Politischer Kitsch

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Politischer Kitsch
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Copyright © Claudius Verlag, München 2019

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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

Umschlagbild: © Dja65/shutterstock

Layout: Mario Moths, Marl

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2019

ISBN 978-3-532-60042-9

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung

I. Kitsch und Religion: Das kitschige Bewusstsein

II. Die Erfindung des Kitsches

III. Die Erfindung des politischen Kitsches

IV. Vom totalitären zum absoluten Kitsch

V. Infantilisierung, Emotionalisierung, kitschiges Bewusstsein

VI. Eine deutsche Spezialität

Anmerkungen

VORWORT

Politischer Kitsch hat Hochkonjunktur. Sentimentale Worthülsen, penetrante Gefühligkeit, süßliche Bilder und betroffenheitsschwangere Gesten bestimmen den öffentlichen Diskurs. Die gesellschaftlichen Debatten sind geprägt von einer Mischung aus aggressiver Rührseligkeit, überspannter Empfindsamkeit und peinlichen Politritualen.

Doch Konjunktur hat nur, was auch erfolgreich ist. Das bedeutet: Kitschige Politkommunikation wird häufig nicht als unpassend oder peinlich empfunden, sondern als authentisch und ehrlich. Politiker oder Aktivisten, die sich kitschiger Floskeln und Inszenierungen bedienen, wirken anscheinend besonders glaubwürdig, einfühlsam und bodenständig. Larmoyanz, Sentimentalität und eine leicht hysterische Überreiztheit wird von vielen Menschen nicht als unangemessen oder aufdringlich empfunden, sondern als wohltuender Kontrast zum sachlichen Realpolitiker und kühlen Politprofi. Kitschige Kommunikation, so ist zu vermuten, gilt als Indiz für Menschlichkeit, echte Gefühle und Anteilnahme. Und Gefühle und Anteilname sind etwas, was Menschen zunehmend auch von Politikern erwarten. Kurz: Es gibt ein Bedürfnis nach politischem Kitsch, sonst gäbe es ihn nicht.

Das bedeutet zugleich, dass Kitsch als Mittel öffentlicher Kommunikation kein isoliertes Phänomen politischer Ästhetik ist, sondern Ausdruck psychosozialer Entwicklungen. Der Siegeszug des politischen Kitsches ist Teil eines soziologisch und kulturell bedingten Mentalitätswandels. Der allerdings ist alles andere als harmlos. Denn eine Gesellschaft, die politische Fragen zunehmend im Modus zur Schau getragener Gefühligkeit behandelt, weil andere Formen der Kommunikation als zu nüchtern, abgeklärt oder sachbezogen empfunden werden, verweigert sich der Realität und gefährdet ihre Fähigkeit, Herausforderungen schnell und effizient zu lösen. Insbesondere die Massenmedien bevorzugen es, betroffenheitsschwanger tragische Schicksale und verzweifelte Menschen vorzuführen und so sachliche Diskussionen im Keim zu ersticken. Das ist auch deshalb problematisch, weil politischer Kitsch unverkennbar autoritäre Politik zu legitimieren scheint. Wenn Augenmaß, Sachverstand und Nüchternheit verloren gehen, wenn die Gesellschaft rhetorisch in einen andauernden Alarmzustand versetzt wird, wenn überspannte Emotionen und süßliches Pathos die öffentliche Debatte bestimmen, dann sind rationale Diskussionen kaum noch sinnvoll führbar. Dann dominieren von Aktivisten geschürte Affekte und Ressentiments die öffentlichen Diskussionen. Der Raum der überhaupt noch als legitim empfundenen Meinungen wird permanent enger. Jeder, der nicht bereit ist, sich auf den verkitschten Diskurs einzulassen, wird als Unmensch entlarvt. Politischer Kitsch ist daher nicht einfach nur ein Verstoß gegen die politische Ästhetik und eine Beleidigung der nüchternen Vernunft, sondern auch eine Gefahr für die offene Gesellschaft.

EINLEITUNG

Deutschland versinkt im politischen Kitsch: Bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit formiert sich die Riege der Engagierten und Betulichen zu ergreifenden Lichterketten, anrührenden Mahnwachen oder herzerwärmenden Solidaritätsbekundungen. Und wenn das alles nicht genug ist, dann versammelt man sich zu einem bedeutungsschweren Schweigemarsch. Immer zur Hand dabei das unentbehrliche Equipment aller Rührseligen und Betroffenen: Kerzen, von Kinderhand gemalte Bilder, sentimentale Sinnsprüche, bunte Blumen und natürlich Kuscheltiere aller Art und Größe.

