Das Elend der Medien

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Das Elend der Medien
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 abrufbar.



Alexis von Mirbach / Michael Meyen



Das Elend der Medien

.





Schlechte Nachrichten für den Journalismus





Köln: Halem, 2021



Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



© 2021 by Herbert von Halem Verlag, Köln



ISBN (Print)978-3-86962-591-1



ISBN (PDF) 978-3-86962-587-4



ISBN (ePub) 978-3-86962-564-5



Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im Internet unter

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SATZ: Herbert von Halem Verlag



LEKTORAT: Julian Pitten



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Alexis von Mirbach / Michael Meyen





Das Elend der Medien





Schlechte Nachrichten für den Journalismus

















ALEXIS VON MIRBACH, Dr., geboren 1978 in München, studierte Regionalwissenschaft Lateinamerika an der Universität zu Köln sowie Kommunikationswissenschaft (Bachelor, Master) an der LMU München. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im bayerischen Forschungsverbund »Zukunft der Demokratie« und koordiniert dort das Projekt Media Future Lab. Seine Forschungsschwerpunkte sind Online-Journalismus, Öffentliche Meinung in Kuba und Medienpolitik.








MICHAEL MEYEN, Prof. Dr., Jahrgang 1967, studierte an der Sektion Journalistik und hat dann in Leipzig alle akademischen Stationen durchlaufen: Diplom (1992), Promotion (1995), Habilitation (2001). Parallel arbeitete er als Journalist (

MDR info

,

Leipziger Volkszeitung

,

Freie Presse

). Seit 2002 ist Meyen Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medienrealitäten, Kommunikations- und Fachgeschichte sowie Journalismus.




INHALT





VOM ELEND DER DEMOKRATIE – AUCH IN DER WISSENSCHAFT. EIN VORWORT





Michael Meyen





1.JENSEITS VON GUT UND BÖSE. WARUM DAS ELEND DER MEDIEN VIELE GESICHTER HAT





Alexis Mirbach





2.DER HOFFNUNGSTRÄGER. WAS DER ÖFFENTLICH-RECHTLICHE RUNDFUNK BRAUCHT, UM SEINEN AUFTRAG ZU ERFÜLLEN





Michael Meyen





3.AM STERBEBETT. DIE REGIONALPRESSE, MIT DDR-ERFAHRUNG VON INNEN GESEHEN





Michael Meyen





4.DAS GELD, DAS LIEBE GELD. SIEBEN STIMMEN VOM RAND DES JOURNALISTISCHEN FELDES





Alexis Mirbach





5.DAS ›ANDERE‹ JOURNALISTISCHE FELD. VOM KAMPF UM DEFINITIONSMACHT





Michael Meyen





6.JOURNALISMUS ALS NEBENPRODUKT. LINKER AKTIVISMUS VON KREUZBERG BIS KURDISTAN





Michael Meyen





7.DIE MÜCKE IM SCHLAFZIMMER. MEDIENKRITIK VON UNTEN





Michael Meyen





8.WENN LINKS PLÖTZLICH RECHTS SEIN SOLL. CORONA-GESPRÄCHE IN MÜNCHEN UND OBERBAYERN





Alexis Mirbach





9.WIR SIND DAS VOLK. VIER STIMMEN AUS DEM OSTEN, 30 JAHRE DANACH





Alexis Mirbach





10.SÜDTHÜRINGER EXTREME. AM RANDE DER WAHRHEIT IN HILDBURGHAUSEN





Alexis Mirbach





11.VOM DESINFORMATIONS- ZUM DEMOKRATIE-FRAME. ANSTELLE EINER ZUSAMMENFASSUNG





Michael Meyen





VOM ELEND DER DEMOKRATIE – AUCH IN DER WISSENSCHAFT.

EIN VORWORT



Michael Meyen



Die Idee zu diesem Buch verdanken wir Jörn Hurtienne und dem bayerischen Forschungsverbund ›Zukunft der Demokratie‹. Hurtienne leitet dort das Projekt ›Digitale Partizipation in der Kommunalpolitik‹ und möchte genau das, was dieser Titel verspricht: die Technik nutzen, damit sich Bürgerschaft und Rathaus (wieder) näherkommen. Apps, natürlich, aber für einen Psychologen wie Hurtienne, Dr.-Ing. und Professor am ›Institut Mensch-Computer-Medien‹ in Würzburg, ist das schon deshalb nur ein Anfang, weil nicht alle von uns Smartphones mögen.



