Schön und ermordet: Zwei Kriminalromane

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Aus der Reihe: Extra Spannung #5
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IV

Roth blieb im Wagen sitzen, nachdem er endlich eine Lücke für den Dienstwagen gefunden hatte. Er drehte die Seitenscheiben herab, um die kühle Luft hereinzulassen, die jetzt vom Hafen heraufstieg.

Wenn er den Kopf verdrehte, konnte er den Eingang des kleinen Ladens beobachten. Hin und wieder kam sie heraus, um einige Kleider auf dem Metallständer zu ordnen oder einer Kundin behilflich zu sein, die sich dann doch nicht für einen der bunten Fummel entscheiden konnte.

Es war Sommer, und die Touristen, die sich durch die engen Straßen rund um den Großneumarkt schoben, waren einfach zu bieder für die poppige Mode der kleinen Boutiquen.

Sie sah so unglaublich jung aus, jung, schmal und verletzlich. Martina Wolf. Tina, wie Sigrid ihre jüngere Schwester immer genannt hatte. Sigrid hatte oft von Tina gesprochen, obwohl die beiden einander kaum sahen und nicht viel gemeinsam hatten. Tina war elf Jahre jünger als Sigrid. Sie musste jetzt zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig sein. Damals, als er mit Sigrid befreundet gewesen war, war Tina erst sechzehn gewesen, ein Kind noch, hatte noch bei ihren Eltern gelebt, während Sigrid längst eine eigene Wohnung gehabt hatte.

Er wandte den Blick von Tinas zierlicher Gestalt und starrte in den tiefer werdenden Schatten der engen Gasse. Warum ging er nicht einfach zu ihr, zeigte ihr seinen Ausweis und fragte sie, wo ihre Schwester sich aufhielt?

Als Erstes hatte er festgestellt, dass Sigrids Name im neuen Telefonbuch schon nicht mehr verzeichnet war. Im Melderegister wurde sie noch unter ihrer alten Anschrift in Harvestehude geführt. Er war sofort hinausgefahren, hatte aber nur festgestellt, dass in der Wohnung ein Lehrerehepaar wohnte, das den Namen der Vormieterin nie gehört hatte.

Irgendjemand suchte Sigrid.

Dieselbe Sigrid, die er vor sechs Jahren verlassen hatte, um Helga zu heiraten. Er hatte Helga geliebt. Aber ihre Liebe zu ihm war nicht stark genug gewesen, um die Belastung, die sein Beruf mit sich brachte, auszuhalten. Vor zwei Monaten hatte sie ihn verlassen. Einfach so. Sie hatte ihre Sachen in ein paar Kartons gestopft, in ihren Mini geladen und war davongefahren. Sie hatte ein kleines Apartment gleich am Wandsbeker Markt gemietet, wo sie bei einem Rechtsanwalt arbeitete.

Als er erneut zu der kleinen Boutique hinüberblickte, ließ Tina schon das Rollgitter herab, obwohl es noch nicht halb sieben war. Er angelte seine Jeansjacke vom Rücksitz und stieg aus.

Sie kam ein paar Minuten später aus dem Hauseingang neben dem Laden. Er folgte ihrem schwingenden Folklorerock zum Großneumarkt hinauf. Sie trug das helle Haar kurzgeschnitten. Ihr Gang war schwungvoll, fast wie der eines Jungen. Unwillkürlich musste er lächeln.

Am Großneumarkt steuerte sie eins der Lokale an, vor denen Tische mit langen Bänken im Freien standen. Sie warf ihre Umhängetasche mitten auf den Tisch und setzte sich ans Ende der Bank. Sie kramte in der geräumigen Tasche herum, bis sie ihre Zigaretten fand. Mit dem Feuerzeug hatte sie dann Schwierigkeiten.

»Nehmen Sie meins«, sagte er, stieg neben ihr über die Bank.

Sie nahm das Feuerzeug, ließ die Flamme aufleuchten und gab es ihm zurück, ohne ihn anzusehen. Bei der Kellnerin bestellte sie ein Glas Weißwein. Sie sah ihn immer noch nicht an, als er sich ihrer Bestellung anschloss.

»Sie sind Tina«, sagte er.

Endlich wandte sie den Kopf und bedachte ihn mit einem ernsthaft prüfenden Blick aus leicht schrägen Augen. Sie zog dabei die Nase kraus und schürzte die Lippen vor Anstrengung, weil sie ihn nicht in ihrem Gedächtnis fand.