Dies alles geschieht, um „Zeichen zu setzen“ oder „Gesicht zu zeigen“. Hier sammelt sich die „Zivilgesellschaft“, etwa zum „Aufstand der Anständigen“, gern zeigt man sich „wachsam“ und „engagiert“, insbesondere wenn etwas auf dieser Welt einem „Angst macht“. Dann versammelt sich das erbauungsgierige Publikum, um der gesammelten Phraseologie moralischer Einfalt und den gängigen Plattitüden guter Gesinnung zu lauschen – vorgetragen vorzugsweise durch Protagonisten der Unterhaltungsbranche, also Fachleuten für Emotionalisierung, oder am besten gleich durch Kinder.

Als Hochfeste des politischen Kitsches erweisen sich die Großveranstaltungen der Kirchen. Insbesondere die Kirchentage bedienen sich eines von penetranter Rührseligkeit triefenden Vokabulars, unerträglich sentimentaler Bilder, einer zutiefst einfältigen Sprache und einer gedanklichen Vereinfachung, die man erwachsenen Menschen zunächst kaum zutraut.

Was an diesen öffentlichen Äußerungen und Darbietungen irritiert, ist zunächst weniger der Inhalt. Nichts spricht schließlich gegen Umweltschutz, Frieden oder Humanität. Und dass es in einer Demokratie nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht ist, öffentlich die eigenen Sorgen, Nöte, Wünsche oder Hoffnungen zu artikulieren, ist ohnehin selbstverständlich.

Was die öffentlichen Bekundungsrituale der Gutmeinenden jedoch häufig so abstoßend macht, ist das gnadenlos Infantile der jeweiligen Selbstdarstellung, das Aufgekratzte und Gefühlige der benutzten Sprache, die süßlichen Bilder und Metaphern, kurz: der unerträgliche politische Kitsch, der hier von erwachsenen und (vermutlich) denkenden Menschen inszeniert wird.

Politischer Kitsch, das machen schon die wenigen oben genannten Beispiele deutlich, verwendet ästhetischen Kitsch zur Kommunikation einer politischen Botschaft oder eines gesellschaftlichen Anliegens. Doch politischer Kitsch ist nicht einfach nur ästhetischer Kitsch in der Politik. Das wäre banal und nicht weiter der Rede wert. Politischer Kitsch ist vielmehr das Ergebnis einer inneren politischen Haltung, eines politischen Bewusstseins, das selber kitschig ist und sich konsequenterweise des ästhetischen Kitsches bedient, um seine Anliegen zu artikulieren.

Basis des kitschigen Politbewusstseins, so eine der Thesen des vorliegenden Essays, ist der moralische Kitsch. Er ist das psychologische Fundament, auf dem der politische Kitsch gedeiht, der sich dann des ästhetischen Kitsches bedient.

Wie der ästhetische Kitsch, so baut auch der moralische Kitsch vor allem auf Sentimentalität. Sein Feld ist die zur Schau getragene Empfindsamkeit. Dementsprechend geht es ihm nicht um eine rationale Analyse oder gar um das Abwägen verschiedener Perspektiven. Rationalismus und kühle Vernunft sind für ihn schlichter Zynismus. Das kitschige Bewusstsein will nicht verstehen, es will dazugehören und geborgen sein. Geborgen aber fühlt es sich nur in einer überschaubaren und geordneten Welt. Deshalb basiert der moralische Kitsch auf Komplexitätsreduktion. Für ihn gibt es nur Gut und Böse, Hell und Dunkel.

Damit der moralische Kitsch massenkonsumierbar wird, muss er sich jedoch politisch organisieren. Da der demokratische Politbetrieb aber auf Kompromissen beruht, auf der Organisation von Macht und einem berechnenden Zweckrationalismus, also auf etwas, was dem kitschigen Bewusstsein wesensfremd ist, formiert es sich gerne außerhalb staatlicher oder parteipolitischer Institutionen. Zumindest in postindustriellen Wohlstandsdemokratien wird politischer Kitsch weniger vom Staat organisiert und präsentiert, er ist vielmehr eine Kommunikationsform der „Zivilgesellschaft“ geworden, also einer gesellschaftlichen Struktur, deren Existenz und gebetsmühlenartige Beschwörung ihrerseits Produkt des kitschigen Bewusstseins ist. Hier, in der Zivilgesellschaft, also in imaginierter Gemeinschaft der politisch Erleuchteten, der Nichtkorrumpierten und Aufrechten, findet der moralische Kitsch seine ideale Agitationsform. Entsprechend organisiert er sich bevorzugt in Stiftungen, NGOs oder anderen Vereinen und Verbänden. Unbelastet von realpolitischen Erwägungen kann er hier seinem moralischen Maximalismus frönen.

