Die verschollenen Traditionen des Okinawa-Karate

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Die verschollenen Traditionen des Okinawa-Karate
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Jamal Measara

In Zusammenarbeit mit Alexander Börsch

Die verschollenen

Traditionen

des Okinawa-Karate

Palisander

Impressum

Autor und Verlag übernehmen für die in diesem Buch gezeigten Techniken und deren Anwendung keinerlei Verantwortung. Auch können sie für die Effektivität und die Effekte dieser Techniken in Selbstverteidigungs-Situationen nicht haftbar gemacht werden. Ausführung, Anwendung und Übung des in diesem Buch gezeigten Materials geschieht auf eigene Gefahr. Weder der Autor noch der Verlag können für Verletzungen, gesundheitliche Schäden oder jegliche andere daraus entstehende Folgen verantwortlich gemacht werden. Darüber hinaus weisen Autor und Verlag darauf hin, dass der Leser des Buches selbst verantwortlich für die Einhaltung der in seinem Land geltenden gesetzlichen Bestimmungen ist.

Der Verlag dankt Dr. Sven Hensel, Dr. Janett Kühnert und Norbert Wölfel vom Chemnitzer Karateverein sowie Herrn Ole Wegener für die fachliche Unterstützung bei der Redaktion.

Erstausgabe

1. Auflage Dezember 2012

© 2012 by Palisander Verlag, Chemnitz

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Anja Elstner, unter Verwendung einer lizenzfreien Fotografie (»Shurei no mon«), zweier Fotos von Peter Börsch und der Kalligraphie »Dōjōkun« von Kazuko Koy

Lektorat: Frank Elstner

Redaktion & Layout: Frank Elstner

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783938305447

www.palisander-verlag.de


Jamal Measara und Shimabukuro Zenpo

Der Autor

Jamal Measara wurde 1949 in Malaysia, im Bundesstaat Negeri Sembilan, geboren. Bereits im Alter von zehn Jahren begann er, die indischen Kampfkünste Silambam (Stockkampf) und Vajramushti (»Diamantenfaust«) zu erlernen. Der plötzliche Tod seines Meisters unterbrach für längere Zeit sein Training in den indischen Kampfkünsten. Durch Vermittlung seines Vaters, der in der britischen Armee diente, gelangte Jamal Measara zum westlichen Boxen. Doch auch seine Karriere als Boxer fand schon bald ein Ende, als Malaysia unabhängig wurde und die britischen Kolonialtruppen das Land verließen.

Mitte der 60er Jahre wurde in der Heimatstadt von Jamal Measara eine Shitō-ryū-Karateschule eröffnet, in der er mehrmals wöchentlich trainierte. Diese Schule wechselte allerdings in der Folge einige Male die Stilrichtung. Auf diese Weise konnte Jamal Measara noch weitere Karatestile kennenlernen, wie z. B. Shōtōkan, Keishinkan und Gōjū-ryū. In dieser Zeit nahm er auch aktiv an zahlreichen Wettkämpfen teil und vertrat Malayisa u. a. bei der zweiten Karate-Weltmeisterschaft 1972 in Paris.

Gegen Ende der 60er Jahre begegnete Jamal Measara zwei Persönlichkeiten, die seinen Weg entscheidend prägten. Die erste Person war Meister Rajah Thamby, sein späterer Aikidō-Lehrer. Obwohl Measara heute verschiedene Aikidō-Systeme kennt, unterrichtet er bis zum heutigen Tag Shudōkan-Aikidō, das er einst bei Meister Thamby gelernt hat. Die zweite Person war Donn F. Draeger. Bei ihm lernte er Jōdō (Jōjutsu), Shindō Musō-ryū und Aikijutsu. Nicht nur die Kampfkunst, sondern auch die Persönlichkeit von Donn F. Draeger haben Jamal Measara nachhaltig beeinflusst. Er war es auch, der das Interesse für die Geschichte der Kampfkunst beim Autor geweckt hat.

