Zauberer und Höllentore: Acht Fantasy Krimis

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Kapitel 3: Im Reich der Verdammten

Robert ließ den Computer erneut hochfahren und startete das Spiel. In der Beschreibung sah er nach, wie man den Modus für zwei Personen einstellte.

Brenda hatte sich inzwischen den zweiten Stuhl in Roberts Zimmer passend zurechtgestellt. „Na, dann mal los“, sagte sie und lachte ihn an. Grübchen entstanden dabei auf ihren Wangen.

Auf dem Bildschirm erschien wieder das flammende Höllentor, das von einem Zombie mit scharfer Sense bewacht wurde.

„Und das soll gruselig sein?“, fragte Brenda.

„Warte es ab.“

„Das ist zum Gähnen!“

„Ich sagte: Warte ab!“

„Eine moderne Version der Addams Family. Aber nichts, wovor man sich fürchten müsste.“

„Dann amüsier dich meinetwegen, wenn du es so witzig findest.“

„Ach, Robert!“

„Willkommen am Tor zur Hölle!“, sagte der Zombie mit verrotteter Kleidung und glühenden Augen. Er deutete wieder mit seiner Sense auf das flammende Tor. „Wenn ihr dieses Tor durchschreitet, seid ihr im Reich der Verdammten und es gibt dann kein Zurück mehr. Click hier, wenn ihr dem Satan eure Seelen überantworten wollt – denn nur dann könnt ihr Zutritt ins Höllenreich erhalten.“

„Es ist wirklich zu blöd, Robert!“

„Etwas Geduld, Brenda!“

„Dann schalte die Lautstärke etwas herunter.“

„Wieso?“

„Na, deine Eltern denken doch, dass wir hier fleißig lernen!“

„Click jetzt! Na, los!“

Sie seufzte. „Meinetwegen. Und jetzt du!“ Im nächsten Augenblick erfasste sie beide der unheimliche Sog, den Robert bereits einmal gespürt hatte. Ein Sog, dem man nicht widerstehen konnte. Alles drehte sich vor den Augen und sie schienen in einen bunten Strudel aus Farben und Formen zu stürzen.

Dann wurde es für kurze Zeit dunkel.

Im nächsten Moment fanden sie sich in jener bizarren, tief gefrorenen Welt wieder, die den Hintergrund für einen Horrorfilm hätte abgeben können - der fahle Mond, der helle Schnee, die verwachsenen Bäume und die tierischen Schreie namenloser Kreaturen, die immer wieder die gespenstische Stille unterbrachen.

In der Ferne lag – erhaben und Furcht einflößend – das Schloss, aus dem die riesenhafte Vampirfledermaus gekommen war.

Robert musterte Brenda. Sie sah sich um, machte einen Schritt nach vorn und stellte fest, dass ihre Füße tatsächlich ein Stück in den Schnee einsanken.

„Das ist…“

Sie sprach nicht weiter und hatte offenbar keine Worte für das, was sich ihr darbot.

„Das ist cool, oder?“, meinte Robert. „Gib es zu, so was hättest du nicht erwartet!“

Sie schüttelte den Kopf. „Okay, ich gebe zu, dass dies wirklich ein ganz außergewöhnliches Spiel sein muss!“

„Habe ich es dir doch gesagt!“

„Wie kommen wir hier her? Wie haben die das gemacht?“

„Keine Ahnung, Brenda. Ich weiß nur, dass ich noch nie ein Spiel gespielt habe, das auch nur annähernd an diesen Effekt herankam!“

Brenda trat ein paar Schritte vor und pflückte einen Eiszapfen von einem erstarrten Strauch.

Wenig später ließ sie ihn fallen.

„Der ist ja wirklich kalt!“, stellte sie fest.

„Na klar, was denkst denn?“

„Was ist mit der Verwundung an deiner Hand? Kommt die auch...“, Brenda zögerte, ehe sie weiter sprach, „...von hier?“

Robert nickte. „Ja. Du musst bei den Schwertern aufpassen.

Die sind scharf wie Rasierklingen – und zwar auf beiden Seiten.“

„Was für Schwerter?“

„Wirst du gleich sehen. Eigentlich wundert es mich, dass wir noch keine Waffen zur Auswahl bekommen haben.“ Sie rieb sie die Hände und sagte dann: „Robert, wir sollten jetzt damit aufhören. Wie kommen wir wieder zurück?“

„Aber wir sind doch gerade erst hier!“

„Vergiss nicht, dass wir lernen wollten!“ In diesem Augenblick ertönte eine Stimme.