 

Doch moralischer Kitsch zielt, wie jeder Kitsch, nicht auf Sektierer, sondern auf die Masse. Seine Pointe liegt darin, Moral massentauglich zu machen. Jeder kann hoch moralisch sein, zu jeder Zeit. Man muss einfach nur für den Frieden sein, für Gerechtigkeit, für Umweltschutz oder gegen Nazis. Das kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl und entlastet von Reflexion. Aus diesem Grund auch sind die Formeln des politischen Kitsches leicht konsumierbar und im Kern belanglos.

Ein Ergebnis ist das Wörterbuch des Polit-Kitsches: Darin versammelt sind Floskeln und Wortbildungen wie „soziale Gerechtigkeit“, „Wertegemeinschaft“, „Solidarität“ und „Mitmenschlichkeit“, tränenrührige Phrasen von der Sorte „kein Mensch ist illegal“, „kein Blut für Öl“ oder auch „Seenotrettung ist kein Verbrechen“, aber auch das unvermeidliche „Zeichen setzen“ und „Gesicht zeigen“. Diese Plattitüden sind weitestgehend sinnfrei, doch wer sie hinterfragt, diskreditiert sich selbst. So bekommt der kitschige Jargon die diskursive Lufthoheit.

Anders als der ästhetische Kitsch hat der politische Kitsch jedoch einen Appellcharakter. Er fordert zu Handlungen auf, vor allem zu symbolischen. Also lässt man Luftballons in die Luft steigen, Tauben fliegen, hält sich tapfer die Hände, entzündet Kerzen wo immer es geht und legt Stofftiere ab, wenn man sie nicht gerade jubelnd in die Höhe wirft. So erzeugt der politische Kitsch wieder den ästhetischen.

Da der politische Kitsch, ebenso wie der ästhetische und moralische, ein tragendes Element der Massenwohlstandsgesellschaft ist, besteht wenig Hoffnung, ihn aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen. Wir werden mit ihm leben müssen. Umso wichtiger jedoch ist es, seine historischen Wurzeln zu verstehen, seine psychosozialen Grundlagen und seine kommunikativen Funktionen. Dieser Versuch wird hier unternommen.

I. KITSCH UND RELIGION: DAS KITSCHIGE BEWUSSTSEIN

Kitsch ist Lüge. Oder etwas geschraubter: Kitsch ist Weltflucht im Jargon der Eigentlichkeit. Er behauptet, etwas zu sein, was er nicht ist. Und er gibt vor, einen Wert zu haben, der ihm nicht zukommt. Kitsch will betrügen. Deshalb betrügt er doppelt: Er betrügt den, an den er sich richtet. Mehr noch aber betrügt er denjenigen, der ihn in dem Bewusstsein erzeugt, wahrhaftig zu sein.

Kitsch ist daher allenfalls als Produkt von Zynismus hinnehmbar. Das macht ihn zumindest intellektuell erträglich. Der Produzent von Nippes, der Hersteller von Tand und Plunder, weiß zumindest kühl berechnend, was er tut, wenn er gezielt Geschmacklosigkeiten feilbietet. Das Gleiche gilt für den politischen Redner auf dem Marktplatz, der an die Emotionen seiner Zuhörer appelliert, wenn er von seiner schweren Kindheit erzählt oder mit von Ergriffenheit triefender Stimme von einem sozial benachteiligten Mitbürger in seinem Wahlkreis berichtet. Hier wird mit kalter Berechnung an die Rührseligkeit der Zuhörer appelliert. Das mag unschön sein, ist aber legitim. In einer freien Gesellschaft ist es jedem Bürger, jedem Unternehmer und jedem Politiker unbenommen, die Empfänglichkeit seiner Mitmenschen für große Gefühle zu seinen Gunsten auszunutzen. Und es sollte zur allgemeinen Kommunikationskompetenz eines modernen Menschen gehören, diese Form manipulativer Kommunikation zu durchschauen.