Anfang Oktober 2019 hat Jörn Hurtienne zu einem ›Wall Walk‹ in die Hubland-Bibliothek eingeladen, dorthin, wo das neue Würzburg wächst. Zugegeben: Der Begriff ›Wall Walk‹ hat bei mir zunächst falsche Assoziationen geweckt. Ich wusste, dass es um Demokratie gehen würde und dass Hurtienne in Prenzlau geboren ist. Vermutlich würden wir irgendwo draußen sein und vielleicht auch einen Link zur DDR haben. Zweimal daneben. Die ›Mauer‹ bestand aus Stellwänden mit vielen kleinen Zetteln, und der ›Spaziergang‹ war eher ein Lesen im Stehen. Hurtienne und seine Leute hatten alles aufgeschrieben, was ihnen Menschen erzählt haben, die entweder im Hubland wohnen oder in irgendeiner Funktion mitbestimmen, wie man dort lebt. Ein faszinierendes Panoptikum. Ich hatte das Gefühl, ganz nah dran zu sein an dem, was in einem wildfremden Stadtteil passiert. Parkprobleme, Spielplätze, Fördergelder, überhaupt: das Miteinander in der Anonymität.



In einer der Pausen stellte Jörn Hurtienne fest, dass ich seine Bourdieu-Begeisterung teile. Wir hatten schon in einem Forschungsverbund zum Thema Resilienz zusammengearbeitet und jetzt den Wunsch, die Kooperation zu vertiefen. Die Idee lag nahe: ein Buch mit dem Titel

Das Elend der Demokratie

, angelehnt an den Bestseller

Das Elend der Welt

.

1

 Auch über den Inhalt waren wir uns schnell einig: O-Töne wie beim ›Wall Walk‹, etwas länger sicherlich und so eingebettet, dass soziale Position und Habitus deutlich werden. Der Forschungsverbund ›Zukunft der Demokratie‹ schien dafür das ideale Umfeld zu sein. Die elf Projekte haben ihre Sensoren (fast) überall: beim Geld und am Arbeitsplatz, auf dem Land und in Osteuropa, bei den Geschlechtern, bei Menschen, die einen Teil ihrer Wurzeln in der Türkei haben, und bei denen, die noch nicht sehr lange in Deutschland sind.

Das Elend der Demokratie

 könnte, so haben Jörn Hurtienne und ich das in Würzburg gesehen, wie einst Pierre Bourdieu eine Gesellschaftsdiagnose liefern und damit etwas einlösen, was unser Forschungsverbund beim Start im Sommer 2018 versprochen hatte.



In der Ausschreibung für den Verbund hatte ich ein paar Namen genannt (Trump, Orbán, Kaczyński, Erdoğan) und auf das hingewiesen, was 2017 diskutiert wurde. Populismus und die AfD, Wutbürger auf der Straße und in den sozialen Netzwerken, dazu »der Mitgliederschwund von Parteien, Gewerkschaften, Verbänden oder Kirchen – von Organisationen, die in der Vergangenheit Normen und Werte bereitgestellt oder diskutiert und so die öffentliche Meinungs- und Willensbildung genau wie das Handeln von Individuen, Gemeinschaften und Gesellschaften entscheidend beeinflusst haben.« In meinem Text wurde daraus eine düstere Prognose: »Die Demokratie und ihre Prinzipien wie die politische Gleichheit aller, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Minderheitenschutz und Partizipation scheinen ausgerechnet in einer Zeit an Strahlkraft zu verlieren, in der die Menschheit vor existentiellen Herausforderungen steht. Anders formuliert: Es steht das Vertrauen in die politische Weisheit der ›Vielen‹ auf dem Spiel.«

2



Um diese Drohkulisse zu legitimieren und den potenziellen Geldgeber (das bayerische Wissenschaftsministerium) zu motivieren, habe ich einerseits all das zusammengetragen, was sich in der wissenschaftlichen Literatur an Skepsis finden ließ: »Postdemokratie«,

3

 »defekte Demokratie«,

4

 Fassadendemokratie,

5

 »simulative Demokratie«,

6

 »democratic rollback«,

7

 »Pathologie der Demokratie«.