„Wählt eure Waffen – und versucht zu überleben. Im Schloss wartet der Herr des Bösen auf euch und freut sich, euer Blut kosten zu dürfen. Eure Seelen hingegen, wird ein anderer bekommen, dessen Namen ich nicht auszusprechen wage.“ Im nächsten Moment erschienen nacheinander verschiedene Waffen. Sie schwebten genau wie beim ersten Mal einfach in der Luft, nur war diesmal das zur Verfügung stehende Arsenal etwas größer.

Es gab neben Streitäxten, Schwertern und einer Armbrust auch noch verschiedene Dolche und Rapiers sowie einen Langbogen.

„Jetzt haben wir die Qual der Wahl“, sagte Robert. „Also eins weiß ich, diesmal werde ich mich etwas besser ausrüsten als beim letzten Mal. Ich würde dir dasselbe empfehlen Brenda, sonst hast du nämlich gegen die Monster keine Chance.“

„Quatsch, wir gehen jetzt zurück!“, beharrte Brenda. „Das reicht mir. Vor allem ist mir schrecklich kalt. Auf einen Schiurlaub war ich nämlich nicht so richtig eingestellt!“ Die Stimme meldete sich wieder.

„Wählt die Waffen und überlebt! Aber bedenkt, dass ihr Verdammte seid. Verdammt zu sterben, verdammt eure Seelen und euer Blut zu geben...“

Ein Gelächter ertönte.

„Schluss jetzt mit dem Gequatsche!“, sagte Brenda entschieden und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich will jetzt zurück! Definitiv!“

„Wählt die Waffen!“, beharrte die stark verhallte Stimme, deren Kathedralen-Akustik einen eigentümlichen Kontrast zu der Schnee gedämpften Stille dieser gefrorenen Landschaft stand.

Brenda wandte sich an Robert. „Hör mal, was soll das denn?

Gibt es hier keine Escape-Funktion?“

„Anscheinend nicht in diesem Menue“, murmelte Robert.

„Wählt die Waffen oder ihr werdet den Mächten des Bösen ein leichtes Opfer werden. Aber den Jägern des Blutes macht es keine Freude, ihre Beute ohne Kampf zu erjagen!“, verkündete die Stimme. Ein gehässiges Kichern ertönte. Dazu ein schauriger Chor von schrillen Stimmen, die wie ein Singsang zwei Wörter wiederholten.

„Blut!“

„Durst!“

„Blut!“

„Durst!“

„Ich würde sagen, wir bringen es hinter uns!“, sagte Robert.

„Du willst jetzt hier eine Runde spielen, oder was?“

„Klar! Wir hauen ein Monster tot und dann gibt es sicher einen Zugang zur Escape-Funktion!“

„Das ist nicht dein Ernst, Robert! Wir wollen lernen!“

„Das geht bestimmt ganz schnell. Bei jedem Spiel kann man aussteigen, wann man will, nur muss man gegebenenfalls in einem tieferen Level wieder anfangen.“

„Tja, aber hier scheint das anders zu sein, Robert!“

„Besser wir wählen jetzt die Waffen, sonst sind sie weg!“, schlug Robert vor.

Er wählte ein Schwert, das dazugehörige Futteral, um es sich auf den Rücken zu schnallen, die Armbrust mit Holzpflöcken, einen Dolch und ein Rapier.

Zur Armbrust gehörte auch noch eine Ledertasche für die Holzpflöcke.

Als er auch noch die Axt nehmen wollte, wurde diese plötzlich transparent.

„Du hast keine Waffenpunkte mehr!“, sagte die hallende Stimme.

Brenda wählte auch.

Sie nahm ein Schwert, einen Dolch und den Bogen mit einem Köcher voller Pfeile.

Sie besaßen keine Metallspitzen, sondern waren aus Holz.

„Ist doch logisch!“, fand Robert, als Brenda sich darüber wunderte. „Vampire tötet man durch Holzpflöcke. Noch wie was von Dracula gehört?“

„Da gab’s bestimmt im Eingangsmenue eine Funktion für Fragen und Erklärungen“, erwiderte sie.