1978 war Jamal Measara Mitbegründer der Malaysia Karate Federation (MAKAF). Zwei Jahre lang war er der erste Nationaltrainer der MAKAF, bis er 1980 nach Deutschland übersiedelte. Seitdem lebt er im niederbayerischen Kelheim.

Seit 1986 reist Jamal Measara regelmäßig nach Okinawa, um die Kampfkünste Karate und Kobudō in ihrem Ursprungsland zu studieren. So kam es, dass er Schüler von Shimabukuro Zenpo, dem Stiloberhaupt des Shōrin-ryū Seibukan Karate, und von Kanei Katsuyoshi, dem Stilbegründer des Jinbukan Kobudō, wurde. Diese beiden Kampfkünste trainiert und unterrichtet er bis zum heutigen Tag. Auf Okinawa hatte er die Ehre, viele bedeutende Persönlichkeiten des okinawanischen Karate und Kobudō kennenzulernen. Auf diese Weise konnte er zum einen seine Kampftechniken vervollkommnen und zum anderen erfuhr er von diesen Meistern vieles über die Geschichte der okinawanischen Kampfkünste.

In Jahre 1996 gründete Jamal Measara die Traditionelle Okinawa Kampfkunst Organisation e. V. (TOKO) in Deutschland, welche das Ziel verfolgt, die alten Traditionen des Karate und Kobudō lebendig zu erhalten.

Danksagung

Der Autor dankt Herrn Oliver Riess und Herrn Ottmar Perras, die auf den Fotografien zu sehen sind. Des Weiteren dankt er Herrn Peter Börsch für die Anfertigung der Fotografien und Frau Monika Leupold für die aktive Mitwirkung am Buchprojekt.

Illustrationen

Abb. 1 - 3, 58, 144 - 146, 254 - 256, 258, 259, 261 - 263 und 265 sind lizenzfrei. Abb. 257: »Ryukyu Kingdoms as in the Sanzan period«, von »callgan«, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz Attribution-Share Alike 3.0 Unported, URL: http://creativecommons.org/​licenses/​by-sa/​3.0/​deed.en, Abb. 260: »Shuri Castle in Naha« von »663highland«, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz BY 2.5, URL: http://creativecommons.org/​licenses/​by/​2.5/​legalcode, Abb. 264: »Nakamura House in Kitanakagusuku« von »663highland«, Wikimedia Commons, lizenziert unter Creative-Commons-Lizenz BY 2.5, URL: http://creativecommons.org/​licenses/​by/​2.5/​legalcode. Die auf dem Buchcover und für Abb. 4 verwendete Kalligraphie wurde durch Frau Kazuko Koy angefertigt. Die Rechte für Abb. 9 liegen beim Palisander Verlag. Die Rechte für alle anderen Abbildungen liegen beim Autor.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Der Autor

Danksagung

Illustrationen

Vorwort

I Der Geist des Budō

Die Charakterschule des Budō

Geduld

Die fünf Regeln des Dōjōkun

Budō hilft

Lehrer und Schüler

Philosophie im Budō

Kampfkunst und Heilkunde

II Die Kunst des Kämpfens

Di – die okinawanische »Hand«

Die Tradition der Formen

Beispiele für Kata und Kampfsysteme

Die Waffen des Karate

Muskelaufbau und Abhärtung

Vorbemerkung

Muskeltraining ohne Hilfsmittel

Das Makiage kigu

Das Chishi

Die Nigirigami und andere Gewichte

Makiwara – der »Hölzerne Mann« Okinawas

Abhärtung

Die Kunst, den Körper leichter und schwerer werden zu lassen

Kampftechniken

Einleitung

Uke waza

Uchi waza und Tsuki waza

 

Keri waza

Tachi gata

Ne waza

Tegumi und Kumite

Kyūsho

Die Taktiken des Kampfes

Anhang

Die Geschichte Okinawas

Das Binden des Gürtels auf traditionelle Art

Anmerkungen

Vorwort

Der Grund, weshalb ich dieses Buch geschrieben habe, war kein anderer als die Motivation durch meine engsten Schüler. Oft saßen wir beisammen, und sie fragten mich nach Geschichten aus meinem Leben und über Budō aus. »Wenn Sie Ihr Wissen und Ihre Geschichten nicht aufschreiben, dann werden diese Erfahrungen eines Tages für immer verloren gehen«, waren die Worte meiner Schüler.