8

 Andererseits sollten diese Krisen-Szenarien nur ein Ausgangspunkt sein, um danach fragen zu dürfen, »wie Partizipations- und Entscheidungsverfahren sowie möglicherweise auch die Vorstellung von Demokratie an sich so modifiziert werden können, dass sie in der Lage sind, angemessen auf die Probleme des 21. Jahrhunderts zu reagieren«.

9

 



Heute weiß ich: Das war in jeder Hinsicht zu optimistisch gedacht. Auch und vielleicht sogar besonders in der Wissenschaft sind längst nicht alle darauf aus, ›die Vielen‹ da draußen tatsächlich mitreden und mitmachen zu lassen – auch dann nicht, wenn sie sich für einen Forschungsverbund bewerben, der ausdrücklich jede Verordnung »von oben« ablehnt und in der Ausschreibung betont, »dass die Bürgerinnen und Bürger an der ›Herstellung legitimer, gerechter, kreativer und dauerhafter Problemlösungen für ein nachhaltiges Leben‹ aktiv mitwirken müssen.«

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 Ein Gemeinschaftsprojekt zum ›Elend der Demokratie‹ war selbst in einer solchen Konstellation nicht möglich. Allein schon der Titel. Unmöglich. Als ob die Demokratie am Ende wäre. Dagegen kam auch der Hinweis auf das Vorbild nicht an.

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Natürlich: Beim Cover sind immer Kompromisse möglich. Wir hätten das Buch auch einfach ›Verstehen der Demokratie‹ nennen können, Wissenschaftstradition und intellektuelles Erbe hin oder her. Damit allein wäre es aber nicht getan gewesen. Alexis Mirbach und ich sind im Frühsommer 2020 wegen eines Blogbeitrags in die Schlagzeilen geraten, in dem Ken Jebsen und sein Portal

KenFM

 neutral-positiv behandelt wurden.

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 Mir fällt kein besseres Adjektiv ein. Erwartet wurden offenbar Nicht-Beachtung oder Distanzierung. Dass das nicht geht, wenn man nach dem ›Elend der Medien‹ fragt und nach der Zukunft des Journalismus, wird hoffentlich in diesem Buch deutlich. Fortan hatten wir beide ein Kontaktschuld-Problem.

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 Einige wollten ihren Namen nicht neben uns auf einem Buchdeckel sehen, und andere fürchteten, dass wir nicht in der Lage sein würden, »bestimmte Linien zu ziehen« (Zitat aus einer entsprechenden Mail). Im Klartext: Wir könnten Menschen sprechen lassen, die – ja, was eigentlich?



Eine Angst geht um in der Wissenschaft, die sich schwer greifen lässt und einen eigenen Forschungsverbund verdienen würde oder wenigstens ein eigenes Buch. Diese Angst beschneidet eigentlich alles (das Themenspektrum, die Fragen, die Antworten) und greift schon nach der jüngsten Forschergeneration. Ich könnte von einer Bachelorstudentin erzählen, die zögerte, sich mit einem politisch ›heiklen‹ Thema zu beschäftigen, um ihre Karriere nicht zu gefährden, oder von einer Aktivistin, die darum gebeten hat, längst gedruckte Zitate aus der Google-Vorschau zu entfernen, weil sie sich jetzt um ein Stipendium bewerben wollte. Bei den fraglichen Stellen sah nicht etwa diese Frau schlecht aus, sondern der Staat (weil man sie grundlos ein halbes Jahr heimlich überwacht hatte), aber genau das war offenbar das Problem. Aus der »Angst des Forschers vor dem Feld«

14

 (was passiert, wenn ich mich auf Menschen und ihre Wirklichkeit einlasse) ist eine Angst vor sozialer Ächtung geworden, die sehr viel mit dem ›Elend der Medien‹ zu tun hat. Deshalb bin ich Jörn Hurtienne genauso dankbar wie Herbert von Halem – dem einen für den Impuls, der zu diesem Buch geführt hat, und dem anderen für die Offenheit, diesen Titel trotz aller Bedenken, die jeder nach diesem Vorwort selbst ausformulieren kann, in sein Programm aufzunehmen. 40 Stimmen zum ›Elend der Medien‹ (genauso viele hat einst das Team um Bourdieu gesammelt) sind auch 40 Stimmen zum ›Elend der Demokratie‹.