„Die haben wir wohl übersehen. Aber darauf kommt es auch nicht so an. Wir wollten doch nur kurz mal in dieses Game hinein schnuppern und dann lernen.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Oder?“

Brenda schien die ganze Situation gar nicht mehr komisch zu finden. „Das ist kein normales Spiel, Robert!“

„Was sag ich denn die ganze Zeit!“

„Was war das denn für ein Typ, der dir Hellgate verkauft hat?“

„Sah aus wie Morpheus aus Matrix. Langer Ledermantel, kahler Kopf und ein schwarzer Knebelbart. Außerdem roch er nach Leichenöl.“

Brenda runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

„Ja, damit schmieren sich doch Grufties ein, um ihrem Outfit gemäß zu riechen. Wusstest du das nicht?“

„Also mein Fall ist das nicht! Ein klassisches Deo tut’s doch auch, finde ich.“

„Ich sage dir, der hatte sich damit so doll einbalsamiert wie eine ganze Gruftbelegschaft. Aber seine Preise waren cool. Fünf Dollar und meine Seele wollte er haben. Also so gut wie nichts.“

Eine Pause entstand. In der Ferne krächzte eine Krähe und der Wind heulte um die Mauern des fernen Schlosses auf der Anhöhe.

„Robert…“

„Ja?“

„An deiner Stelle würde ich von meiner Seele nicht als ‚so gut wie nichts’ sprechen.“

„Na ja…“

„Und außerdem kannst du wetten, dass mit dem Typ und seiner Ware was nicht in Ordnung war. Geklaut, kopiert oder sonst was.“

„Ist doch egal!“

Sie rieb sich die Arme.

„Mir ist verdammt kalt und ich hätte gerne etwas Wärmeres zum Anziehen, wenn wir hier länger bleiben. Und danach sieht es ja leider aus.“

Robert zuckte die Schultern. „Warum rufen wir nicht einfach die Stimme?“ Er stapfte ein paar Schritte durch den Schnee. „Heh, Stimme? Wir brauchen Kleider! Es ist verdammt kalt hier!“

Keine Reaktion.

Robert versuchte es noch einmal, wieder gab es keine Antwort.

Plötzlich knackten Zweige im nahen Unterholz. Robert schob die Armbrust, die ihm an einem Riemen über der Schulter hing etwas weiter nach hinten und riss das Schwert aus dem Rückenfutteral.

 

„Pass auf, dass du nicht schneidest!“, sorgte sich Brenda.

„Keine Sorge, das habe ich jetzt im Griff!“

„Lass uns einfach nur einen Weg finden, der möglich schnell hier herausführt, Robert!“

„Sicher!“

Wieder knackte es im Unterholz eines nahen Waldstücks.

Nebelschwaden waberten über den Boden, sodass man kaum etwas davon sehen konnte, was dort geschah. Krähen wurden aufgescheucht. Der Schlag ihrer dunklen Schwingen erzeugte ein raschelndes Geräusch.

Aus dem Unterholz kam eine Gestalt, kaum größer als einen Meter und fast genauso breit.

Ein Gnom mit einem Kopf, der fast ein Drittel seines Körpers ausmachte und der ein tierhaftes, mit spitzen Zähnen bewehrtes Maul besaß. Die Beine waren kurz und stämmig. Die Arme so dick und kräftig, wie die Oberschenkel eines ausgewachsenen Mannes - und so lang, dass sie über den Boden schlürten, wenn er sie nicht verschränkte.

Robert senkte das Schwert.

„Gegen Zwerge kämpfe ich nicht, das ist unfair!“

„Sag das nicht!“, stieß Brenda hervor. „Der sieht ziemlich böse aus!“

Der Gnom näherte sich. „Ich bin Karashlon, der dienstbare Dämon. Für den Schlossherrn das Blut! Für den Herrn der Hölle die Seelen!“ Er kicherte wie irre. „Wer schreit da um einen ungerechtfertigten Bonus?“

Brenda und Robert wechselten irritierten Blick.

„Uns ist kalt“, sagte Brenda schließlich. „Wir brauchen Kleidung. Aber genau genommen wollen wir eigentlich auf dem schnellsten Weg hier raus und zurück...“

„Zurück?“, echote der Gnom und kicherte erneut. „Zurück?

