Elbkiller: 7 Hamburg Krimis

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4. Kapitel

„Wie viel ist insgesamt verschwunden?“, fragte der Mann mit der Schirmmütze. Seine Worte hallten in der großen Lagerhalle nach, in der sich zurzeit nur wenige Kistenstapel befanden. Das Licht, das durch die schmutzigen Oberlichter fiel, zeichnete filigrane Muster auf den staubigen Boden.

Der jüngere Mann zögerte einen Moment. „Fünfzig Kilo“, sagte er schließlich leise und senkte den Blick. Eigentlich war der Mann noch ein Junge, nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre. Seine Augen blickten irgendwie traurig. Auf seiner Oberlippe war der zarte Flaum eines Bartes zu sehen. Er war dankbar für den Job, den er hier bekommen hatte. Fiete war sein großes Vorbild, was schlicht daran lag, dass er noch nicht viel Erfahrung in der Beurteilung eines Menschen hatte. Doch Fiete hatte ihn von der Straße geholt, und dafür war er ihm dankbar.

Der Ältere nahm die Schirmmütze ab und strich sich mit der Hand über den kahlrasierten und wie poliert aussehenden Schädel. Hoch über dem linken Auge war jetzt eine gezackte Narbe zu sehen. Er trug Arbeitskleidung und unförmige Schuhe. Sein Alter mochte irgendwo zwischen vierzig und fünfzig liegen. Alle riefen ihn nur Fiete, obwohl keiner wusste warum. Fiete ist die norddeutsche Kurzform für Friedrich, doch das war nicht sein richtiger Name.

„Das ist die Hälfte der Lieferung“, stellte er fest.

Der jüngere Mann nickte und wirkte dabei sehr unglücklich.

„Und wo ist die fehlende Hälfte?“, kam es drohend.

Jetzt schwitzte der junge Mann. „Das weiß ich nicht.“

„Das weißt du also nicht“, wiederholte der Ältere. „Wie können denn fünfzig Kilo so einfach verschwinden?“

„Ich habe keine Erklärung.“

„Ich sage dir mal was. Fünfzig Kilo – das sind fünfzig einzelne Pakete in zwei großen Sporttaschen. Die rutschen nicht durch irgendein Sieb. Die verlegt man auch nicht aus Versehen. Nein, die hat jemand an sich gebracht, und der lacht sich jetzt tot über uns.“

„Das muss am Freitag im Hafen passiert sein“, wandte der jüngere ein.

„Wir werden nichts finden, wenn wir deine Bude auseinandernehmen, oder?“

Der jüngere Mann blickte erschrocken auf. „Das war ich nicht! Die Ware ist aus dem Container geklaut worden. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht!“

Fiete setzte seine Mütze wieder auf.

„Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Der Lieferant will sein Geld haben. Wir haben erst die Hälfte bezahlt, und das hat fast unsere ganzen Reserven gekostet. Kannst du dir vorstellen, was die mit uns machen, wenn sie ihre Kohle nicht kriegen? Nein, das kannst du vermutlich nicht. Ich sage es dir: die ziehen dir die Haut bei lebendigem Leib ab und anschließend zerlegen sie dich in deine Einzelteile.“

Die Lippen des jungen Mannes begannen zu zittern, und seine Augen füllten sich mit Tränen. „Ich kann doch nichts dafür.“

„Jemand hat die Ware, und den müssen wir finden, ehe es zu spät ist. Ich möchte jetzt ganz genau wissen, wie es abgelaufen ist. Fang mit dem Schiff an, als es noch auf See war. Du hast die Ware doch hin und wieder kontrolliert, oder?“

Der jüngere nickte heftig. „Ich habe es ganz genau so gemacht, wie man es mir gesagt hat. Niemand hat sich an der Ladung zu schaffen gemacht. Die Siegel des Containers waren unbeschädigt. Es kann erst im Hafen passiert sein. Während die Fracht gelöscht wurde, kam ich nicht an die Ware heran. Der Container stand einige Stunden auf dem Kai, bis ich die Fracht, die darin war, in den Lagerschuppen bringen konnte. Es war Wochenende, und ich habe die Kisten nicht gleich geprüft, da die Lagerhalle verschlossen wurde. Am Montag habe ich dann in beiden Kisten nachgesehen und festgestellt, dass aus einer Kiste die Taschen verschwunden waren.“

„Hast du irgendeinen Verdacht?“

„Nein, ich habe niemanden gesehen.“

„Du hast die ganze Zeit den Container auf dem Kai im Auge behalten?“, fragte Fiete lauernd.