Ein weiterer Grund für dieses Buch ist die Hoffnung, dass ich gewisse grundlegenden Dinge über Budō, wie z. B. die Bedeutung von Geduld oder Pünktlichkeit, in Zukunft vor meinen Schülern nicht mehr so oft wiederholen muss. Selbstverständlich kann ein Buch niemals einen Lehrer ersetzen, es kann ihn allerdings unterstützen.

»Um das Neue zu verstehen, muss man erst das Alte lernen«, lautet ein Sprichwort. Möge dieses Buch dazu beitragen, dass die Schüler die alten Traditionen des Budō besser begreifen und schätzen lernen. Ich wünsche mir auch, dass es vielen Trainern bei ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit helfen wird.

Es würde mich freuen, wenn Sie dieses Buch auf dem Weg des Budō und im Leben ein Stück voran bringt.

Jamal Measara

Kelheim, November 2012

I

Ein Budōka ohne Geduld ist nichts anderes als ein verrückter Bulle. – Budō-Spruch

Die Charakterschule des Budō

Geduld

Auf Okinawa, wie auch in vielen anderen Teilen Asiens, heißt die erste Lektion, die traditionell in der Kampfkunst vermittelt wird, Geduld. In früheren Tagen wählte stets der Meister seine Schüler aus und nicht der Schüler seinen Meister. Heute hingegen gilt es als selbstverständlich, dass man zu einem Kampfkunstmeister geht und von ihm Unterricht gegen Bezahlung verlangt und erhält. Dies ist eine Begleiterscheinung der allgemeinen Kommerzialisierung in den Kampfkünsten.

Traditionell bittet man den Meister um Unterricht und verlangt ihn nicht. Ob der Meister dieser Bitte nachkommt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, so z. B. vom Charakter des Anwärters.

Kam jemand zu einem Kampfkunstlehrer mit der Bitte um Unterricht, so schickte dieser den Anwärter erst einmal wieder weg. Meist erklärte der Meister ihm, er habe gerade keine Zeit, und er solle doch ein andermal wiederkommen. Damit stellte er die Geduld des Anwärters auf die Probe. Dieses Vorgehen konnte sich wochen- oder gar monatelang hinziehen. So wurde nicht nur die Geduld, sondern auch die Entschlossenheit getestet und gefördert. Entsprang der Wunsch Kampfkunst zu erlernen nur einer Laune, würde der Anwärter nach einigen Versuchen nicht mehr wiederkommen. Der Meister ist darüber für gewöhnlich nicht verärgert, im Gegenteil, er freut sich über die frühe Auslese. Viel ärgerlicher wäre es, wenn er über Jahre hinweg viel Zeit und Kraft in den Schüler investiert und dieser eines Tages die Ausbildung abgebrochen hätte. Blieb der Anwärter jedoch hartnäckig und kehrte immer wieder zurück, so nahm ihn der Meister zumeist als seinen Schüler an. Dies gilt in traditionellen Schulen bis zum heutigen Tag. Eine Empfehlung durch eine angesehene Persönlichkeit oder ein hoher gesellschaftlicher Rang ersparten zwar nicht die Prüfung der Geduld, aber sie erhöhten die Chancen, letztlich vom Lehrer angenommen zu werden.

Aus der Geschichte des Karate sind zahlreiche solcher Begebenheiten bekannt. Als z. B. Shimabukuro Zenryō (1908 - 1969), der Vater meines Sensei Shimabukuro Zenpo (geb. 1943), einst bei Kyan Chōtoku1 Sensei mit der Bitte um Unterricht vorsprach, sagte dieser nur: »Heute fühle ich mich nicht wohl, komm bitte morgen wieder.« Dies wiederholte sich viele Male. Erst die persönliche Empfehlung durch seinen Schuldirektor verhalf ihm dazu, als Schüler angenommen zu werden.