»Woher kennen Sie mich? Stellen Sie mir nach? Wieso wissen Sie, dass ich hier bin?«

»Eine Menge Fragen auf einmal«, sagte er bedächtig, »ich habe Ihre Mutter angerufen, und die hat mir gesagt, wo Sie arbeiten.«

»Meine Mutter? Am Telefon? Sie sagt nicht jedem hergelaufenen ...«

Sie unterbrach sich, als die Kellnerin den Wein brachte, sah ihn stirnrunzelnd und ohne Freundlichkeit an.

»Nicht jedem hergelaufenen Kerl, das ist richtig«, sagte er. »Sie erinnerte sich an mich. Ich bin Jürgen Roth.«

Die Flügel ihrer Stupsnase weiteten sich, und die grün schillernden Augen betrachteten ihn plötzlich mit wachem Interesse.

»Sie sind der Bulle!«, stellte sie fest.

Ihre Stimme klang etwas atemlos. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, nippte sie an ihrem Glas. Er fühlte sich gemustert und analysiert, und es irritierte ihn, dass er nicht wusste, wie und wo sie ihn einordnete. Als den Typ, der ihre Schwester sitzen gelassen hatte?

»Und was wollen Sie von mir?«, fragte sie schließlich.

»Sigrids Adresse«, sagte er beiläufig. Die hatte Frau Wolf ihm nämlich nicht gesagt. Weil sie sie nicht kannte, hatte sie behauptet, und Roth hatte ihr geglaubt.

»Und was wollen Sie jetzt wieder von Sigrid?«, fragte Tina.

»Sie wiedersehen«, antwortete er im gleichen beiläufigen Tonfall.

In ihren Augen erschien ein misstrauischer, feindseliger Ausdruck. »Warum?«, wollte sie wissen.

Roth sah sich um. Drüben war das Polizeirevier 4, in dem man ihn gut kannte. Noch hatte er nichts zu befürchten, noch hatte er sich nicht unkorrekt verhalten. Er konnte auch morgen noch zu Tondorf gehen und ihm erklären, dass er die gesuchte Sigrid Wolf kannte, sehr gut kannte, dass er lange bei ihr ein- und ausgegangen war, dass sie ihre freien Tage und Nächte miteinander verbracht und sogar gemeinsam in Urlaub gefahren waren.

»Gehen wir woanders hin«, sagte er unvermittelt.

»He, he! Ich gehe nicht einfach so mit einem ...«

»Hergelaufenen Kerl?«

»Mit einem Bullen.« Sie nippte an ihrem Wein.

Er nahm das Glas und schob es zurück, legte einen Geldschein auf den Tisch und fasste ihren Arm.

»Sigrid wird gesucht«, sagte er nah an ihrem Ohr. Ihr Haar roch nach irgendwelchen Blüten.

Sie sah ihn an, ihre Augen weiteten sich. »Im Mordfall Blume?« Sie flüsterte unwillkürlich.

»Natürlich handelt es sich um den Mordfall Blume«, antwortete er gepresst. »Aber nicht so, wie Sie denken! Kommen Sie jetzt!«

Es dämmerte bereits, als sie nebeneinander durch die Wallanlagen gingen. Tina hatte zunächst Abstand zu ihm gehalten und es vermieden, dass sie seine Schulter berührte. Jetzt schien es ihm, als ob sie seine Nähe suchte. Was an der einbrechenden Dunkelheit liegen mochte, und nicht daran, dass sie inzwischen Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Denn ihre Stimme klang unverändert abweisend, sogar feindselig.

Sigrid hatte lange genug mit Blume zusammengelebt, um von der Brisanz seiner Arbeit zu wissen. In mehreren Artikelfolgen hatte der Journalist die Existenz einer organisierten Kriminalität nachzuweisen versucht und dabei scharfe Angriffe gegen Polizei und Justiz geführt. In dem Zusammenhang hatte er sich auch nicht gescheut, Heinen beim Namen zu nennen und ihn als das zu bezeichnen, was er war — einen Verbrecher. Er hatte Fakten veröffentlicht, die der Polizei entweder gar nicht bekannt waren oder die sie aus juristischen Gründen oder aus Gründen des Datenschutzes nicht gegen Heinen verwenden durfte.

Roth hatte Sigrids Aussage mit besonderer Sorgfalt studiert, nachdem die Ermittlungsakten der zuständigen Mordkommission bei der Soko Heinen gelandet waren.