Ein kurzes Stocken. „Na, ja, ich war mal auf der Toilette – und einen Kaffee habe ich mir auch geholt. Aber das hat nur wenige Minuten gedauert.“

Das Gesicht des Mützenträgers verzerrte sich. „Du Idiot hast also nicht gesehen, wie unsere Ware geklaut wurde. Das wird noch ein Nachspiel haben.“

Er deutete auf die beiden schwarzen Sporttaschen, die vor ihm auf dem Boden standen. „Die bringe ich selbst zu unserem Abnehmer. Da werde ich den Russen einiges zu erklären haben. Das Geld lasse ich gleich nach Panama überweisen, damit der Verkäufer erst mal beruhigt ist. Und du überlegst inzwischen, ob dir nicht doch etwas aufgefallen ist, das uns weiterhelfen kann, die Diebe zu finden.“

„Ich habe nur den Chef gesehen!“, rief der Junge plötzlich.

Der Kahlkopf stellte die Taschen, die er gerade hochgenommen hatte, wieder ab und drehte sich um. „Welchen Chef?“

„Holler natürlich. Markus Holler.“

„Der ist doch sonst nie hier“, überlegte Fiete. „Du bist sicher, dass er am Freitag hier war?“

Der Junge nickte mehrmals. „Er war auf dem Parkplatz vor der Halle. Er hat etwas in sein Auto gepackt und ist weggefahren. Ich weiß nicht, was er hier gemacht hat.“

„Wann genau war das?“

Der junge Mann überlegte. „Bevor ich die Kisten überprüft habe, war ich noch mal auf dem Schiff, um meine Sachen zu holen. Ich habe mich noch von den Kollegen verabschiedet, bevor ich zur Lagerhalle zurückgegangen bin. Da habe ich ihn gesehen, und anschließend habe ich entdeckt, dass die Taschen fehlten.“

Fiete überlegte angestrengt. „Das kann ich mir nicht vorstellen“, murmelte er schließlich.

„Was denn?“

„Na, dass Holler die Taschen geklaut hat. Ich kenne ihn lange genug. Ich werde ihn fragen.“

Der junge Mann schien erleichtert. „Danke!“

*

Nachdem Cornelius Brock den indischen Faustdolch in der Gerichtsmedizin abgegeben hatte, war er nach Nienstedten gefahren. Es war noch nicht zu spät für einen Besuch bei Anton Hollers Tochter und ihrer Familie. Es war immer wichtig, so schnell wie möglich mit allen Personen zu reden, die in irgendeiner Beziehung zu dem Opfer standen. Am Sonntag hatte er darauf verzichtet, um der Familie Gelegenheit zu geben, den Schock zu verdauen.

Er parkte seinen Wagen hinter einem Fahrzeug, das ihm sehr bekannt vorkam. Was zum Teufel hatte Spengler hier zu suchen?

Brock stieg aus, ging nach vorn und klopfte an die Seitenscheibe. Kommissaranwärter Horst Spengler, der seine ganze Aufmerksamkeit auf ein einzeln stehendes Haus konzentriert hatte, fuhr erschrocken zusammen und blickte den Hauptkommissar irritiert an.

Die Scheibe fuhr herunter.

„Darf ich fragen, was Sie hier treiben?“, fragte Brock.

„Hier wohnt Kurt Berghoff, der Anwalt … der Schwiegersohn von Anton Holler … also der Mann seiner Tochter …“

Brock grinste amüsiert. „Weiß ich alles. Doch wir hatten vereinbart, dass ich mit der Familie rede. Was haben Sie hier verloren?“

Spengler öffnete die Autotür und stieg aus. „Das Boot … ihm gehört das Boot.“ Vor Aufregung stotterte er immer mehr.