In meiner eigenen Kampfkunstlaufbahn wurde meine Geduld oft auf diese Weise geprüft. So nahm mein Lehrer in der indischen Kampfkunst Vajramushti (»Diamantenfaust«) mich keineswegs sofort als Schüler an, ebenso wenig wie viele Jahre später Shimabukuro Zenpo Sensei, mein okinawanischer Karatelehrer.

Shimabukuro Sensei hatte ich bereits 1971 in Malaysia kennengelernt. Er beeindruckte mich nachhaltig. Mit dem festen Entschluss, sein Schüler zu werden, reiste ich schließlich 1986 das erste Mal nach Okinawa. – Als feststand, dass meine Frau und ich nach Okinawa fliegen würden, schrieb ich ihm einen Brief, der ihn über unsere Pläne informierte.


Abb. 1

Kyan Chōtoku


Abb. 2

Shimabukuro Zenryō


Abb. 3

Shimabukuro Zenpo.

Shimabukuro Sensei holte uns persönlich vom Hotel ab. Wir sind dann in ein gutes Lokal essen gegangen, wo er mich fragte, ob ich sein Dōjō sehen wolle. Natürlich lautete meine Antwort Ja; schließlich war das mein langgehegter Traum. Daraufhin führte er uns zunächst zu seinem ersten Dōjō in Chatan und dann zu seinem zweiten. Anschließend lud er uns zu Kaffee und Kuchen in sein Büro ein. Als ich ihn jedoch fragte, ob ich bei ihm trainieren dürfe, sagte er nein, dies sei nicht möglich. Zehn Tage blieb ich mit meiner Frau auf Okinawa, und jeden Tag begab ich mich zu Shimabukuro Sensei. Aber nie hat er mir gestattet, bei ihm zu trainieren. Und das, obwohl ich eigens seinetwegen nach Okinawa gereist war.

1987 reiste ich erneut nach Okinawa. Als ich nach meiner Ankunft Shimabukuro Sensei aufsuchte, fragte er mich, was ich denn hier wolle – er habe keine Zeit. Allerdings nahm er sich die Zeit, mich zu verschiedenen anderen Dōjō zu bringen, damit ich dort trainieren könne.

Unabhängig davon lernte ich während dieses Aufenthaltes auf Okinawa auch Matayoshi Sensei2 kennen, der mir sogar Unterricht in seiner Wohnung erteilte.

Shimabukuro Sensei hingegen wies mich stets mit den Worten, er habe keine Zeit, ab. Allerdings war ich fest entschlossen, sein Schüler zu werden. Ich hatte bereits viel Erfahrung im Karate, und nach allem, was ich wusste, war ich fest davon überzeugt, dass es für mich nichts Besseres geben könnte als sein Karate und auch sein charakterliches Vorbild.

Nach einigen Tagen hatte ich so gut wie kein Geld mehr. Ich ernährte mich fast nur noch von dem preiswerten Essen an Straßenständen, um zu sparen und so noch ein wenig länger auf Okinawa bleiben zu können. Kurz bevor meine Reserven vollständig erschöpft waren und ich wieder nach Hause hätte fliegen müssen, bot mir Shimabukuro Sensei eine Wohnung als Unterkunft an. Als ich ihn fragte, was sie kosten würde, meinte er nur: »Wir werden sehen.« Er hatte schließlich erkannt, wie ernst es mir war, und nahm mich als Schüler an. So konnte ich noch einige Zeit auf Okinawa bleiben, und das lang ersehnte Training im Seibukan-Honbu-Dōjō begann. Am Ende stellte sich sogar heraus, dass ich für die Unterkunft überhaupt nichts bezahlen musste, da sie meinem Sensei gehörte.