Demnach war Sigrid nur wenige Meter von Blumes Boot entfernt gewesen, als er umgebracht wurde, aber sie hatte schlicht erklärt, nichts und niemanden gesehen zu haben. Und auch auf andere Weise konnte sie nichts zur Aufhellung der Tat beitragen. Sie konnte nicht einmal angeben, ob der Nachlass des Journalisten vollständig war, ob nach dem Mord etwa Aufzeichnungen verschwunden waren oder ob an anderer Stelle Notizen, Tonbandprotokolle oder Dokumente existierten.

Vermutlich hatte Blume sie auf den Fall der Fälle vorbereitet, und Sigrid war klug, das wusste Roth. Klug genug, sich an das zu halten, was Blume ihr eingeschärft haben mochte.

Nichts wissen.

Gar nichts.

Ein Prozess gegen Heinen oder Figuren aus seinem Umkreis konnte mühelos verschleppt werden, und keine Polizei der Welt wäre imstande gewesen, eine Zeugin auf Dauer zu schützen.

Auch Roth hätte ihr geraten, zu schweigen, besser noch, nichts zu wissen.

Aber jetzt wurde sie gesucht ...

»Sie sind nicht der Erste, der mich wegen Sigrid anquatscht«, sagte Tina.

»Wer hat Sie angequatscht?«, fragte er alarmiert.

»Irgendwelche Typen«, antwortete sie gleichmütig. »Freunde oder Bekannte von Sigrid. Ich kenne ihre Freunde nicht.«

»Wie viele waren es, die nach ihr gefragt haben? Und wie sahen sie aus?«

»Mann, Sie können einen nerven! Es waren zwei, glaube ich. Einer kam zweimal. Sah gut aus. Wie ein Sportler.«

Roth musste sofort an Makowski denken, den Zuhälter, der in Heinens Hierarchie weit nach oben gekommen war.

»Und der andere?«, fragte er.

Sie hob unbehaglich die Schultern. »Blond, glaube, ja, blond. Nicht sehr groß, aber irgendwie unheimlich. Und brutal. Wie ... wie ein Fleischerhund.«

Roth zog das Fahndungsfoto aus der Tasche. Unter einer Laterne zeigte er ihr Nelles' breiten Kopf mit den dichten hellen Brauen.

»Ist er das?«

Sie legte den Kopf schief und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Schließlich nickte sie.

»Ja, kann sein, ja ...«

Er fasste sie an den Schultern und schüttelte sie.

»Was denn nun?«, fuhr er sie ungeduldig an. »Ist er es? Oder ist er es nicht?«

»Was fällt Ihnen ein!«, fauchte sie. Sie versuchte, sich aus seinem harten Griff zu befreien, aber er hielt sie fest.

 

»Nach allem, was wir wissen, hat dieser Mann Blume umgebracht! Begreifen Sie jetzt? Sie hat ihn wahrscheinlich gesehen! Und sie muss etwas wissen, mehr, als sie damals ausgesagt hat! Und jetzt sind sie hinter ihr her!«

»Wer soll hinter ihr her sein?«

»Mein Gott, können Sie nicht einmal mit der dauernden Fragerei aufhören? Sie wird nicht von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft gesucht. Im Rahmen eines Strafprozesses kann auch der Anwalt den Aufenthaltsort einer Person feststellen lassen, wenn er vorgibt, die Aussage dieser Person im Interesse seines Mandanten zu benötigen. Da genügt ein Vorwand. Verstehen Sie jetzt?«

»Aber wer ...?«

»Sie fragen ja schon wieder! Ich wollte es vermeiden, dieser Frage nachzugehen. Irgendjemand könnte sich fragen, was mein Interesse an Sigrid ist.«

»Und? Was ist Ihr Interesse?«

Roth ließ sie endlich los. Er atmete tief durch. Im Schein der Laterne sah ihr Gesicht blass aus. Ihre Augen konnte er nicht erkennen.

Was war sein Interesse? Diese Frage hatte er sich noch nicht gestellt. Sie war einmal seine Geliebte gewesen, doch das war längst vorbei, eine Erinnerung an eine Phase seines Lebens, die abgeschlossen war.

Oder schien es nur so?

Oder hatte ihn die Erkenntnis aufgeschreckt, dass sie zum Schweigen gebracht werden sollte?

Wäre sie eine fremde Zeugin gewesen, hätte er den Vorwand dieses gerichtlichen Fahndungsersuchens gar nicht erkannt. Gräfes Gerede von einem Mann im Präsidium, der für Heinen arbeitete, war doch nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben. Sonst wäre er zu Tondorf gegangen und hätte ihm von seinem Verdacht erzählt, dass Sigrid Wolf nur deshalb gesucht wurde, damit ein Killer sie in Heinens Auftrag für immer zum Schweigen bringen konnte.