Wirklich kitschig wird Kitsch erst dann, wenn an ihn geglaubt wird. Deutlich problematischer als der vorsätzliche Kitsch aus Kalkül ist daher der Kitsch als Lebenshaltung – das kitschige Bewusstsein. Denn es sind kitschige Menschen, die besonders empfänglich sind für kitschige Inszenierungen und die sozialen oder moralischen Kitsch als besonders authentisch empfinden, was zumindest im Fall der Politik und in einer Demokratie verheerende Folgen haben kann. Denn das kitschige Bewusstsein, eben weil es in Gefühlen und Sentimentalitäten gründet, die für die persönliche Identität des jeweiligen Individuums von größter Bedeutung sind, reagiert aggressiv auf abweichende Meinungen. Aus Sicht des kitschigen Gemüts gibt es nur eine legitime moralische Überzeugung, und das ist die eigene. Denn jeder, der diese Überzeugung nicht teilt, hat nicht nur eine andere Ansicht, sondern unternimmt einen Angriff auf die jeweilige Gefühlswelt, also auf das individuelle Selbstverständnis. Und das erzeugt naturgemäß Aggressionen. Auf politischer Ebene trägt so das kitschige Bewusstsein zu einer Verschärfung und Polarisierung öffentlicher Debatten bei, was nicht förderlich für eine Demokratie ist.

Doch Kitsch ist ein hochinfektiöses Pathogen, insbesondere in Zeiten starker Veränderungen und Verunsicherung, wenn die Menschen anfällig sind für alles, was Geborgenheit verspricht, Nestwärme und Sicherheit. Dann besteht die Gefahr, dass nicht nur der ästhetische, sondern auch der moralische und der politische Kitsch zunehmend die Diskurse einer Gesellschaft bestimmt und diese intellektuell lähmt.

Denn Kitsch ist vor allem eines: ein Narkotikum des Geistes. Er betäubt den Verstand und sediert die Urteilsfähigkeit.1 An die Stelle klarer Reflexion tritt im kitschigen Gemüt das benebelnde Opium der Gefühligkeit. Wo Kitsch sich ausbreitet und zu einem dominierenden Merkmal der Alltagskultur geworden ist, wird Einfalt zur Pflicht. Aber Einfalt macht nicht selig, Einfalt macht einfältig. Und wer Einfältigkeit zur Tugend erhebt, erklärt Dummheit zum Ideal.

Einfalt wird überall dort zum erstrebenswerten Ziel, wo davon ausgegangen wird, dass rationale Erkenntnis defizitär ist und der menschliche Verstand nicht in der Lage, die angeblich wirklich entscheidenden und wichtigen Aspekte der Natur und der menschlichen Existenz zu erfassen. Verstand und kühle Rationalität erscheinen aus dieser Perspektive als eine Form von Entfremdung. Nur im Fühlen, in den Emotionen, in der Empfindsamkeit ist aus dieser Sicht der Mensch ganz bei der Natur und dabei bei sich. Deshalb ist die Trennung zwischen dem Echten, Authentischen und Natürlichen einerseits, das allein Geborgenheit, Wärme und Harmonie verspricht, und der kalten, entfremdeten Vernunft der Anfang allen Kitsches. Hier hat der Kitsch oder besser: die Disposition zum kitschigen Denken seine ideengeschichtliche Wurzel.

Für das kitschige Gemüt ist allein schon der Anspruch, die Welt rational zu erfassen, Ergebnis eines kulturhistorischen Sündenfalls: „Wenn das Herz spricht, ziemt es sich nicht, dass der Verstand etwas dagegen einwendet. Im Reich des Kitsches herrscht die Diktatur des Herzens.“2

Denn Rationalität ist der Treibstoff des wissenschaftlichen Denkens, von sachlicher Abwägung und nutzenorientiertem Pragmatismus. Genau hierin aber wittert die sentimentale Seele die Ursache für die Ausbeutung, Ungleichheit, der Unfähigkeit zum Frieden und die Zerstörung der Natur.

Diesem imaginierten Entfremdungsszenario setzt das kitschige Bewusstsein eine Vision absoluter Empathie, Gefühligkeit und Harmonie entgegen. Nur sie ist in der Lage, Normen und Verhaltensweisen zu entwickeln, die einen schonenden Umgang nicht nur der Menschen untereinander ermöglichen, sondern auch des Menschen mit der Natur. Dass in der Natur selbst Kategorien wie Empfindsamkeit, Empathie und Achtsamkeit überhaupt nicht vorkommen, sondern dass es sich hier um zutiefst anthropomorphe Begriffe handelt, stört das kitschige Gemüt naturgemäß wenig.