Habe ich das richtig verstanden? Ihr wollt zurück, obwohl die Bewohner des Dorfes dort hinten ihre verzweifelte Hoffnung darauf setzen, dass ihr das schafft, was niemand zuvor schaffte? Nämlich den Mächten des Bösen die Stirn zu bieten und sie von immerwährenden Qualen zu erlösen? Wollt ihr die Verdammten enttäuschen und davonlaufen wie Feiglinge? Und wollt Ihr außerdem den Mächten des Bösen das Vergnügen rauben, euer Blut wie guten Wein zu schlürfen und eure Seele zu einer Sklavenseele zu machen? Diese Mächte wollen euch kämpfen sehen. Sie wollen miterleben, wie ihr euch vergeblich bemüht und letztlich scheitert. Ich rate es euch, ihnen nicht diese Freude zu nehmen, denn ihre Rache dafür würde furchtbar sein.“

„Jetzt ist der Spaß vorbei!“, bestimmte Robert. „Wir wollen hier raus. Wo ist die Escape-Funktion?“ Brenda registrierte sehr genau die Veränderung in Roberts Tonfall. Wenn er jetzt schon genug von der Sache hat, dann ist wohl tatsächlich nicht alles in Ordnung.

„Spaß?“, echote der Gnom. „Hast du wirklich Spaß gesagt?

Ihr seid im Reich der Verdammten, da ist der Begriff Spaß wohl völlig fehl am Platz! Und was die Escape-Funktion angeht...“ Er kicherte gehässig. „Die ist hier nicht vorgesehen!“

„Wie bitte?“, fragte Robert. Sein Gesicht war jetzt kreideweiß geworden – genau wie das von Brenda. „Das ist doch ein Scherz, oder?“

„Habt ihr angeklickt, dass ihr eure Seelen dem Herrn der Hölle überantwortet oder nicht?“, fragte der Gnom. Er wartete die Antwort gar nicht erst ab. „Na also! Worüber beklagt ihr euch? Es gibt kein Zurück, es sei denn...“

„Was?“, fragte Robert.

„Es sei denn, dass Programm hängt sich auf oder ihr schafft es, den Endgegner der letzten Ebene zu besiegen.

Aber, ich kann euch versichern, dass dies noch niemandem gelang.“

Schrille, durchdringende Schreie drangen jetzt vom Schloss her. Mehrere der Fledermausmonster zogen dort ihre Kreise.

Das fahle Mondlicht tauchte sie in ein geisterhaftes Licht.

Robert vermochte bereits Gedankenstimmen zu hören – wenn das dafür überhaupt das richtige Wort war.

Euer Blut ist unser. Wie schlürfen es wie Wein und weiden uns ans eurer Furcht, auf dass auch ihr Kreaturen der Finsternis werdet!

„Was war das?“, fragte Brenda.

Sie hatte es offenbar auch wahrgenommen.

„Und jetzt wehrt euch! Fürchtet euch und macht den Mächten des Bösen Freude durch eure Angst und euren Schrecken!“, tönte der Gnom. „Und was die Kleider angeht, die ihr verlangt habt, so verdient sie euch doch! Wenn ihr es schafft, ein paar Angreifer abzuwehren, bin ich vielleicht bereit, euch behilflich zu sein.“ Er lachte schallend und trommelte dabei auf seinen vorgewölbten Bauch.

Unterdessen wurden die Kreise, die die Fledermausmonster zogen, immer enger. Sie näherten sich, obwohl sie auf Robert einen nicht besonders zielstrebigen Eindruck machten.

Wir wollen eure Angst etwas länger genießen! , war eine Gedankenstimme zu hören. Wenn wir euch zu schnell töten, dann ist das Vergnügen für unsere Oberen zu rasch vorbei... Und wer wollte so missgünstig sein, ihnen zu verwehren, was den Mächten des Bösen gebührt?

„Bitte hilf uns hier heraus!“, flehte Brenda an den Gnom gewandt. „Das ganze ist ein Irrtum gewesen.“ Der Gnom runzelte die Stirn.

„Ein Irrtum? Nein, das glaube ich kaum. Ihr bekommt, was ihr gewollt habt und verdient.“ Er schüttelte seinen Kopf und fletschte grimmig die Zähne. „Wie gerne würde ich selbst euch zerfleischen und euer Blut in meinen Hals rinnen lassen, aber das lasse ich lieber, denn dann bekomme ich Ärger.

Schließlich bin ich ja nur ein Diener-Dämon.“

„Dann diene auch und lass uns hier raus oder gib uns wenigstens warme Kleider!“, forderte Robert.

„Du hast die Bezeichnung Diener-Dämon vielleicht etwas missverstanden, junger Mann“, antwortete der Gnom. „Tut mir leid, das ist vielleicht meine Schuld, schließlich habe ich euch recht großzügig mit Waffen ausgestattet, sodass ihr vielleicht auf die irrige Idee kommen konntet, ich sei in diesem Spiel, um euch zu dienen. Aber das ist nicht der Fall.