„Von welchem Boot sprechen wir? Bitte der Reihe nach.“

Spengler hatte sich allmählich gesammelt und wirkte jetzt beflissen wie immer. „Das Boot, das unsere Kollegen von der Wasserschutzpolizei am frühen Sonntagmorgen auf der Elbe entdeckt haben. Sie wissen schon – ein Mann hat von dort die Elbphilharmonie beobachtet.“

Brock runzelte die Stirn. „Das Boot gehört Berghoff?“

Spengler nickte heftig. „Als ich mit seiner Frau sprach, wusste ich nicht, dass sie mit Holler verwandt ist. Ich wollte natürlich gleich mit dem Mann reden. Sie sagen doch selbst immer, man soll keine Zeit verlieren, wenn es eine heiße Spur gibt.“

Brock lächelte. „Also wollten Sie ein paar Lorbeeren einheimsen und bei mir Punkte sammeln, ohne mich vorher zu informieren.“

Spengler senkte den Kopf. „Tut mir leid, Hauptkommissar. Es wird nicht wieder vorkommen.“

Brock winkte ab. „Ist schon vergessen. Doch wenn Sie schon mal hier sind, dann gehen wir jetzt gemeinsam rein.“

Das Haus wurde zur Straße hin von einer hohen Hecke abgeschirmt, die dringend einen Schnitt gebraucht hätte. Dahinter lag ein kleiner Vorgarten. Ein mit Granitplatten gepflasterter Weg führte zu einer breiten Treppe. Das Haus war nicht sehr groß und nicht neu, wirkte aber gepflegt.

Spengler drückte den Klingelknopf.

Als Erstes hörten sie eine Kinderstimme. Die Worte waren unverständlich.

„Das ist Erik“, erläuterte Brock. „Er interessiert sich für Pistolen.“

Spengler starrte ihn verständnislos an.

Die Tür öffnete sich einen Spalt. Maria Berghoff musterte die Besucher. Brock erkannte sie sofort, obwohl er sie am Sonntag nur kurz gesehen hatte. Er fragte sich, ob sie ihn ebenfalls erkannte. Ihre Begrüßung beantwortete die Frage.

„Der Herr Kommissar!“

„Hauptkommissar“, ergänzte Spengler.

„Und wer sind Sie?“

„Wir haben zusammen telefoniert. Ich habe Sie nach dem Boot Ihres Mannes gefragt.“

Ihre Miene verfinsterte sich.

„Das ist mein Assistent Horst Spengler“, beeilte sich Brock, die Situation zu entschärfen. „Wir würden gern kurz mit Ihnen und Ihrem Mann reden.“

Widerwillig öffnete sie die Tür. „Dann kommen Sie mal rein.“

Sie folgten Maria Berghoff durch den Vorraum in ein großes Wohnzimmer mit einer breiten Fensterfront zum Garten, der an der Rückseite durch eine dichte Reihe halbhoher Tannen begrenzt wurde. Auf einem bequemen Sessel saß Kurt Berghoff, der eine Zeitung sinken ließ und den Besuchern neugierig entgegensah.

 

„Guten Abend“, sagte Brock. „Wir möchten uns für die Störung entschuldigen und Ihnen unser Beileid ausdrücken. Es lässt sich leider nicht umgehen, dass wir in einem solchen Fall mit allen Betroffenen reden müssen.“

Berghoff erhob sich und legte die Zeitung beiseite. „Ich bin Anwalt. Dafür habe ich natürlich Verständnis. Wir werden Ihnen gern alle Fragen beantworten.“

Er machte eine einladende Handbewegung. „Bitte nehmen Sie Platz.“

Die Kriminalbeamten ließen sich nebeneinander auf einer weich gepolsterten Couch nieder. „Wie geht es Erik, Ihrem Sohn?“

„Er sieht sich einen Zeichentrickfilm an“, erklärte Maria Berghoff, die an der Tür stehen geblieben war. „Davon kann ihn niemand abbringen.“

„Was wollen Sie wissen?“, fragte der Anwalt.

„Wann haben Sie Ihren Schwager zuletzt gesehen?“

Berghoff überlegte kurz. „Das war am Freitagabend. Wir hatten uns auf einen Drink in unserer Stammkneipe verabredet. Das ist die Elbklause bei Teufelsbrück.“

„Die Elbklause, sagen Sie?“ Spenglers Stimme klang etwas aufgeregter als sonst, und Brock sah ihn erstaunt an.

Berghoff nickt. „Ja. Da treffen wir uns gelegentlich. Das Lokal ist gemütlich und für uns beide gut erreichbar.“

Spengler zog sein Notizbuch aus der Tasche und blätterte rasch darin. Bei einer Seite hielt er an und zeigte sie seinem Vorgesetzten.

„Passat, vermutliches Fahrzeug für Leichentransport, geparkt in der Elbphilharmonie, angeblich gestohlen. Besitzer Dieter Schmitz, ihm gehört das Lokal Elbklause“, las Brock mit wachsendem Interesse.

„Sind Sie häufiger in diesem Lokal?“, erkundigte sich Brock.