»Ich weiß es nicht«, sagte er ratlos. »Ich weiß nur, dass sie verloren ist ohne mich.«

Sie standen immer noch an derselben Stelle in der Nähe der Laterne. Das Licht fiel schräg über ihr Gesicht. Die dunklen Augenlöcher waren reglos auf ihn gerichtet. Plötzlich spürte er eine hilflose Wut.

»Irgendetwas müssen Sie doch wissen! Wo könnte sie sein? Bei Freunden? Wovon lebt sie? Herrgott, überlegen sie doch!«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie, ebenso hilflos wie er. »Ehrlich nicht ...«

*

Er wusste genau, dass es ein Traum war, aber er wusste auch, dass er den Traum verbüßen musste wie eine Strafe. Immer und immer wieder.

Der Mann lag am Boden, der Kopf war ihm auf die Schulter gefallen. Über ihm klebte die schleimige Blutspur auf der gelben Tapete. Ein Schrei quoll aus Roths Kehle, als sich der Blick der brechenden Augen wieder belebte, als der Mann den Kopf hob und sich an der Wand in die Höhe stemmte wie in einem Film, der rückwärts lief. Gleich würden die beiden Kugeln in seine Pistole zurückkehren ...

Er wusste nicht, ob ihn sein eigener Schrei oder das Schrillen des Telefons von dem Alptraum befreite.

Keuchend fuhr er in die Höhe. Er hatte Mühe, sich zu orientieren. Er hatte vergessen, die Fenstervorhänge zu schließen. Die beiden Rechtecke hoben sich als fahle Umrisse von der dunklen Umgebung ab.

Bevor er den Schalter der Nachttischlampe fand, stieß er das Glas um, aus dem er vor dem Einschlafen getrunken hatte. Schaler Biergeruch breitete sich aus. Ungläubig starrte er auf die Uhr. Es war halb vier.

»Hallo!« Seine Stimme klang belegt. Er räusperte sich. »Hallo, wer ist da?«, fragte er schroff.

»Ich glaube, ich habe da was, ist mir eben eingefallen ...«

Er erkannte ihre kleine, unsichere Stimme sofort. Er setzte sich auf, räusperte sich noch einmal und wollte zu einer Frage ansetzen.

»Sind Sie noch da? Ich bin's, Tina Wolf.«

»Ja, Ja, natürlich.« Er war jetzt hellwach. »Wissen Sie, wo sie ist?«

»Nein, das nicht, aber ich kann Ihnen etwas zeigen.«

»Wo sind Sie?«

»Bei meinen Eltern. He, aber nicht jetzt! Kommen Sie ins Geschäft. Irgendwann. Heute Mittag vielleicht?«

»Wann fangen Sie an?«

»Um zehn.«

»Kommen Sie etwas früher. Neun Uhr?«

Er wartete ihre Antwort nicht ab. Er legte einfach auf.

V

Um halb zehn bog sie endlich in die kleine Straße ein. Er stieg aus und schmetterte die Tür des Dienstwagens zu.

Sie trug einen langen weinroten Rock und eine dünne weiße Bluse. Ihre große Schultertasche, die schon eher ein Sack war, schlug bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte. Ihr Anblick, das kleine, zögernde Lächeln im zarten Gesicht, entschädigte ihn für das ungeduldige Warten.

Mit einer eckigen Bewegung streckte sie ihm die Hand hin, zog sie aber sofort wieder zurück, nachdem er sie gedrückt hatte, als befürchtete sie, er würde sie nicht mehr loslassen.

»Wo können wir hingehen?«, fragte er. »In Ihren Laden?«

»Ich habe noch nicht gefrühstückt«, sagte sie. »Wenn ich so früh aufstehe, kriege ich keinen Bissen runter. Ich brauche nur 'ne Tasse Kaffee bei Tchibo oder so«, fügte sie schnell hinzu, als sie seine Ungeduld bemerkte.

Sie gingen in ein Bistro am Großmarkt, in dem es auch Frühstück gab. Roth bestellte Kaffee und einige Croissants.

»Ich habe auch noch nichts im Magen«, sagte er.

Sie sah ihn kurz an. »Schlecht geschlafen?«, fragte sie.

Er hob nur die Schultern, brach ein Stück von einem Hörnchen ab und spülte es mit einem Schluck Kaffee hinunter.

Er starrte auf die festen kleinen Brüste, die deutlich unter dem dünnen weißen Stoff zu erkennen waren, und er schluckte. Jäh wurde ihm bewusst, dass er seit mehr als vier Wochen keine Frau mehr gehabt hatte.