Die zweite Prüfung, mit der traditionell die Geduld des Schülers auf die Probe gestellt wurde, bestand in harter körperlicher Arbeit. In Asien war es weit verbreitet, dass Schüler für ihre Meister diverse Arbeiten verrichteten, wie z. B. Gartenarbeit, Wasser holen usw. Diese Arbeiten waren zugleich Teil der Bezahlung für den Meister. Manchmal nahm der Lehrer den Schüler auch mit in den Wald, um Kräuter zu sammeln, und zeigte ihm dann, wie man sie verarbeitete, d. h., wie man sie klopfte, trocknete, in Alkohol einlegte usw., um aus ihnen Arznei herzustellen (siehe Kapitel »Kampfkunst und Heilkunde«, S. 41). Die harte Arbeit war zugleich der Beginn des physischen Trainings. Der Schüler erkannte oft zunächst keinen Zusammenhang zwischen diesen Arbeiten und der Kampfkunst, um die es ihm ja eigentlich ging. Tatsächlich aber schulten sie seine Kraft, seine Beweglichkeit, seine Geduld und verhalfen ihm zu wertvollen Kenntnissen in der Medizin. Körper und Geist wurden somit auf das kommende Training vorbereitet. Allerdings kam es vor, dass ein Schüler nach einiger Zeit dem Meister vorwarf, er sei zum Trainieren und nicht zum Arbeiten hier, und ihn verließ. Wenn dies geschah, war der Meister ebenfalls nicht verärgert, denn ihm war nur an ernsthaft an seiner Kunst interessierten Schülern gelegen, die in der Lage waren, die für das lange und mühsame Training nötige Geduld aufzubringen.

Harte Arbeit gehörte in vielen traditionellen Kampfkünsten zur normalen Ausbildung, sei es in China, auf Okinawa oder in Japan. Der chinesische Begriff Kung Fu (auch Gongfu) beispielsweise steht für etwas, das durch harte Arbeit erreicht wird. Heute wird er mitunter als Oberbegriff für die chinesischen Kampfkünste verwendet. Die Schüler, die regelmäßig kochten, Holz hackten, das Dōjō putzten und andere Arbeiten verrichteten, entwickelten eine enge Beziehung zum Lehrer. Sie waren die so genannten Uchi deshi, die inneren Schüler, und hatten über das Training hinaus täglich Kontakt zum Meister. Manches von seinem Wissen über die Kampfkünste lehrte er nur sie.

Als ich mit zehn Jahren zu meinem ersten Lehrer in indischer Kampfkunst ging, musste auch ich für ihn arbeiten. Zu meinen Aufgaben zählte das Ernten von Avarakai, einer indischen Bohnensorte, und ich musste regelmäßig Holz und Wasser für ihn holen. Für ein Kind bedeutete dies viel und harte Arbeit. Aber mein Wunsch, Kampfkunst zu erlernen, war sehr groß, und so verrichtete ich die Arbeiten gern. Tatsächlich war mein Lehrer darauf angewiesen, da er allein lebte und die Bezahlung für seinen Unterricht sehr gering ausfiel. Generell sollte Geld in den Kampfkünsten eine eher untergeordnete Rolle spielen. Shimabukuro Sensei beispielsweise nahm nie Geld von mir an. Wenn ich ihm etwas zukommen lassen wollte, so musste ich es unter dem Tisch verstecken oder seine Frau bitten, es ihm zu geben, nachdem ich gegangen war. Das ist noch heute so.

In den heutigen Dōjō werden oft moderne Geräte für das Krafttraining eingesetzt. Darauf aufbauend werden die Karate-Techniken gelehrt. Nichtsdestotrotz ist es auf Okinawa nach wie vor üblich, dass Kampfkunstschüler im Garten ihrer Meister tätig sind. Wenn ich meinen Lehrer im Garten arbeiten sehe, übernehme ich die Arbeit für ihn. Dies ist eine Geste der Höflichkeit, des Respekts und der Dankbarkeit dafür, dass ich als Schüler angenommen wurde. Ich selbst verlange das aber nicht von meinen Schülern, ebenso, wie Shimabukuro Sensei es nicht von mir verlangte. Ich helfe gern, und es kommt von Herzen.