1

Pierre Bourdieu et al.:

Das Elend der Welt

. Studienausgabe. Konstanz: UVK 1997. – Vgl. hierzu auch die Einleitung von Alexis Mirbach in diesem Buch.



2

Michael Meyen, Sabine Toussaint:

ForDemo: Die Zukunft der Demokratie. Skizze für einen Bayerischen Forschungsverbund

. München, 2. Januar 2017



3

Vgl. Colin Crouch:

Post-Democracy

. Oxford: Polity 2004, Sheldon Wolin:

Democracy Incorporated

. Princeton: Princeton University Press 2008



4

Vgl. Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle; Aurel Croissant; Claudia Eicher; Peter Thiery:

Defekte Demokratie. Band 1: Theorie

. Opladen: Westdeutscher Verlag 2003



5

Vgl. Wolfgang Streeck:

Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus

. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2013



6

Vgl. Ingolfur Blühdorn:

Simulative Demokratie

. Berlin: Suhrkamp 2013



7

Vgl. Larry Diamond: The Democratic Rollback. The Resurgence of the Predatory State. In:

Foreign Affairs

 2/2008, S. 36-48



8

Martin Sebaldt:

Pathologie der Demokratie

. Wiesbaden: Springer VS 2015



9

Meyen, Toussaint:

ForDemo



10

Ebd. – Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU):

Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation

. Berlin 2011, S. 55



11

Vgl. zur Übersetzung von Bourdieus Titel die Einleitung von Alexis Mirbach in diesem Buch.



12

Vgl. Michael Meyen: Kontroverse um »Medienrealität«. In:

Medienrealität

 vom 2. Juni 2020



13

Vgl. Michael Meyen: »Damit ist jedes Ihrer Argumente wertlos«. Interview zum Thema Kontaktschuld (Interviewer: Jakob Buhre). In:

Planet Interview

 vom 14. Juli 2020



14

Vgl. Rolf Lindner: Die Angst des Forschers vor dem Feld. Überlegungen zur teilnehmenden Beobachtung als Interaktionsprozess. In:

Zeitschrift für Volkskunde

 77. Jg. (1981), S. 51-66






1.JENSEITS VON GUT UND BÖSE.

WARUM DAS ELEND DER MEDIEN VIELE GESICHTER HAT



Alexis Mirbach



Dieses Buch könnte auch ›Die Leiden der Medien‹ heißen – wenn der Leitbegriff unseres Referenzwerks

La misère du monde

 anders übersetzt worden wäre. Als Unbehagen. Als Not. Als Misere. Oder eben als Leid.

1


La misère du monde

 ist ein soziologisch-literarischer Klassiker, der in Frankreich 1993 unter der Leitung von Pierre Bourdieu erschien und hierzulande 1997 als

Das Elend der Welt

. Deshalb der erste Teil unseres Buchtitels.



Ausgangspunkt für

La misère du monde

 war die Anfrage eines Finanzinstituts an Bourdieu (damals Lehrstuhlinhaber am Collège de France und lange meistzitierter Sozialwissenschaftler der Welt), die »malaise social« zu erforschen. »Verbrechen« und »Krawalle« in den Pariser Vorstädten

2

 sowie teils spektakuläre Streikbewegungen waren damals zentraler Topos der französischen Debatte und beliebtes Medienthema.

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 Bourdieu nahm die Aufgabe an, lehnte aber ab, die »soziale Malaise« mit konventionellen Fragebogentechniken anzugehen, und skizzierte stattdessen ein qualitatives Untersuchungsdesign, aus dem dann eine ebenso »einfühlsame« wie »skalpellscharfe« Sozioanalyse Frankreichs entstand – gestützt auf die Dokumentation von 40 Einzelschicksalen.

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Das Werk traf den Nerv der Zeit: Die 1.000 Seiten von

La misère du monde

 verkauften sich allein in Frankreich im ersten Jahr über 100.000 Mal und lösten auch international eine Forschungsbewegung aus, die von unten auf die Welt blickt.