Sie bemerkte seinen Blick nicht.

»Ich hätte mit dem Anruf auch warten können«, sagte sie kleinlaut, während sie mit beiden Händen in der großen Tasche kramte.

»Das ist schon in Ordnung«, murmelte er. Er war froh, dass es ihm gelang, seine Fassung wiederzugewinnen.

Sie legte eine Postkarte neben seine Tasse, mit der Bildseite nach unten. Roth erkannte die französische Briefmarke und Sigrids etwas chaotische Schriftzüge.

Er nahm die Karte in die Hand. Sie war an Tina adressiert und im Mai abgestempelt. Also vor dem Mord an Blume.

Er überflog den Text. Er spürte einen kleinen Stich, weil ihm einige der Formulierungen bekannt vorkamen.

Verleben hier eine herrliche Zeit ... Grandiose Landschaft ... Beeindruckende Stille ...

Er stutzte. Die letzte Zeile war in einer ihm fremden Handschrift geschrieben. Herzliche Grüße an die kleine Schwester von Hilmar.

Endlich drehte er die Karte herum. Der Anblick der kleinen rotbraunen Steinhäuser mit den staubigen Ziegeldächern, die sich über einer steil abfallenden, schmalen Straße an den hellen Kalksteinfelsen klammerten, überraschte ihn nicht mehr, genauso wenig wie der Anblick des ausladenden Feigenbaumes, in dessen Schatten samstags schwarzgekleidete Frauen Honig, Lavendelsträußchen oder Olivenöl feilboten. Er betrachtete die silbrigen Olivenbäume, die ihre Wurzeln in den kargen Boden gruben und die schlanken Zypressen hinter bröckelnden Mauern, und er glaubte, wieder dieses Duftgemisch in der Nase zu spüren, das unter einer brennenden Sonne aus den Blütenteppichen aufstieg.

Sie war auch mit Blume dort gewesen.

Zweimal war er, Roth, mit Sigrid in dem kleinen Dorf am Südausgang der Gorges de Daluis gewesen. Sie hatten ihr Zelt am Ufer des selbst im Sommer noch reißenden und eiskalten Gebirgsflusses aufgeschlagen und die wilde Landschaft erkundet. Mit Händen und Füßen und atemloser Freude.

Sie hatte sich in das Land verliebt, daran erinnerte er sich genau. Wenn sie durch die engen, kühlen Gassen des kleinen Ortes mit den vielen Stufen und geheimnisvollen Durchgängen gegangen waren, hatte sie nach den Schildern Ausschau gehalten, auf denen stand, dass hier ein Haus zu verkaufen, dort eins zu vermieten war.

Auf der Postkarte entdeckte er einen mit der Spitze des Kugelschreibers hineingedrückten Punkt über einem der roten Dächer. Er drehte die Karte noch einmal um. An den Rand hatte Sigrid gekritzelt: Wir wohnen genau unter dem Turm.

Roth sah Tina aufmerksam an. »Wieso ist Ihnen diese Karte eingefallen?«, fragte er.

»Ich weiß es selbst nicht. Ich habe über unser Gespräch gestern Abend nachgedacht, es ging mir nicht aus dem Kopf. Da fällt einem so manches ein.«

»Dass sie Ihnen eine Karte aus dem Urlaub geschrieben hat?«

»Ja, und was sie später dazu gesagt hat. Als sie von der Reise kam, von der da«, sie deutete auf die Karte, »hat sie uns besucht. Meine Eltern und mich. Sie hat gesagt, dass sie dort gern leben würde.«

Das hatte sie auch zu ihm gesagt, als sie dort unten waren. Sigrid geriet leicht ins Schwärmen. Er sah Tina an. Sie bemerkte seine Enttäuschung.

»Ich weiß nicht mehr genau, wie sie es gesagt hat«, fuhr sie eifrig fort. »Wenn sie könne, oder wenn sie Probleme habe, wenn sie allein sein wolle, dann würde sie dort hingehen.« Sie steckte eine Zigarette zwischen ihre Lippen. »Mehr ist es nicht«, gab sie zu. »Haben Sie Feuer?«

Er sah noch einmal auf den Poststempel. Drei Wochen nach dem dort gezeigten Datum war Blume ermordet worden. Am 15. Juni. Da sie von den Kollegen der Mordkommission anscheinend nicht vermisst wurde, nahm er an, dass sie ihnen eine ausreichende Zeit zur Verfügung gestanden hatte und dass keine Fragen offen geblieben waren. Demnach musste sie ihre Zelte in Hamburg irgendwann im Juli abgebrochen haben.