„Ja, das ist schon lange unsere Stammkneipe. Das hat sich irgendwie ergeben. Wissen Sie, Markus und ich kennen uns schon lange.“

Ein Anblick von Trauer glitt über sein Gesicht, ehe er fortfuhr. „Durch ihn habe ich seine Schwester kennengelernt, die heute meine Frau ist. Wir haben versucht, uns wenigstens einmal pro Woche auf einen Drink zu treffen.“

„Sie haben sich doch auch bei dem Sonntagsessen Ihres Schwiegervaters gesehen“, wandte Brock ein.

„Das ist schon richtig. Aber bei dem alten Herrn musste man genau aufpassen, was man sagte. Er hat ein Gedächtnis wie ein Elefant und hat alles, was er aufschnappte, irgendwann gegen den Betreffenden verwendet. Markus ließ es sich nicht anmerken, doch er mochte seinen Vater nicht besonders. Natürlich wollte er das Geschäft übernehmen und schluckte deshalb vieles hinunter. Wenn wir uns trafen, hat er sich alles von der Seele geredet. Er wusste, dass ich nichts davon weitererzählen würde.“

Berghoff lachte kurz auf. „Als Anwalt bin ich es gewohnt, alles was mir gesagt wird, vertraulich zu behandeln.“

„Arbeiten Sie auch als Anwalt für die Reederei?“, fragte Spengler.

„Ich habe einige juristische Probleme für Anton Holler gelöst. Doch er ist kein einfacher Klient und hat seine eigenen Vorstellungen davon, was ein Anwalt zu tun hat. Vor ein, zwei Jahren ist die juristische Beratung der Reederei eingeschlafen.“

Brock registrierte, dass Maria Berghoff sich Tränen aus dem Gesicht wischte, ehe sie mit zusammengebissenen Zähnen wortlos den Raum verließ. Offensichtlich teilte sie die Ansichten ihres Mannes in diesem Fall nicht unbedingt.

„Erzählen Sie uns von dem Freitagabend“, forderte Brock den Anwalt auf.

„Markus kam ein paar Minuten zu spät zu unserer Verabredung. Ich hatte schon meinen ersten Drink bestellt und saß auf einem Barhocker am Ende des Tresens. Er schien gut gelaunt und lachte fröhlich, als er mich sah.“

„Wann war das genau?“, unterbrach Spengler.

„Ich denke, so gegen neunzehn Uhr. Er hat sich neben mich gesetzt und ebenfalls einen Drink bestellt. Meistens gönnte er sich einen guten Single Malt Scotch.“

„Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen? War er anders als sonst? Hat er etwas erzählt, das Ihnen merkwürdig vorkam?“

Berghoff schüttelte den Kopf. „Ich hatte nur den Eindruck, dass er über irgendeinen Erfolg glücklich war. Das einzig Merkwürdige bei dem Treffen war das Verhalten von Dieter.“

„Dieter? Welcher Dieter?“, fragte Brock sofort.

„Dieter Schmitz. Der Inhaber der Elbklause. Wir kennen uns schon lange. Freunde sind wir zwar nicht, doch wir reden oft miteinander.“

„Das war diesmal anders?“

„Ja. Dieter war ziemlich schweigsam. Er erzählt sonst oft, was in der Kneipe passiert ist … wer da war … manchmal reden wir auch über Politik oder über die wirtschaftliche Lage. Doch am Freitag hat er kaum gesprochen, hat unsere Bestellungen gebracht und sich dann wieder um andere Gäste gekümmert. Das ist sonst nicht seine Art.“

„Wie ging es an dem Abend weiter?“

„Ich habe mich etwa nach einer Stunde verabschiedet. Ich wollte die Familie nicht zu lange allein lassen. Markus wollte noch bleiben und bestellte sich einen weiteren Whisky, als ich ging.“

„Können Sie sich einen Grund für das Verhalten des Gastwirts vorstellen?“, warf Spengler ein.

„Keine Ahnung. Ich dachte, dass er irgendein Problem hat, das er nicht mit uns teilen wollte. Man fragt ja nicht gleich danach und wartet, bis der andere von selbst damit anfängt.“

„Haben Sie außerdem eine ungewöhnliche Beobachtung gemacht?“, wollte Brock wissen.