Ich diene den Mächten des Bösen, zu deren Vergnügen ihr hier seid!“

Inzwischen wurde klar, dass die Fledermausmonster noch auf zwei weitere ihrer Art gewartet hatten, bevor sie zum Angriff aufbrechen wollten. Sechs dieser monströsen Mischgeschöpfe aus Mensch und Riesenfledermaus schwebten jetzt am Himmel.

Sie nahmen eine v-förmige Formation ein und flogen auf Brenda und Robert zu.

„Ich schlage vor, wir verschwinden hier!“, sagte Robert.

„Ich dachte, das ist alles nur ein cooles Spiel!“, rief Brenda.

„War offensichtlich ein Irrtum!“

„Na, toll!“

„Komm jetzt!“

Robert steckte das Schwert wieder ins Rückenfutteral. „Da vorne im Wald dürften wir etwas mehr Schutz haben. Sollen sich die Biester an den Ästen die Flughäute aufreißen!“ Wie gebannt stand Brenda da und starrte die herannahenden Monstren an. Das dämonische Leuchten in den Augen dieser Nachtkreaturen hatte eine beinahe hypnotische Wirkung auf sie.

Robert nahm sie bei der Hand und riss sie mit sich.

„Los jetzt, sonst können sie auf offenem Feld angreifen.“ Sie rannten zum Waldrand.

Der Gnom war inzwischen verschwunden. Von einem Augenblick zum anderen war er nicht mehr da gewesen. Aber über seinen Verbleib machten sich die beiden jetzt am allerwenigsten Gedanken.

Sie rannten auf den Nebel verhangenen Wald zu, der aus seltsam verwachsenen Bäumen bestand. Dazwischen war dichtes Unterholz. Hier da fanden sich auch Nadelbäume, von denen Eiszapfen hingen.

Der Schnee wurde hier allerdings plötzlich tiefer. Bis zu den Knien sanken sie ein und kamen kaum noch vorwärts.

So leicht macht ihr es uns? Welch ein Enttäuschung!, nahmen sie beide die Gedankenstimme eines ihrer Verfolger wahr. Ein Chor aus kreischendem Gelächter erscholl.

Robert spürte, wie ihn etwas im Rücken berührte und einen Schlag versetzte, der ihn in den Schnee taumeln ließ.

Er drehte sich am Boden um die eigene Achse, riss das Rapier heraus, aber sein Handgelenk wurde von der Klauenhand der Nachtkreatur gepackt und zur Seite gebogen. Ein Griff wie ein Schraubstock, gegen den Robert nichts tun konnte.

Eine namenlose, unfassbare Kälte ging von dieser Berührung aus. Die Kälte dieser Winterlandschaft war nichts dagegen.

Eine zweite Klauenhand griff nach Roberts Hals.

Das tierhafte Maul des Monstrums öffnete sich und ein fauliger, übel riechender Atem betäubte Roberts Sinne. Das dämonische Leuchten hypnotisierte ihn. Er spürt, wie sein Willem zum Widerstand erlahmte und ihm langsam, aber sicher alles gleichgültig wurde.

Der bleiche, an einen Halbaffen erinnernde Kopf senkte sich nieder und schon berührten die spitzen Reißzähne Roberts Haut.

Die triumphierende Äußerung der Gedankenstimme erreichte ihn noch.

Schwächling! Es war schnell zu Ende mit dir!

Kapitel 4: Kreaturen der Finsternis

Irgendwo hatte Robert mal gelesen, dass man das eigene Leben wie einen Film innerhalb von Sekunden vor sich ablaufen sah, wenn man seine letzten Momente erlebte.

Er hatte sich das nie richtig vorstellen können und deshalb für Unsinn gehalten. Aber jetzt geschah genau das! Er sah Szenen aus seinem bisherigen Leben vor sich. Wie Zeitrafferaufnahmen wirkte das. Aber es lief immer wieder auf dasselbe hinaus. Der Typ an der DeKalb Station… Verdammt, ich hätte mich nie von ihm anquatschen lassen sollen…

Aber für diese Erkenntnis war es jetzt zu spät.

Das Fledermausmonster, das sich über ihn beugte, stieß jetzt einen tiefen, grollenden Laut aus, der ein paar ausgesprochen schrille Obertöne hatte, die Robert fast das Gehör raubten.

Blut! , dachte das Wesen.

Plötzlich surrte etwas durch die Luft.