»Wo hat sie zuletzt gearbeitet?«, fragte er. »War sie noch bei dieser Computerfirma in Harburg?«

»Schon lange nicht mehr. Sie hat für Blume geschrieben. Berichte abgetippt, auch Material gesammelt, glaube ich. Recherchiert, ja, davon hat sie mal gesprochen.«

Roth atmete flach. Davon hatte er kein einziges Wort in den Protokollen entdeckt. Er war sicher, dass er nichts übersehen hatte. Sie hatte verschwiegen, dass sie mehr als Blumes Freundin gewesen war.

»Was werden Sie tun?«, fragte Tina, als er der Kellnerin winkte und ihr einen Geldschein reichte. »Dahin fahren?«

Er steckte die Karte ein. »Ich weiß es nicht, ich glaube nicht«, sagte er.

Er wusste noch, in welcher Sparkassenfiliale Sigrids Gehaltskonto geführt worden war, und aus langer Erfahrung als Fahnder wusste er, dass viele Leute ihrer alten Filiale treu blieben, selbst wenn sie in einen ganz anderen Stadtteil zogen oder ihre Arbeitsstelle wechselten.

Roth geriet an einen bedächtigen älteren Sparkassenangestellten, mit dem er vor Jahren schon einmal zu tun hatte und der sich noch an ihn erinnerte.

»Bevor ich eine gerichtliche Verfügung zur Aufhebung des Bankgeheimnisses beantrage«, erklärte Roth, »möchte ich erst feststellen, ob Frau Wolf sich bewusst den Nachforschungen entzieht, oder ob sie einfach ihren Wohnort gewechselt und es versäumt hat, sich dort anzumelden.«

Der Angestellte tippte konzentriert auf die Tastatur seines Computerterminals.

»Die letzte Gehaltsüberweisung liegt bereits zwei Jahre zurück«, stellte er dann überrascht fest. »Alle Daueraufträge wurden rechtzeitig zurückgezogen ... Aber sie hat kürzlich Euro-Schecks gezogen, acht Stück. Die müssen sich noch in ihrem Besitz befunden haben. Das Konto weist einen Sollstand auf.« Der Angestellte sah Roth vorwurfsvoll an.

»Wann wurden die Schecks vorgelegt?«, fragte Roth.

Der Angestellte rief die entsprechenden Angaben auf dem Bildschirm ab.

»Zwischen dem 28. August und dem 4. September, also erst vor wenigen Tagen. Stimmt etwas nicht?«

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Roth.

»Wir werden wegen der Überziehung nichts unternehmen. Ich sehe, dass sie hier noch über ein Sparguthaben verfügt, das die Summe nahezu deckt.«

»Können Sie auch feststellen, wo sie die Schecks vorgelegt hat?«

Der Angestellte zögerte, dann stand er auf. »Einen Augenblick.«

Als er zurückkam, gab er Roth einen Zettel. Darauf standen die Namen der drei Banken, in denen sie die Schecks eingetauscht hatte.

Alle drei befanden sich in Cannes in Südfrankreich, knapp zwei Autostunden von dem Dorf am Hang entfernt.

Tondorf war sehr aufgeregt, als er in Roths Zimmer stürmte.

»Was fällt Ihnen ein, ein Dienstfahrzeug für private Zwecke zu benutzen?«, fragte er laut.

Roth sah ihn mit gespieltem Erstaunen an. »Der Wagen steht mir im Rahmen meiner Tätigkeit innerhalb der Sonderkommission zur Verfügung ...«

»Spielen Sie nicht den Einfaltspinsel, Herr Roth! Sie sind für den Innendienst eingeteilt! Sie hätten den Wagen sofort an die Fahrbereitschaft übergeben müssen!«

 

»Regen Sie sich nicht auf, Herr Tondorf, das kann ich ja jetzt erledigen. Ich habe nicht daran gedacht.«

Tondorf wollte sich nicht beruhigen. »Sie sind zu spät zum Dienst erschienen. Wenn Sie sich nicht wohl fühlen, Herr Roth ...«

»Ich bin in Ordnung«, sagte Roth ärgerlich. »Machen Sie doch kein Theater wegen des Wagens!«

»Sie und Gräfe, Sie haben sich immer Sonderrechte herausgenommen. Damit ist es nun vorbei, Herr Roth! Wenn ich Sie hier bei einem Fehler erwische, dann schlage ich zu, daran sollten Sie immer denken!«

»Herr Peikert hat mir nahegelegt, Urlaub zu nehmen«, sagte Roth.