Das Sprichwort »Budō ist wie eine Orange« beschreibt sehr gut, wie eine traditionelle Kampfkunst erlernt wird: Die Orange ist schön. Der erste Biss – in die Schale – brennt jedoch. Die Zurückweisung des Meisters, die erste Hürde auf dem Weg zur Kampfkunst, brennt ebenfalls. Die zweite Stufe ist vergleichbar mit der weißen Haut der Orange. Sie ist bitter, wie auch die harte körperliche Arbeit. Viele hören hier auf. Die dritte Stufe, das eigentliche Training, entspricht dem süßen saftigen Fruchtfleisch, zu dem man gelangt, wenn man die ersten beiden Hürden überwunden hat. Es gibt allerdings auch Kerne, auf die zu beißen unangenehm ist; sie entsprechen Rückschlägen oder Verletzungen. Auch bei solchen Ereignissen brechen einige Budōka das Training ab. Ein ernsthafter Schüler wird sich aber von Widrigkeiten nicht abschrecken lassen. Budō gleicht einem Weg durch schwieriges Gelände. Es erfordert viel Anstrengung und Geduld voranzukommen. Nur wenige widmen ihr ganzes Leben diesem Weg, die meisten geben unterwegs auf.

 

Die fünf Regeln des Dōjōkun

Seit jeher ist neben der Entwicklung körperlicher und geistiger Fähigkeiten die Schulung des Charakters ein wichtiger Bestandteil der Kampfkunst. Auf Okinawa wurden Schüler, die nicht ein Mindestmaß an Tugenden und Charakter besaßen, vom Meister oft gar nicht erst aufgenommen. Die fünf wichtigsten Grundsätze im Karate wurden im sogenannten Dōjōkun festgehalten.

Der genaue Ursprung des Dōjōkun (Regeln für das Dōjō) lässt sich nicht bestimmen. Überliefert wurde es von Sakugawa Kanga (1733 - 1815) auf Matsumura Sōkon (ca. 1800 - 1890). Dieser gab es an seine eigenen Schüler weiter, so z. B. an Itosu Ankō (1832 - 1916). Itosu Ankō gab es wiederum an Funakoshi Gichin (1868 - 1957) weiter. Noch heute existiert eine eigenhändig von Matsumura Sōkon geschriebene Version des Dōjōkun. Im Folgenden werden die fünf Regeln des Dōjōkun einzeln erläutert.

Die erste Regel des Dōjōkun: Es ist wichtig, nach Vervollkommnung des eigenen Charakters zu streben.

Kampfkünstler haben meist eine starke Persönlichkeit und einen ausgeprägten Charakter. Einen wahren Budōka zeichnen Eigenschaften wie Geduld, Bescheidenheit und Rechtschaffenheit aus. Das erste Ziel eines angehenden Kampfkünstlers sollte darin bestehen, eine gute innere Einstellung zu dem, was er tut, zu erlangen, um vollkommen hinter dem eigenen Handeln stehen zu können. Wer den eigenen Charakter bewusst schult, wird auch respektvoll und höflich mit seinen Mitmenschen umgehen.

Es ist wichtig, nie das rechte Maß zu verlieren, vor allem auch für sich selbst. Nur allzu oft gaukelt einem das Ego vor, man sei der Beste. Ich habe es nicht selten erlebt, dass ein Schüler als »Maus« zum ersten Training kam und nach drei bis vier Einheiten als »Elefant« wieder ging. Er passte gewissermaßen kaum noch durch die Tür, so sehr war sein Ego angeschwollen. Seine ersten Trainingserfolge haben ihn hochnäsig werden lassen. Kyan Chōtoku pflegte zu sagen: »Es gibt immer einen höheren Berg«; d. h., es wird immer jemanden geben, der besser ist als du selbst. Kampfkunst soll deshalb auch Bescheidenheit vermitteln. Im Freikampf muss man sehr schnell erkennen, dass es immer wieder Situationen gibt, in denen man unterliegt. Solche Momente können sich positiv auf die eigene Bescheidenheit auswirken, wenn man sich ihrer besinnt. Wichtig für den Schüler der Kampfkunst ist es auch, bewusst daran zu arbeiten, andere negative Charaktereigenschaften wie Habgier und Neid kleinzuhalten.

