Robert.

„Kommt näher!“, sagte die Alte mit ihrer überraschend jugendlichen Stimme. „Kommt näher, ihr Beiden. Ich bekomme leider nicht sehr oft Besuch in der Einsamkeit meiner Wald-Residenz!“

Robert und Brenda ließen sich das nicht zweimal sagen.

Insbesondere Brenda war froh, endlich näher ans Feuer treten und sich wärmen zu können. Sie streckte die völlig verfrorenen Hände aus.

„Hier können wir wenigstens wieder auftauen“, sagte sie.

Robert betrachtete die Alte.

Eine Hexe!, das war sein erster Gedanke. Die Tatsache, dass sie offenbar auf geheimnisvolle Weise Macht über die Albino-Wölfe besaß, schien ihm ein weiteres Argument für seine Annahme zu bieten.

„Ihr wollt sicher zu dem Dorf, das zu Füßen des Schlosses liegt“, stellte die Alte fest.

Robert sah sie erstaunt an. „Woher weißt du das?“, fragte er.

Ein meckerndes Gelächter drang aus ihrem eingefallenen Mund. „Dorthin wollten sie alle!“

„Von wem sprichst du?“

„Von denen, die vor euch hier her kamen und von denen sich der Verdammten des Dorfs so viel erhofften. Aber diese Hoffnungen waren vergebens. Der Schlossherr residiert noch immer unverändert in seinem Gemäuer. Und jede Nacht schickt er seine Schattenkreaturen aus, um nach Beute Ausschau zu halten, deren Blut sie trinken können.“

„Dann stimmt es, dass die Nachtkreaturen am Tag nicht existieren können?“, fragte Robert.

„Wer hat dir das gesagt, junger Mann?“

„Habe ich gehört.“

Sie lachte in sich hinein. „Ja, du hast Recht. Am Tag sind die Schattenkreaturen der Burg Gefangene ihres grauen Gemäuers. Die Sonnenstrahlen würden sie töten. Aber seit diese Kreaturen der Nacht die Herrschaft über dieses Land errungen haben, hat sich manches geändert. Der Tag ist nichts weiter als eine kurze Dämmerung geworden und ich fürchte, es wird irgendwann so aussehen, dass die Dunkelheit gar kein Ende mehr nimmt. Aber das soll euch Narren nicht kümmern.“

„Du stehst nicht auf der Seite dieser Monstren?“

„Ich stehe auf meiner eigenen Seite“, erklärte die Alte.

„Ich komme aus dem Dorf, in das ihr wollt und wo ihr Näheres über die Burg und ihre schaurigen Bewohner zu erfahren hofft.“

„Warum bist du dann jetzt nicht mehr dort, sondern kampierst hier draußen?“, fragte Brenda, die sich die Hände über dem Feuer rieb und langsam wieder auftaute.

Die Alte räusperte sich geräuschvoll.

„Es gab ein paar Unstimmigkeiten mit den Dorfbewohnern.

Sie haben mich verbannt, weil sie glaubten, dass ich das Unheil über die Bewohner gebracht habe! Dabei ist das nicht wahr! Sie waren von Anfang an verdammt dazu, den Blutsaugern vom Schloss als willenlose Opfer zu dienen, die schon ein hypnotischer Blick in die Knie zwingt. Ich bin sicher, dass ihr auch eines Tages so enden würdet, wenn nicht…“ Sie brach ab. Ihr Satz endete in einem irren, schrillen Kichern. Plötzlich schossen die Flammen des Lagerfeuers hoch empor, so als hätte jemand etwas extrem leicht Brennbares in die Glut hineingeworfen.

Brenda zuckte zurück.

„Wenn was?“, hakte Robert nach.

Aber die Alte schien nicht dazu bereit zu sein noch mehr Preis zu geben. Plötzlich schien sie gar nicht genau zu wissen, worüber sie gerade noch gesprochen hatte. „Ich bin eine alte Frau, was verlangst du von mir? Erinnerungen sind für mich wie der flüchtige Wind. Sie kommen und gehen, lassen sich aber nicht festhalten.“

 

„Wieso glaubst du, dass wir zu Verdammten werden - wie die Bewohner des Dorfes?“, hakte Robert nach.

„Robert, wir sollten von hier verschwinden!“, raunte Brenda plötzlich ihrem Begleiter auf dieser unfreiwilligen Reise in den Schrecken zu.

„Ich will das jetzt wissen!“, beharrte Robert.

„Du trittst ja recht selbstbewusst auf!“, tönte die Alte.