»Ach ...«

»Und den werde ich nehmen, sofern keine sachlichen Gründe dagegenstehen. Sachliche Gründe lassen sich bei mir lediglich aus dem schwebenden Disziplinarverfahren ableiten, und darauf haben Sie keinen Einfluss, Herr Tondorf.«

»Ich würde Sie auch nicht zurückhalten wollen, Herr Roth.«

»Was willst du denn tun?«, fragte Gräfe, als sie sich in der Mittagspause in der Kantine trafen. Roth nahm nur einen Salat, Gräfe begnügte sich mit einem Teller roter Grütze.

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete Roth ausweichend. Er sah den Freund nicht an.

»Du schmeißt doch nicht das Handtuch?«

»Ich nehme nur meinen Jahresurlaub.«

»Mann, du kannst mir doch nichts vormachen! Ich nehme dir einfach nicht ab, dass du dich allein in deinen fabelhaften Wagen setzt und ins Blaue fährst!«

Roth stocherte in seinem Salat herum. Er hatte sich entschlossen, nicht einmal Gräfe in sein Vorhaben einzuweihen. Er wollte ihn weder in Gewissensnöte stürzen noch in Gefahr bringen. Er kannte Gräfe gut, zu gut. Gräfe würde kompromisslos einsteigen, wenn er von dem seltsamen Fahndungsersuchen erführe. Gräfe hätte den Vorgang als willkommenen Anlass genommen, um damit bis zum Polizeipräsidenten, notfalls auch bis zum Innensenator, vorzustoßen.

Und dann stünde Gräfe auf der Abschussliste, vorausgesetzt, es gäbe die von ihm behauptete Verbindung zwischen dem Präsidium und Heinen, dem Hai.

»Ich schreibe dir eine Karte«, sagte er leichthin. »Grüß Monika und die Kinder.«

*

Er fing sie vor dem Laden ab, als sie aus der Mittagspause zurückkehrte. Hinter der Scheibe lauerte eine elegante Frau mittleren Alters, die er für die Inhaberin hielt. Um ihren grimmigen Blicken auszuweichen, zog er Tina ein Stück zur Seite.

»Ist was passiert?«, fragte sie beunruhigt.

»Ich will versuchen, sie zu finden«, sagte er.

Bevor die französische Polizei ihren Aufenthaltsort feststellte und eine ahnungslose deutsche Behörde die Information an den Mann weiterleitete, der Sigrids Tod beschlossen hatte, fügte er in Gedanken hinzu.

»Sind Sie hergekommen, nur um mir das zu sagen?«, fragte sie verwundert.

Roth nickte. »Vielleicht ist Ihnen ja noch etwas eingefallen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wissen Sie denn, wo sie sein könnte? He, Sie haben mir ja die Karte gar nicht wiedergegeben! Glauben Sie denn, dass sie da ist? Wissen Sie überhaupt, wie das Kaff heißt? Ich weiß nicht einmal, in welcher Gegend das liegt!«

Roth lächelte unwillkürlich, weil ihre Fragen wieder einmal schneller kamen, als er sie beantworten konnte.

»In Südfrankreich«, sagte er.

»Aha«, machte sie verstehend. »Tun Sie das privat? Oder sagt man da auf eigene Faust?«

»Ich habe Urlaub«, sagte er.

»Tja, dann viel Glück.« Unschlüssig sah sie ihn an.

»Vielleicht sagen Sie mir ja irgendwann mal Bescheid. Wann fahren Sie los?«

»Morgen früh. Machen Sie's gut.«

*

Heinen presste den Telefonhörer an sein Ohr.

»Er wird sie schon finden«, sagte der Mann am anderen Ende. »Alles andere ist jetzt Ihre Sache!«

»Ich weiß, was meine Sache ist«, gab Heinen barsch zurück. »Ich hatte etwas mehr erwartet als die Hoffnung auf einen Erfolg.«

»Er ist Polizist«, sagte der Anrufer beschwörend. »Er ist ein Spürhund! Machen Sie sich keine Sorgen, wenn er sich erst einmal an eine Spur gehängt hat, lässt er nicht mehr locker!«

»Wenn sich in diesem Fall jemand Sorgen machen muss, wenn etwas nicht klappt, dann sind Sie es«, sagte Heinen, bevor er auflegte.

Er erhob sich und öffnete die Tür zur großen Diele.

»Bernd!«, rief er laut.

Makowski kam aus seinem Zimmer. Er folgte dem Hai in dessen Arbeitszimmer und wartete, bis der andere das Schweigen brach.