Eine weitere wichtige Charaktereigenschaft ist die Dankbarkeit. Nie sollte man vergessen, wie man einst angefangen hat, Kampfkunst zu erlernen. Mein Sensei hat mir eine Chance gegeben und mich als Schüler aufgenommen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, und ich werde immer hinter ihm stehen. Sein Vorbild ist einer der Gründe, weshalb ich bestrebt bin, Karate in der Welt zu verbreiten.

Die zweite Regel des Dōjōkun: Es ist wichtig, den Weg der Aufrichtigkeit zu gehen.

In allem, was man tut, sollte Aufrichtigkeit zu finden sein. In erster Linie aber sollte man ehrlich zu sich selbst sein und sich selbst stets hinterfragen. Man belügt sich schneller, als man es für möglich halten möchte. Zu einem aufrechten Leben gehört ebenfalls, zu seinem Wort zu stehen und Verantwortung für die Folgen der eigenen Taten und des eigenen Verhaltens zu übernehmen. Wer aus Bequemlichkeit immer wieder die Meinung ändert, um Konflikten aus dem Weg zu gehen, hat auf den ersten Blick ein einfacheres Leben. Tatsächlich aber verweichlicht solch ein Verhalten den Charakter, denn gerade das konsequente Durchstehen unangenehmer Situationen stärkt die innere Kraft.

In den Kampfkünsten werden hohe Maßstäbe gesetzt, die nicht immer erreicht werden. Doch dieses Problem ist auch in anderen Wertesystemen zu finden. Sowohl Islam als auch Christentum verbieten z. B. das Töten, und dennoch wurden im Namen dieser Religionen unzählige Kriege geführt. Die USA, um nur ein Beispiel zu nennen, sind vorwiegend christlich geprägt. Dennoch führen sie bis zum heutigen Tag immer wieder Kriege, in denen unzählige Menschen getötet werden. Der einfache Soldat kennt die Menschen, die er tötet, nicht. Sie haben ihm persönlich nie etwas getan; sie sind ihm nie zuvor begegnet. Aber dennoch töten Soldaten. Dies geschieht auf Anweisung der Politik und steht in direktem Widerspruch zu dem Wertesystem, zu dem sich viele dieser Soldaten bekannt haben. Hier stellt sich die Frage, wem man denn eigentlich etwas schuldig ist? Soll man im Auftrag von Politikern, die kommen und gehen, Blut vergießen oder sich selbst und seinen Werten treu bleiben?


Abb. 4: Die fünf Regeln des Dōjōkun.

Budō versucht, das Beste im Menschen zu kultivieren. Daher ist es wichtig, dass ein guter Meister stets die Tugenden des Budō vermittelt und diese vorlebt. In Japan sagt man: »Karate no kunoshi no bugei«– Menschen, die Karate betreiben, sind besondere Menschen, weil sie eigene Prinzipien haben und zu ihnen stehen.

Die dritte Regel des Dōjōkun: Es ist wichtig, sich stets zu bemühen.

Eine der besten Möglichkeiten eines Kampfkunstlehrers, die Tugenden des Budō zu vermitteln, besteht darin, sie vorzuleben. Sehen die Schüler, dass der Lehrer anders handelt, als er es lehrt, dann werden sie seine Lehren instinktiv nicht allzu ernst nehmen. Leider gibt es immer wieder Lehrer, die die Werte des Budō in ihrem eigenen Leben nicht umsetzen, so dass Theorie und Praxis zwei verschiedene Dinge bleiben. Es geht hier keineswegs darum, in jeder Situation perfekt zu handeln. Jeder Mensch macht Fehler. Dies ist menschlich und vollkommen normal. Worauf es in der Kampfkunst ankommt, ist, sich seiner Schwachpunkte bewusst zu werden und an sich zu arbeiten. Dieses stete Bemühen ist ein Eckpfeiler des Budō, und es durchzieht alle fünf Grundsätze des Dōjōkun.