Hatte ihre Stimme soeben dem Krächzen eines altersschwachen Raben geähnelt, so wirkten ihre Worte jetzt wieder jugendlich frisch. Ihr Tonfall war darüber hinaus von einer überraschenden inneren Stärke gekennzeichnet. Robert spürte das sofort. Und diese plötzlichen Schwankungen, irritierten ihn.

Brenda hielt sich dicht neben ihm. Sie stieß ihn an.

„Robert! Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier!

Mit der Alten stimmt etwas nicht“, vermutete das Mädchen.

„Deine Gefährtin ist klüger als du, junger Mann!“, erhob sich nun die Stimme der Alten erneut. „Oder sie hat einen angeborenen sechsten Sinn für die Kräfte der Magie. Einen Sinn, der nur wenigen gegeben ist!“

Die Alte trat auf Brenda zu und berührte sie zuerst am Arm, dann an der Stirn. Brenda zuckte regelrecht zurück.

„So große Angst erfüllt dich?“, fragte sie. Dann musterte sie Brenda von oben bis unten und schien urplötzlich das Interesse an dem Mädchen zu verlieren. Von einem Augenblick zum nächsten würdigte die Alte Brenda keines Blickes mehr.

Stattdessen wandte sie sich Robert zu.

Auch ihn berührte sie kurz am Arm und dann an der Stirn.

„Ja, vielleicht bist du besser geeignet, als dieses Mädchen… Viel besser!“

Robert spürte für Augenblicke einen stechenden Schmerz in seinem Kopf. Aber schon nach kaum einer Sekunde war es vorbei. Es ging so schnell, dass er nicht einmal einen Schrei ausstoßen konnte.

„Versprich mir, dass du mir einen Gefallen tust!“, forderte die Alte. „Dann werde ich euch helfen, zuerst das Dorf zu finden. Von dort aus seht ihr das Schloss als eine dauernde Drohung vor euch!“ Erneut drang ein Lachen aus ihrem beinahe zahnlosen Mund. Ein Lachen, das in einem heiseren Röcheln schließlich sein Ende fand.

„Was ist das für ein Gefallen?“, fragte Robert.

Brenda schien von dem Gedanken, dass Robert sich mit der Alten auf irgendeine Art von Handel einlassen wollte, überhaupt nicht begeistert. Instinktiv spürte sie, dass hier irgendeine Teufelei im Vorgang war. Sie konnte die Bedrohung beinahe körperlich spüren – und doch gab es nichts, was sie unternehmen konnte.

Was sollen wir auch tun? , fragte sie sich voller Verzweiflung. Wenn wir einfach in den Wald laufen, dann holen uns diese grauenhaften Albino-Wölfe, die dieser Hexe willenlos ergeben sind!

Die Alte stellte sich neben das Feuer.

„Sieh her, junger Mann!“, rief sie und im nächsten Moment erwies sich, dass sie tatsächlich eine Hexe war.

Ihre alte, gebeugte Gestalt wurde zu einem tierhaften Wesen, das Züge einer Echse besaß. Ihre Falten verwandelten sich in Schuppen und die Haltung straffte sich.

Erstaunlicherweise wuchs sie zum Doppelten ihrer Größe heran, sodass sie es in diesem Augenblick mit den längsten NBA-Profis hätte aufnehmen können.

Die weiten Kleider der Alten schienen jetzt plötzlich richtig ausgefüllt zu sein und hingen nicht mehr schlaff von dem faltigen, ausgemergelten Körper.

Sie – oder das Wesen zu dem sie in den letzten Augenblicken geworden war – breitete die Arme aus. Dazu sprach sie Worte in einer Sprache, von der weder Robert noch Brenda auch nur je ein Wort gehört hatten.

Innerhalb der nächsten Augenblicke bekamen ihr Körper und ihr Gesicht immer mehr Merkmale einer Schlange. Die Arme bildeten sich zurück. Der Körper streckte sich. Wie eine mit Lumpen behangene, riesige Königskobra stand sie vor dem Feuer. Das Schlangenmaul – so groß wie ein menschlicher Kopf

– öffnete sich. Nur ein einziger Giftzahn war dort noch vorhanden. Die gespaltene Zunge zuckte hervor, ein zischender Laut ertönte.

Brenda und Robert wichen unwillkürlich ein paar Schritte zurück.

Die Zunge der Schlangenkreatur, zu der sich die Hexe gewandelt hatte, wurde zu einem orangeroten Flammenstrahl, der sich mit den Flammen des Lagerfeuers vereinigte.

Eine Blase aus Feuer entstand.

Diese Blase fülle sich mit weißem Rauch, der mit schwarzen Schlieren durchzogen war. Daraus bildeten sich innerhalb weniger Augenblicke immer deutlicher sichtbare Umrisse und Formen.