Denn erst das sentimentale Versprechen auf emotionale Geborgenheit, das allein die kitschige Weltsicht zu garantieren scheint, erschließt dem nach Erfüllung und Sicherheit Suchenden einen intellektuellen Schutzraum. Hier, in der Welt der Rührseligkeit, des Verständnisses und des Mitfühlens, wo alles einfach ist, unmittelbar einsichtig und Wahrheit gespürt werden kann, eröffnen sich Sinndimensionen, die Halt und Orientierung bieten. Man liegt daher sicher nicht falsch, wenn man festhält, dass die psychologische Grundlage für die Kitschfähigkeit des Menschen, seine Kitschdisposition, in dem Bedürfnis nach Sinnerfahrung liegt. Oder kurz formuliert: Wo das Versprechen von Sinn aufkommt, ist Kitsch nicht weit.

Dementsprechend sind Religionen die ersten kulturgeschichtlichen Formationen organisierten Kitscherlebens. Mithilfe von Erzählungen, Bildern und Ritualen suggerieren Religionen einen Sinnzusammenhang, der bei rationaler und unvoreingenommener Betrachtung nicht gegeben ist. Wenn Kitsch tatsächlich eine Übertünchung der Realität darstellt, eine Flucht vor der Wirklichkeit, die glauben machen will, die eigentliche Wirklichkeit zu sein, dann sind Religionen geradezu idealtypische Dispositionen des Kitsches.

Das bedeutet nicht, dass jede Religion und jede Form von Religiosität kitschig ist. Religion entbehrt des Kitsches, solange sie ein Modus bleibt, in dem Menschen sich den Tatsachen der Welt stellen und diese kommunizieren. Etwa, dass die Welt Leid und Schmerz bedeutet, Verlust, Endlichkeit, Kampf und Tod. Die großen polytheistischen Erzählungen der Menschheit sind Ausdruck dieser im gewissen Sinne realistischen Weltsicht und zudem Formen, dieses kollektive Wissen symbolisch zu verarbeiten. Hier, in den Mythen der Menschheit, etwa im Gilgamesch-Epos, im Alten Testament oder in den griechischen Sagen wird die Realität nicht beschönigt, und verkitscht schon gar nicht. Im Gegenteil, sie wird mit brutaler Klarheit geschildert, in einen Erklärungsrahmen gesetzt und so handhabbar gemacht.

Religion droht jedoch in Kitsch umzuschlagen, wenn sie die Wirklichkeit nicht symbolisch erklärt und erträglich macht, sondern aus der Realität entführt und auf eine Parallelwelt verweist. Ein solches Bedürfnis nach Weltflucht wird ausgelöst durch rapide soziale und kulturelle Veränderungen. In Zeiten einer gefühlten oder realen Krise und kollektiven Verunsicherung wird das persönliche, individuelle Seelenheil zu einem letzten Orientierungsanker. Angesichts infrage gestellter Traditionen, Sozialstrukturen und Lebenswelten entsteht die Sehnsucht nach persönlicher Heilsgewissheit.

Genau diese sozialpsychologische Konstellation formierte sich während der sogenannten Zeitenwende. Die Folge: Erlösungsreligionen und Mysterienkulte mit ihren individuellen Initiationsriten und Heilsversprechen gewannen im Römischen Reich an Popularität. Denn sosehr das Imperium einerseits für Stabilität und Ordnung stand, so sehr markiert es zugleich einen ersten Schritt hin zu einer Globalisierung der Wirtschafts- und Lebensräume – zumal vor dem Hintergrund der damals bekannten Welt. Die damit einhergehende Urbanisierung, Interkulturalisierung und Migration zerstörte jahrhundertealte räumliche, kulturelle und soziale Verankerungen. Wo aber sozialkulturelle Gefüge als instabil und austauschbar erlebt werden, verlieren diese ihre psychologische Stabilisierungsfunktion. Die Welt gerät ins Wanken. Sinnstiftungserzählungen erscheinen vertauschbar und beliebig. Insbesondere die sehr stark auf regionale, ethnische und soziale Gegebenheiten bezogenen polytheistischen Erzählungen der Antike waren zunehmend weniger in der Lage, diese Orientierungskrisen aufzufangen. Zu weltlich waren letztlich ihre Erzählungen, um in einer zersplitternden Welt Halt zu geben. Zu chaotisch erschien in ihnen die Wirklichkeit, um dem tief gehenden Kontingenzerleben etwas entgegenzusetzen.

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