Das Elend der Welt

 diente sogar als Vorlage für Theaterinszenierungen und schwappte auch über die deutsch-französische Grenze. Günter Grass, Daniela Dahn und Johano Strasser veröffentlichten 2002 »Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft«

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, und der Bourdieu-Vertraute Franz Schultheis gab 2005 mit Kristina Schulz eine deutsche Variante des ›Elends‹ heraus.

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Der ›Welt‹-Anspruch im Titel mag vermessen klingen, werden in

La misère du monde

 doch nur Franzosen interviewt. Verwaltungsangestellte, Einwanderer, Polizisten, Familien in den Banlieus. Der Anspruch von

Das Elend der Welt

 ist trotzdem global – weniger, weil ›monde‹ im Französischen auch einfach als ›Leute‹ verstanden werden kann,

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 sondern weil das Buch vor dem Hintergrund weltweiter Deregulierungen der Finanzmärkte, tiefgreifender Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt sowie umfassender Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens entstand.

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 Bourdieu selbst hat von einer »kollektiven Konversion zur neoliberalen Sichtweise im Schulterschluss mit den sozialistischen Parteiführern« gesprochen,

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 die in den 1990er-Jahren und 2000er-Jahren unter Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder als Strategie »des dritten Weges« vorangetrieben wurde.

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Im

Elend der Welt

 zeigt sich die »Abdankung des Staates«: beim Wohnungsbau, bei der Überführung öffentlicher Dienstleistungen in den Privatsektor oder bei der Transformation schulischer Einrichtungen. Das alltägliche Leid spielt sich bei Mietern von Sozialwohnungen ab, deren Siedlungen zu Ghettos gemacht wurden, bei Einwanderern, denen das ethnische Stigma auf unauflösliche Weise in Hautfarbe und Namen eingeschrieben ist,

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 bei kleinen Beamten und Sozialarbeitern, die »die unerträglichsten Auswirkungen und Unzulänglichkeiten der Marktlogik kompensieren müssen«,

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 im Abstieg und Niedergang der alten Arbeiter, in ihrem Hass auf die neuen Vorarbeiter

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 oder bei Landwirten, denen die Frauen auf den Feldern fehlen, denen die Investitionen buchstäblich versickern und die (als das Mikrofon abgestellt ist) mit einem tiefen Seufzer ihre Sympathien für den Anführer der rechten Partei Front National gestehen.

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 Durch die Analyse der individuellen Situation gelingt es dem Forscherteam um Bourdieu, Entwicklungen von gesamtgesellschaftlicher Tragweite (und die Zukunft) zu erfassen.





Was hat das mit den Medien zu tun?



Ob Folge der von Bourdieu angeklagten neoliberalen Politik unter sozialdemokratischer Absolution oder nicht: Knapp drei Jahrzehnte nach

La misère du monde

 steckt die Demokratie westlich-liberaler Prägung in der Krise.

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 Symptome sind nach herrschender Meinung das Erstarken autoritärer Regierungen in postsozialistischen Ländern, der Aufstieg der neuen Rechten, der Brexit oder Donald Trump. Nicht erst seit den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen ist die öffentliche Sorge um den Fortbestand der Demokratie auch in Deutschland zentraler Topos gesellschaftlicher Debatten. Der Soziologe Stephan Lessenich (um nur einen prominenten Sprecher zu zitieren) nennt als Indikatoren die »Eruptionen von Hass in sozialen Medien«, eine »sich leerlaufenden transmediale Aufregungsmaschine«, die »Unversöhnlichkeit des Umgangstons in der politischen Debatte« und eine bis ins Private vordringende »Dynamik des Kommunikationsabbruchs zwischen unvereinbar erscheinenden Meinungen.«

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Dass die Krise der Demokratie auch eine Krise des Journalismus ist, hat Colin Crouch in seinem Konzept der »postdemokratischen Gesellschaft«

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 schon vor gut zwei Jahrzehnten herausgestellt. Während »Heerscharen von Wirtschaftslobbyisten« unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf den Hinterbühnen der Politik operieren würden, diene der »medienindustrielle Komplex« allein der Aufmerksamkeitsproduktion.<a href="#ulink_84825398-5e7f-594d-836f-2eff