Schließlich erschienen in rascher Folge Bilder. Bilder, die eine Gegend zeigten, die sich deutlich von diesem Land der Todesschatten unterschied. Die Vegetation war reich und überbordend. Eine strahlende Sonne schien auf grüne Wiesen herab, die immer wieder von Sträuchern und Feldern mit dicht gedrängt wachsenden bunten Blumen unterbrochen wurden. Das nahe Meer rauschte und das Sonnenlicht ließ die Wasseroberfläche glitzern. Auf einem ins Meer hineinragenden Felsmassiv war eine Burg zu sehen. Das graue Gemäuer erinnerte Robert auf den ersten Blick an das düstere Schloss der Nachtkreaturen.

Die umgebende Landschaft unterschied sich jedoch völlig.

„Was wird uns da gezeigt?“, fragte Brenda stirnrunzelnd.

„Keine Ahnung. Vielleicht ein anderes Level dieses Spiels.

Aber im Moment erscheint mir die Alte nicht in der Verfassung, unsere Fragen zu beantworten!“ Wie zur Bestätigung dieser Aussage, ging erneut ein Zischlaut von der Riesenschlange aus, deren Kopf innerhalb von wenigen Augenblicken zur doppelten Größe anwuchs. Das Maul öffnete sich. Eine Substanz troff aus ihrem einzigen Giftzahn. Es zischte, wenn diese Tropfen auf dem Boden aufkamen und sich mit dem Schnee verbanden. Wolken mit ätzendem Geruch stiegen dann auf.

Dann drang erneut ein Feuerstoß aus dem Rachen der Schlange hervor. Die magische Bildfläche in den Flammen wuchs dadurch auf die anderthalbfache Größe an. Mit bestechender Detailgenauigkeit waren Einzelheiten zu erkennen – bis hin zu den Schmetterlingen, die über die grünen Wiesen flogen. Am Horizont spannte sich ein Regenbogen.

Das Blickfeld war jetzt auf die Burg gerichtet.

Gleichzeitig schrumpfte die Riesenschlange wieder zur gebeugten Gestalt einer alten Frau zusammen. Die Schuppen wurden wieder zu den Runzeln einer faltigen, vom Wetter und den Jahren gegerbten Haut und der Säure triefende Giftzahn wurde zu dem letzten Zahnstummel in der Mundhöhle einer Greisin heruntergestutzt.

Es dauerte insgesamt fast eine Minute, bis die Rückverwandlung der Hexe abgeschlossen war. Sie näherte sich Robert.

„Sieh dir alles gut an, mein Sohn!“

„Tja, irgendwie war doch von einem Gefallen die Rede…“

„Dazu komme ich gleich. Nur keine Ungeduld!“ Sie streckte ihren dürren Finger in Richtung der in den Flammen erscheinenden Bilder aus und fügte schließlich mit brüchiger Stimme hinzu: „Das ist die Burg des Namenlosen Magiers. Sie liegt in einer anderen Welt, die du früher oder später von selbst erreichen wirst, sofern zu es schaffst, zu überleben.“

„Cool! Dann muss das der Endgegner in diesem Spiel sein!“, verstand Robert die Worte der Hexe auf seine Weise.

Aber die alte Frau sah ihn nur mit einem irritierten Blick an. „Du sprichst wirres Zeug, mein Sohn. Aber in Anbetracht deiner Jugend sei dir das verziehen.“

Wie in einer rasanten Kamera-Fahrt veränderte sich jetzt das Blickfeld. Die Fensteröffnung eines Turms auf der See-Seite der Burg wurde herangezoomt. Anschließend konnte man sehen, was sich hinter den dicken Mauern abspielte.

Fackeln erhellten ein düsteres Verlies.

Eine junge Frau mit dunklen, über die Schultern reichenden Haaren und fein geschnittenen Zügen war nun zu sehen. Man hatte sie an die Wand gekettet. Das tunikaartige Kleid war zerrissen und die dunkelbraunen Augen drückten Verzweiflung und Angst aus.

„Wer ist das?“, fragte Robert.

„Sie heißt Jarmila. Du brauchst nicht mehr über sie zu wissen, als dass sie vom Namenlosen Magier gefangen gehalten und für seine magischen Experimente missbraucht wird. Wenn ich euch den Weg in Richtung des Schlosses der Nachtkreaturen zeigen soll, dann musst du mir versprechen, Jarmila aus der Gewalt des Magiers zu befreien.“

Robert zuckte die Achseln. „Wenn es weiter nichts! Ich meine, wenn wir es tatsächlich schaffen, zu überleben, bis wir auf diese Ebene gelangen, dann werde ich sehen, was ich für Jarmila tun kann.“