„Na, ja. Wenn Sie so fragen. Da waren zwei Typen an einem Tisch in der Ecke, die ich dort noch nie gesehen habe.“

„Wie alt?“

„So zwischen dreißig und vierzig, würde ich sagen. Ich weiß noch, dass mir ihre tätowierten Arme aufgefallen sind, und bei beiden waren auch am Hals Tattoos zu sehen. Sie waren ziemlich kräftig und muskulös und trugen ganz kurze Haare.“

„Das war alles?“

„Sie haben häufig zu uns herübergesehen, und ihre Blicke schienen mir nicht sehr freundlich.“

„Hatten Sie den Eindruck, dass Markus die beiden Männer kannte?“

Berghoff schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Er hat sie wohl kaum wahrgenommen, da er mit dem Rücken zu ihnen saß.“

Brock gab Spengler ein Zeichen, und sie erhoben sich.

„Eine Sache wäre da noch“, sagte Spengler. „Es betrifft Ihr Boot.“

„Mein Boot? Was ist damit?“

„Es wurde am Sonntagmorgen auf der Elbe beobachtet. Wissen Sie etwas darüber?“

Berghoff sah ihn erstaunt an. „Ich war es nicht, wenn es das ist, was Sie vermuten.“

„Wer könnte das Boot denn außer Ihnen benutzt haben?“

„Es liegt meistens an seinem Liegeplatz. Die Schlüssel befinden sich dort im Büro. Jeder könnte sie nehmen. Das ist nicht allzu schwierig. Es gibt keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen.“

Spengler blickte resigniert zu seinem Chef und zuckte bedauernd mit den Schultern.

„Sie haben uns sehr geholfen“, sagte Brock. „Grüßen Sie Ihre Frau und den kleinen Erik.“

In diesem Augenblick tauchte der Dreikäsehoch mit freudig glänzenden Augen auch schon auf.

„Hallo, Erik!“, sagte Brock.

Der Zwerg musterte ihn misstrauisch, bis sich sein Gesicht aufhellte, als er den Mann ohne Pistole erkannte. „Heute Schtole?“, fragte er.

Brock grinste. „Nein, immer noch nicht.“

Er deutete auf Spengler. „Aber der hat eine!“

Eriks Interesse war sofort auf Brocks Assistenten gerichtet. „Zeigen!“, befahl er.

Spengler blickte hilflos in die Runde.

„Tun Sie ihm den Gefallen“, raunte Brock. „Aber nicht in die Hand drücken!“

Spengler hob seine Jacke etwas an, wobei sein Hüftholster mit dem Kolben der Walther sichtbar wurde.

Auf dem Gesicht des Kleinen machte sich Enttäuschung breit. „Keine Schtole“, stellte er missmutig fest.

„Er kennt nur die großen Colt-Revolver aus Zeichentrick-Westernfilmen“, klärte Berghoff das Missverständnis auf. „So etwas sollte er zwar nicht sehen, aber da haben wir wohl mal nicht aufgepasst.“

Brock war erleichtert, dass der kleine Erik doch keine Erfahrungen mit dem Anblick echter Waffen hatte, wie er zuerst vermutet hatte.

Sie waren schon an der Tür, als Berghoff plötzlich sagte: „Aber Dieter hat die beiden Männer gekannt. Er war ein paar Mal an ihrem Tisch und hat mit ihnen recht vertraulich gesprochen.“

Auf der Straße blieben die beiden Kriminalbeamten kurz stehen.

„Das war aufschlussreich“, stellte Hauptkommissar Brock fest. „Ich habe schon oft bei Verhören erlebt, dass ganz am Schluss die wichtigste Information auftauchte. Ich denke, die Elbklause ist gerade zu einem zentralen Punkt unserer Ermittlungen geworden. Zwei Unbekannte mit auffälligem Interesse für unser Opfer, ein Gastwirt, der etwas weiß und dessen Auto geklaut wird, um eine Leiche zu transportieren.“

Spengler hob die Hand. „Das Auto wird noch untersucht. Morgen werden die ersten Ergebnisse vorliegen und uns sagen, ob dieses Fahrzeug tatsächlich den Toten in die Elbphilharmonie transportiert hat.“

Brock warf einen Blick auf seine Uhr. „Wir sollten die Gelegenheit nutzen, uns die Elbklause anzusehen. Es ist nicht sehr weit, und der Abend ist noch jung.“

*

Fiete lenkte den Transporter auf den Hof der Werkstatt, die an einer der Seitenstraßen zwischen Reeperbahn und Bahnhof Altona lag. Das Tor wurde sofort hinter ihm geschlossen. Er drehte den Zündschlüssel und der Motor erstarb. Die Scheinwerfer erhellten weiter den im Halbdunkel liegenden Hof. Langsam stieg er aus und sah sich um. Er war schon ein paar Mal hier gewesen. Er konnte keine Veränderung feststellen.