Ein Pfeil!

Brenda musste ihn abgeschossen haben. Er fuhr dem Monstrum in die Schulter. Die Nachtkreatur brüllte laut auf.

Ein weiterer Pfeil fuhr ihr in den Oberkörper und durchbohrte ihn.

Nein!

Der Schrei der Gedankenstimme fuhr wie ein schmerzhafter Stich durch Roberts Hirn. Das Wesen zerfiel zu übel riechendem Staub, der auf Robert herabrieselte und ihm schier den Atem nehmen drohte.

Nichts blieb von dem Ungeheuer. Nicht einmal die Knochen.

Der beinahe hypnotische Bann der dämonischen Augen war gebrochen. Robert drehte auf dem Boden herum.

Dort, wir er gerade noch gelegen hatte, stürzte sich eine andere Nachtkreatur mit geöffnetem Maul zu Boden, um das Werk seines Vorgängers zu vollenden.

Auch dieses Wesen wurde von Brendas Pfeil getroffen und zerfiel zu Staub. Robert richtete sich auf. Im nächsten Moment stand er wieder auf den Beinen als bereits die dritte Kreatur herannahte.

Diesmal griff Robert zum Schwertgriff. Er zog die zweischneidige Klinge aus dem Futteral auf seinem Rücken und hielt sie mit beiden Händen. Das Wesen stürzte sich auf ihn.

Der Schrei, der dabei ausgestoßen wurde, war so schrill, dass er kaum zu ertragen war und einen allein schon in den Wahnsinn treiben konnte.

Robert hieb der Kreatur den Kopf ab.

Auch sie zerfiel zu Staub, der grau über den weißen Schnee gestreut wurde.

Drei Angreifer waren noch übrig, doch die waren jetzt vorsichtiger geworden. Sie zogen Kreise über den Köpfen von Brenda und Robert.

„Danke übrigens!“, sagte Robert keuchend. „Das war ziemlich knapp eben!“

„Schon gut. Aber sag nie wieder, dass das alles nur ein Spiel ist!“

„Das wirst du nicht mehr von mir hören, Brenda!“, versprach Robert.

Sie legte einen weiteren Pfeil ein und schoss ihn ab, aber er ging daneben.

„Wir dürfen unsere Waffe nur benutzen, wenn wir absolut sicher sind, damit auch einen Erfolg zu erzielen“, sagte Robert.

„Du meinst, dieser nicht gerade sehr zuvorkommende Diener-Dämon gibt uns keine weiteren Pfeile?“

„Sehr hilfsbereit schien er mir jedenfalls nicht.“ Sie gingen Schritt für Schritt weiter in den Wald. Robert schlug das gefrorene Geäst des Unterholzes aus dem Weg. Hier, zwischen den knorrigen, eigenartig verwachsenen Bäumen und dem größtenteils blattlosen und von einer Eisschicht überzogenen Geäst der Sträucher, war es für die Fledermaus-Monster sehr viel schwerer, ihre Beute am Boden anzugreifen.

Zahllose gefrorene Äste behinderten sie dabei.

Mochten diese Schattenwesen auch über eine erstaunliche Regenerationsfähigkeit nach Verletzungen verfügen, so stand nach Roberts Beobachtungen allerdings fest, dass auch sie es vorzogen, nicht verletzt zu werden.

Aber wenn sie nicht in dem Gewirr aus gefrorenen Ästen hängen bleiben wollten, dann mussten sie sich schon auf den Boden begeben.

 

Aber dort waren sie leichter zu stellen und zu vernichten.

Für einige Momente schienen die Kreaturen etwas ratlos zu sein. Mit aufgeregtem Flügelschlag zogen sie ihre Runden über den beiden Flüchtenden, die immer weiter in den Wald vorstießen.

Brenda lehnte sich schließlich völlig außer Atem gegen einen Baum. Ihr Kopf war hochrot. Sie glühte förmlich.

Robert nahm die Armbrust von der Schulter und legte einen der Holzpflöcke ein. Man musste ziemlich viel Kraft aufwenden, um die Waffe zu spannen. Aber schließlich gelang es ihm.

„Robert, die beobachten uns und warten nur darauf, zuschlagen zu können!“

„Ich weiß. Gehen wir tiefer in den Wald. Es wird dort immer schwieriger für sie, uns zu erreichen.“ Brenda zuckte plötzlich zusammen, als von oben etwas auf sie herabstürzte.