»Er hat angebissen«, sagte Heinen, nachdem er wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte. »Wenn sie ausgeschaltet ist, kann uns niemand mehr etwas anhaben! Niemand, Bernd, niemand!« Heinens breiter Mund verzerrte sich, die glitzernden Augen verschwanden hinter fleischigen Lidern. »Sie ist irgendwo in Frankreich ...«

»In Südfrankreich, so weit war ich auch schon«, sagte Makowski. »Wieso muss es ausgerechnet der ehemalige Liebhaber sein? Der weiß doch nicht mehr als die Schwester!«

»Er ist Polizist, und er versieht seinen Job. Er sucht sie auf eigene Faust, Bernd. Weißt du, was das bedeutet? Er ist ganz anders motiviert.« Heinen machte eine Pause. Dann fuhr er fort: »Wir müssen Nelles jetzt nach Frankreich schaffen.«

»Für Olsens Spedition fährt jeden Tag ein Lastzug von Hamburg nach Marseille. Kein Problem, Nelles da draufzukriegen. Notfalls lasse ich einen Container präparieren.«

»Darum soll Olsen sich selbst kümmern. Du sorgst dafür, dass Nelles einen Wagen bekommt, wenn es so weit ist. Und die Waffen, die er braucht.«

»Kein Problem, Chef. Nur - wie setzen wir ihn auf die Fährte dieses Polizisten? Wir können ihn doch nicht hinter ihm herfahren lassen! Der Bulle kennt ihn, und der Haftbefehl gilt auch in Frankreich.«

»Nelles soll sich bedeckt halten, bis er das Zeichen für seinen Einsatz bekommt. Für den Polizisten bist du verantwortlich. Häng dich an ihn. Nimm so viele Leute mit, wie du brauchst.«

Makowskis Magen zog sich zusammen. Heinen bemerkte seinen betroffenen Gesichtsausdruck. Er beugte sich vor. Sein fleischiges Gesicht erstarrte wie Lava.

»Meinst du, ich verlasse mich darauf, dass ein hirnloser Henker wie Nelles unser Problem lautlos erledigt? In einem fremden Land? Wenn es so ist, umso besser. Dann brauchst du nur dafür zu sorgen, dass er nicht zurückkommt. Es soll da unten tiefe Schluchten geben und miserable Straßen. - Aber wenn er nicht zurechtkommt, musst du einspringen, Bernd.«

So hatte sich der Hai das gedacht. Er, Bernd Makowski, sollte die Oberaufsicht bei einem Mordunternehmen führen. Und notfalls selbst einspringen. Die Frage, die der Hai gestern an ihn gerichtet hatte, ob er bereit sei, Nelles umzulegen, war nicht nur eine Testfrage gewesen. Typen wie Nelles zählten nicht. Er, Makowski, hätte es wissen müssen.

Für ihn schlug die Stunde der Wahrheit.

Er sollte eine Frau umbringen.

Und einen Polizisten, wenn es sich nicht vermeiden ließ, ebenfalls.

Er nickte und hielt dabei dem glitzernden Blick stand. Ihm lag eine Frage auf der Zunge, doch Heinen kam ihm zuvor.

»Ich weiß, dass die Lavalle-Brüder aus Marseille mir noch einen Gefallen schulden, aber ich werde mich hüten, die Schuld einzufordern! Und weißt du, warum nicht?« Heinen formte die großen Hände zu klumpigen Fäusten. »Ich will reinen Tisch machen, Bernd, und nicht eine neue Abhängigkeit riskieren!« Heinens Atem ging rasselnd. »Enttäusch mich nicht, Bernd«, sagte er abschließend.

*

Roth knipste die Nachttischlampe aus. Er versuchte, sich zu entspannen und ein paar Stunden Schlaf zu erwischen, bevor er sich auf die lange Fahrt machte.

In Wirklichkeit wartete er nur darauf, dass sich der Alptraum wieder einstellte.

Er schreckte auf, als das Telefon klingelte. Fluchend schaltete er das Licht wieder ein. Nach einem Blick auf die Uhr, stellte er verblüfft fest, dass er schon zwei Stunden geschlafen haben musste.

Es war viertel nach zwölf.

»Ja?«, schrie er wütend in den Hörer.

»Ich bin's«, sagte sie. »Entschuldigen Sie ...«

Er wollte ihr etwas Grobes an den Kopf werfen, aber er atmete nur tief aus und fragte beherrscht: »Was wollen Sie?«

»Kann ich mitkommen?«, fragte sie.