Ein Mann löste sich aus dem Schatten und überquerte den Hof. Trotz der sommerlichen Wärme trug er eine Wollmütze, die er bis über die Ohren gezogen hatte. Ein Schlangen-Tattoo ringelte sich den Hals hinauf. Auch seine Handrücken waren tätowiert.

„Du bis pünktlich“, begrüßte ihn der Mann mit einem starken russischen Akzent.

„Ich habe nicht viel Zeit“, entgegnete Fiete, nahm kurz seine Mütze ab und strich sich über den Kopf. Ihm war klar, dass er dies immer tat, wenn er nervös war. Eine dumme Angewohnheit!

Er ging zur Hecktür des Transporters und öffnete sie. Vor ihm lagen zwei prall gefüllte große Sporttaschen. Er zerrte sie heraus und stellte sie auf den Boden.

„Hier ist die bestellte Ware.“

Der andere musterte die Taschen. „Nur zwei? Es sollten vier sein!“

„Wir hatten Probleme. Ich bin sicher, dass wir den Rest in Kürze nachliefern können. In unserem Geschäft gibt es eben gelegentlich Schwierigkeiten.“

Der Tätowierte grinste breit. „Schwierigkeiten nennst du das? So kann man es auch nennen. Doch du brauchst nicht darum herumzureden. Wir wissen, was passiert ist.“

„Wieso … woher … was ist denn passiert?“

„Eure Ware ist weg, versenkt, aufgelöst, vernichtet, einfach weg.“

„Das kann nicht sein“, knurrte Fiete. „Niemand vernichtet ein paar Millionen Euro so ohne Weiteres. Die Ware ist geklaut, das stimmt. Aber wir werden sie wiederbeschaffen.“

„Na, dann viel Glück!“

Der Fremde wollte beide Taschen hochheben – und ächzte.

„Das sind fünfzig Kilo“, bemerkte Fiete. „Du solltest vielleicht etwas mehr trainieren. Und im Übrigen, bevor du die Ware mitnimmst, müssen wir die Bezahlung regeln.“

„Ist alles vorbereitet.“

Der Mann griff in die Brusttasche seines Hemdes, zog ein Smartphone hervor und streckte es Fiete entgegen.

„Die Überweisung erfolgt auf das Konto in Panama. Ich muss es nur noch absenden. Allerdings erst, wenn ich die Ware überprüft habe.“

Fiete warf einen Blick auf den winzigen Bildschirm. „Das ist weniger als vereinbart!“

Der andere grinste wieder. „Wir bekommen auch weniger Ware als vereinbart. Das bringt uns Probleme. Unsere Abnehmer warten auf den Stoff. Jetzt müssen wir ihn bearbeiten, und das kostet Geld. Außerdem müssen wir uns nach einem anderen Lieferanten umsehen, um das Loch zu stopfen.“

„Ihr bekommt den Rest doch!“

Der andere schüttelte den Kopf. „Du hast ja wirklich keine Ahnung!“

*

Die Elbklause befand sich in einem Gebäude, das wie ein umgebautes altes Bauernhaus aussah. Das Grundstück war recht groß und von alten Bäumen bestanden. Auf der rechten Seite gab es einen Parkplatz, auf dem mehrere Fahrzeuge abgestellt waren. Es gab genügend Platz für ihre beiden Autos.

 

Vor dem Haus waren Tische und Stühle aus Plastik gruppiert. Sie sahen staubig aus, als hätte hier lange niemand gesessen. Dazwischen standen ein paar zusammengefaltete Sonnenschirme.

Durch die Fenster auf der Frontseite des Hauses fiel warmes Licht. Musikfetzen und Stimmengemurmel drangen durch die Mauern. Spengler öffnete die Tür, und die Geräuschkulisse wurde lauter.

Ein paar Blicke richteten sich kurz auf die beiden Neuankömmlinge, die nacheinander eintraten, doch sofort waren die übrigen Gäste wieder in ihre Gespräche vertieft. Etwa ein Dutzend Personen waren im Gastraum verteilt. Am Tresen saß nur ein einzelner Trinker, der versonnen in sein Bierglas starrte.