Ein Eiszapfen hatte sich von einem der oberen Äste des Baumes, an die sich gerade anlehnte, gelöst.

Wie die Klinge eines riesigen Dolchs fuhr dieser mehr als ein Meter lange Zapfen mit seiner Spitze in den Boden.

Brenda schluckte. „Ganz ungefährlich ist es hier aber auch nicht“, stieß sie hervor.

„Jedenfalls wissen wir inzwischen, dass für diese Monstren das meiste zu gelten scheint, was in klassischen Vampirgeschichten über die Blutsauger bekannt ist.“

„Du meinst, man kann sie pfählen! Wie tröstlich!“

„Und man tötet sie auch, wenn man ihnen den Kopf abschlägt. Aber es wäre ja auch möglich, dass sie auf das Sonnenlicht reagieren. Dann hätten wir zumindest am Tag zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang Ruhe vor ihnen.“ Sie stapften weiter durch den Schnee und hatten dabei immer wieder ängstlich den Blick empor gerichtet. Einerseits, um nicht von einem der zahllosen Eiszapfen erschlagen zu werden, die von den Bäumen herabhingen und andererseits um die drei Nachtkreaturen im Auge zu behalten, die ihre Jagd offenbar noch lägst nicht aufgegeben hatten.

So schnell werdet ihr uns nicht los! , meldete sich die Gedankenstimme.

Sie warteten offenbar nur auf einen geeigneten Moment um zuschlagen zu können.

Irgendwann werden eure Kräfte erlahmen und dann schlägt unsere Stunde. Und zuvor werden wir uns an eurer Furcht weiden!

„Sadisten!“, stieß Brenda ärgerlich hervor.

Eine der Kreaturen streifte jetzt im Tiefflug durch die Baumkronen, griff dabei an die Äste und riss daran.

Ein Dutzend Eiszapfen sausten hernieder und bohrten sich rechts und links von den beiden Flüchtenden in den Boden. Die beiden rannten weiter – geradewegs in eine Zone hinein, die von dichten Nebelschwaden erfüllt wurde.

Der Kreatur schien es Freude zu machen, Brenda und Robert auf diese Weise in Angst und Schrecken zu versetzen.

Robert hob seine Armbrust und zielte. „Dieser garstige Gnom hat ja versprochen, uns warme Sachen zu geben, wenn wir genug dieser Bestien ausgeschaltet haben!“

„Auf die Versprechen dieses kleinen Teufels würde ich nicht allzu viel setzen“, lautete Brendas bissiger Kommentar.

Robert drückte ab.

Der angespitzte Holzpflock durchbohrte die Nachtkreatur.

Im Flug zerfiel sie. Staub und Knochen rieselten in die Baumkronen. Mehrere Eiszapfen lösten sich und noch ehe die Knochen den Boden berührten, waren sie ebenfalls zu einer pulverigen grauen Masse zerbröselt, die auf dem weißen Schnee Muster hinterließ.

„War doch gar nicht schlecht – für den erste Schuss!“ Er griff nach dem nächsten Pflock aus der Tasche und begann damit, ihn in die Waffe einzulegen.

Zwei Nachtkreaturen hatten noch überlebt. Ein Schwall wütender Gedanken erreichte Brenda und Robert. Sie bestanden aus einer Kette unflätiger Beschimpfungen und üblen Verwünschungen. Zum Teil jedoch handelte es sich nur um ein sinnloses, aufgebrachtes Gestammel - kombiniert mit eindrücklichen Gedankenbildern, die zeigten, was die Schattenwesen vorhatten. Mit schmerzhafter Intensität brannten sich dieser Bilder ins Bewusstsein, sodass es schwer wurde, sich auf das Laden der Waffe zu konzentrieren.

„Versuch es zu ignorieren, Robert!“, schlug Brenda vor, die unter demselben Bewusstseinsstrom litt und sich vor Schmerzen die Schläfe hielt, während vor ihrem inneren Auge kurze, schlaglichtartige Szenen erschienen, in denen zu sehen war, wie die Nachtkreaturen über sie herfielen, ihr den Hals aufrissen, das Blut aus der Schlagader hoch empor spritzte und sie mit ihren spitzen Vampirzähnen regelrecht zerrissen.

Ein Rascheln ging durch das Geäst, als Dutzende von Eiszapfen und hier und da auch eine Ladung Schnee zu Boden rutschten, während die Nachtkreatur zu Boden glitt und dabei zahllose Äste abknickten.

Hier und da riss das Monstrum sich sogar die Flughäute auf, aber man konnte zusehen, wie sie heilten.

Es stürzte sich auf Brenda.

Sie versuchte noch, einen Pfeil abzuschießen, aber die Kreatur war zu schnell. Sie bewegte sich für Sekunden mit einer schier unglaublichen Geschwindigkeit.

Brendas überhasteter Schuss ging daneben.

Das Wesen warf sie zu Boden und drückte sie in den Schnee.

Schon spürte sie den Griff der Klauenhand. Sie schrie aus Leibeskräften, aber dann brachte sie der hypnotische Blick der dämonisch glühenden Augen abrupt zum Schweigen. Jeder Widerstand erlahmte.

Das zweite Schattenwesen schickte jetzt zur Landung an.

Robert hatte die Armbrust inzwischen schussbereit.

Er drückte ab. Der hölzerne Bolzen bohrte sich in das offene Maul der Riesenfledermaus und nagelte sie an einen der knorrigen Bäume, wo der hölzerne Bolzen zitternd stecken blieb.

Die Kreatur zerfiel zu Staub.

Robert warf die Armbrust zur Seite, denn um Brenda zu helfen konnte diese Waffe nicht benutzen. Es war unmöglich, einen Bolzen schnell genug einzulegen, um noch verhindern zu können, dass das Schattenwesen seine Vampirzähne in den Hals des Mädchens hineinschlug.

Er griff nach dem Schwert in seinem Rückenfutteral und riss es heraus.

Die zweischneidige Klinge fasste er mit beiden Händen und stürzte sich auf das Fledermausmonster.

Mit einem Hieb trennte er den Kopf vom Rumpf.

Der Kopf rollte in den Schnee. Die zur Grimasse erstarrten Züge der Nachtkreatur verfielen innerhalb von Sekunden. Im nächsten Moment sah man einen lemurenartigen Totenschädel, der ebenfalls zu Staub wurde.

Dasselbe geschah mit dem Körper des Schattenwesens. Ein graues, ascheartiges Pulver rieselte auf Brenda nieder.

Gleichzeitig verbreitete sich unbeschreiblicher Geruch von Fäulnis und Verwesung. Brenda strich sich den Staub von der Kleidung.

Sie verzog angewidert das Gesicht.

Schreckensbleich sah sie aus – aber auch Roberts Züge waren durch das, was sie soeben durchgemacht hatten, gezeichnet. Das war weder cool noch ein Spiel, sondern eine leibhaftige Hölle, in der sie beide offensichtlich verdammt dazu waren, gegen Schattenkreaturen zu kämpfen, die sich an ihrer Furcht weideten.

Wie fern lag da jetzt der Gedanke an die morgige Matheklausur – und daran, dass Robert noch kein bisschen dafür getan hatte. Wie fern die ewigen Nervensägen-Predigten über eine verpfuschte Zukunft und irgendwelchen Brücken, unter denen man schlafen würde müssen, wenn man in der Schule nichts zu Stande brachte.

Robert war inzwischen so weit, dass er sich den täglichen Horror zu Hause sehnlichst zurückwünschte, wenn er dafür aus dem Bann dieser grotesken Höllenwelt hätte gelangen können.

Aber danach sah es nicht aus.

Robert trat auf Brenda zu und half ihr auf.

„Danke!“, stieß sie hervor. „Du hattest echt Mut!“

„War ja gerade noch rechtzeitig!“

„Aber später hätte es auch nicht sein dürfen.“ Sie fasste sich unwillkürlich an die Kehle und schluckte.

„Jedenfalls können wir sicher sein, dass die phänomenale Heilkraft der Biester nicht wirkt, wenn man ihnen den Kopf abschlägt.“

„Gott sei Dank!“

Robert Thornton atmete tief durch. Sein Blick traf sich mit Brendas. Er hatte sie immer schon gemocht. Jetzt sah er in ihren meergrünen Augen die Angst aufleuchten. Pures Entsetzen vor einem Schrecken, der völlig unfassbar war. Und ich bin schuld daran, dachte er. Wenn ich sie nicht überredet hätte, wäre wir jetzt nicht hier, sondern würden über irgendwelchen Gleichungen brüten…

Vor kurzem wäre diese Vorstellung noch der Verkörperung des reinen Schreckens gleichgekommen – nicht Brendas, sondern der Gleichungen und Formeln wegen, die Robert hasste wie die Pest. Jetzt jedoch erschien im der Gedanke daran fast idyllisch.