Der Mann dahinter war mit einem Wischlappen beschäftigt und sah ihnen aufmerksam entgegen. Eine junge Frau holte ein Tablett mit Biergläsern vom Tresen ab und schleppte es zu einem runden Tisch in einer Ecke.

Brock musterte den Raum und registrierte in Sekundenschnelle alle Einzelheiten. Hauptblickfang war der Tresen gegenüber dem Eingang. Davor standen eine Reihe Barhocker. Der Tresen selbst war mit einer auf Hochglanz polierten Zapfanlage versehen, an der Wand dahinter standen endlose Reihen von Flaschen vor einem riesigen Spiegel.

Auf der rechten Seite befanden sich drei Tische mit ledergepolsterten Bänken, jeweils abgetrennt durch eine halbhohe Holzwand. Es sah aus wie Eisenbahnabteile in einem alten Zug.

Auf der linken Seite stand eine bestimmt fünfzig Jahre alte Musikbox, die den Retrolook des Lokals noch verstärkte. Die kleine Tanzfläche davor war leer. Insgesamt machte die Elbklause einen gemütlichen, aber etwas aus der Zeit gefallenen Eindruck.

„Was darf’s denn sein?“, fragte der Mann hinter dem Tresen und legte seinen Wischlappen zur Seite.

Die beiden Kriminalbeamten schwangen sich auf zwei Barhocker und studierten die Preistafel an der Rückwand.

„Ich nehme ein kleines Alsterwasser“, sagte Brock schließlich.

„Nehme ich auch“, ergänzte Spengler.

„Kommt sofort, meine Herren.“

„Sieht nach einem angenehmen Lokal aus“, stellte Brock fest, nachdem sich der Gastwirt zu seiner Zapfanlage begeben hatte.

Spengler nickte in Richtung des Mannes. „Ob das Dieter Schmitz ist?“

„Wir fragen ihn einfach.“

Als der Gastwirt ihnen die Gläser hinstellte, zog Brock ein Foto aus seiner Brieftasche und legte es auf den Tresen. Es war ein Bild des toten Markus Holler aus der Pathologie. Brock hatte gelernt, dass ein gewisser Schock dabei half, Leute zum Reden zu bringen.

Der Mann starrte erschrocken auf das Foto und wendete dann rasch den Blick ab.

„Sie sind doch Dieter Schmitz, oder?“

Der Mann nickte. „Ja, der bin ich.“ Er vermied es weiterhin, das Foto anzusehen.

„Nun“, fuhr Brock fort. „Dann kennen Sie ja Markus Holler recht gut.“

Schmitz zog die Stirn in Falten, als überlege er scharf. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Da klingelt bei mir nichts.“

Brock steckte das Foto wieder ein. „Merkwürdig. Es gibt Leute, die beschwören, dass Markus und Sie fast gute Freunde sind.“

Schmitz wurde bockig. „Ich kenne doch nicht jeden meiner Gäste beim Namen.“

Brock fühlte, wie er seitlich leicht angestoßen wurde. Er drehte sich zur Seite. Spengler schielte zur Tür und machte mit der Hand vorsichtige Zeichen. Brock folgte seinem Blick und sah zwei Typen hereinkommen, die auffällig den Männern glichen, die Berghoff ihnen beschrieben hatte.

Schmitz hatte Spenglers Hinweis ebenfalls mitbekommen und sah reglos zu den beiden Typen hinüber. Sein Gesicht wurde blass, und seine Unterlippe begann leicht zu zittern. Mit einer raschen Drehung verschwand er hinter seiner Zapfanlage, während die beiden Männer an einem freien Tisch Platz nahmen. Die junge Frau eilte auf sie zu, um die Bestellung aufzunehmen.

Spengler hüpfte von seinem Barhocker und ging zwei Schritte, bis er Schmitz wieder gegenüberstand. „Wer sind die beiden?“

Er deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die Männer und wartete, bis sie es mitbekommen hatten.

„Ich habe keine Ahnung“, flüsterte Schmitz. „Die sehe ich zum ersten Mal.“

Brock stieg ebenfalls von seinem Hocker. „Ich frage sie mal, ob sie Holler am Freitag gesehen haben.“

Die beiden Männer sahen ihm aufmerksam entgegen, als er sich ihrem Tisch näherte. Er zog erneut das Foto heraus und legte es auf die blank gescheuerte Tischplatte.

„Am letzten Freitag haben Sie sich sehr für diesen Mann interessiert“, behauptete Brock ruhig. „Der Barkeeper hat Sie wiedererkannt.“

Die beiden warfen sich einen raschen Blick zu. Dann griffen sie wie auf Kommando zur Tischplatte und rammten das schwere Möbelstück nach vorn.

Brock konnte nicht schnell genug ausweichen und stürzte zu Boden.

Einer der beiden Männer stieß einen heftigen Fluch aus, und schon waren sie an ihm vorbei und rissen die Tür auf.

Spengler fummelte an seiner Hüfte herum, um seine Dienstwaffe zu ziehen. Doch es war zu spät. Die Männer waren draußen.

Brock rappelte sich langsam auf. „Lassen Sie es gut sein, Spengler! Die sind weg. Wir werden unser Gespräch mit Herrn Schmitz fortsetzen.“

Sie setzten sich wieder, und Brock winkte Schmitz heran.

Die übrigen Gäste hatten den Zwischenfall teilweise gar nicht richtig mitbekommen und erkundigten sich bei anderen, was eigentlich passiert war. Der Gesprächspegel lag jetzt deutlich über dem Durchschnitt.

„Ich glaube, das war russisch“, sagte Brock.

„Die haben sicher gesehen, wie wir miteinander gesprochen haben“, fügte Spengler hinzu. „Da werden Sie einiges erklären müssen.“

Er machte eine wohl kalkulierte Pause. „Ich weiß nur nicht, ob sie Ihnen abnehmen, dass Sie nichts verraten haben.“

Schmitz wurde noch etwas blasser. Sie sahen förmlich, wie sein Widerstand dahinschmolz. „Was wollen Sie wissen?“

„Erzählen Sie uns vom Freitagabend“, begann Brock. „Wir wissen, dass Markus Holler sich mit seinem Schwager hier getroffen hat. Den kennen Sie ebenfalls gut. Wir wissen außerdem, dass die beiden Typen, die eben abgehauen sind, sich sehr für Holler interessiert haben. Was ist geschehen, nachdem Berghoff gegangen ist?“

Es fiel Schmitz sichtlich schwer, sich zu einer Antwort durchzuringen.

„Markus bestellte noch einen Drink, als die beiden aufstanden und sich rechts und links von ihm aufbauten. Markus kannte sie offensichtlich nicht, denn er schien sehr überrascht.“

„Aber Sie kennen die beiden Typen, oder?“, fragte Spengler.

„Na, ja, ich kaufe gelegentlich von ihnen.“

„Was denn? Bier? Das bekommen Sie doch von der Brauerei.“ Brock deutete auf das entsprechende Schild an der Zapfanlage.

„Nein, kein Bier.“

„Also Drogen!“ Brocks Stimme klang jetzt sehr hart. „Sie können es ruhig zugeben. Wir werden Ihren Laden ohnehin auseinandernehmen, und ich bin sicher, dass wir einiges finden werden. Für heute können Sie schon mal die letzte Bestellung ausrufen.“

Sie warteten etwa zwanzig Minuten, bis die letzten Gäste gegangen waren. Dann entließ Schmitz die Bedienung, und sie waren mit ihm allein.

„Die beiden Typen sind gefährlich“, begann Schmitz.

„Russen?“, fragte Brock.

Schmitz nickte. „Sie erpressen mich. Früher habe ich hin und wieder mal eine Prise Koks verkauft, wenn die Gäste danach verlangten. Irgendwann tauchten die Russen auf und erklärten mir, dass sie ab sofort meine neuen Lieferanten sein würden. Die verkauften Mengen stiegen, es tauchten Leute auf, die ich vorher nie gesehen habe und die sich nur für die Drogen interessierten. Das Hauptgeschäft fand allerdings an bestimmten Abenden hinten im Schuppen statt. Ich habe keine Ahnung, wie viel dort verkauft wurde. Ich hatte die Anweisung, mich dort nicht blicken zu lassen. Die Kneipe wurde allmählich zu einer Tarnung für ein florierendes Drogengeschäft.“

„Von dem Sie sicher Ihren Anteil bekommen haben“, mutmaßte Brock.

Das Gesicht seines Gegenübers verriet alles. „Ich wusste doch nicht, wie ich das beenden sollte. Ich hatte einfach Angst vor den Russen.“

„Waren es immer die gleichen Männer?“

„Einmal war ein dritter dabei, vor dem sie Respekt hatten. Er hat sich nur kurz im Lokal umgesehen und ist dann nach hinten verschwunden. Mit mir hat er kein Wort gewechselt, doch es war einigermaßen klar, dass er der Chef der beiden war.“