Das rechte Bemühen drückt sich auch in der Bereitschaft aus, etwas von anderen zu lernen. Ich habe Folgendes erlebt: Als der Sensei einmal nicht zum Training kommen konnte, leitete einer seiner Schüler das Training. Einige der anderen Schüler sind einfach gegangen, als sie erfahren hatten, dass der Sensei nicht kommen würde. Das ist nicht das rechte Bemühen. Man kann von jedem etwas lernen.

Oft geschieht es im Training, dass bestimmte Techniken nicht auf Anhieb funktionieren, oder der Lehrer korrigiert einen immer und immer wieder. Man sollte dann nicht so schnell die Flinte ins Korn werfen. Manche Wege sind länger als andere, aber wenn wir ankommen wollen, dann dürfen wir nicht aufhören, vorwärts zu gehen. Will man eine Technik erlernen, nutzt es wenig, sie nur ein- oder zweimal zu üben. Nur durch konsequentes Bemühen und stete Übung bekommt man das, was die Okinawaner Chinkuchi nennen. Chinkuchi lässt sich nicht direkt übersetzen, steht aber sinngemäß für den Zustand, in dem man die Technik verinnerlicht hat. Nur wenn man sich bemüht und sich durch Rückschläge nicht entmutigen lässt, wird sich der Erfolg einstellen. Dies gilt nicht nur im Karate, sondern im Leben allgemein – in der Schule, im Beruf oder auch in Beziehungen. Das Dōjō ist ein Ort, an dem man nie aufhört, an sich selbst zu arbeiten.

Die vierte Regel des Dōjōkun: Es ist wichtig, stets höflich und respektvoll zu sein.

Respekt wird einem dann entgegengebracht, wenn man selbst die anderen Menschen respektiert. Das alte deutsche Sprichwort »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus«, bewahrheitet sich auch in dieser Hinsicht immer wieder. Ein Budōka sollte stets bereit sein, als erster seinem Gegenüber Respekt zu erweisen. Nur so wird sich wahrer, aktiver Respekt entwickeln. Zollt man Respekt nur als Reaktion auf das respektvolle Verhalten anderer, so offenbart dies eine gewisse Oberflächlichkeit. Mir ist es schon des Öfteren passiert, dass Menschen, die mir gegenüber nicht viel Respekt zeigten, mich auf einmal höflicher behandelten, als sie merkten, dass ich sie respektierte und höflich behandelte. Ein einfaches Beispiel ist das Grüßen im Alltag. Immer, wenn jemand in mein Fitnessstudio kommt und ich im Foyer sitze, begrüße ich ihn mit einem freundlichen »Grüß Gott«. Bei weitem nicht alle grüßen zurück. Ich denke mir dann, wenn ich nicht den Anfang mache, wird man sich irgendwann überhaupt nicht mehr grüßen.


Abb. 5: Putzen im Dōjō auf Okinawa.

Das System der Graduierung, wie es heutzutage in vielen Kampfkünsten verwendet wird, bietet ebenfalls eine gute Möglichkeit, Bescheidenheit und Respekt zu üben. So ist es z. B. sehr schlecht, wenn man Mitschüler niedriger Graduierung ignoriert. Es ist wichtig, Schüler jeglicher Graduierung respektvoll zu behandeln. Wenn man zu seinem Sensei höflich ist, so sollte man allen anderen die gleiche Höflichkeit entgegenbringen. Dieses höfliche und respektvolle Verhalten sollte auch außerhalb des Dōjō gelebt werden. Es gibt in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen dem Dōjō und dem Leben außerhalb des Dōjō.

Nicht nur im Umgang mit Menschen, sondern auch mit Dingen zeigt ein Budōka Respekt. In Asien ist es z. B. selbstverständlich, dass alle das Dōjō nach dem Training saubermachen. Dies gehört zum grundlegenden Anstand und wird noch heute so praktiziert. In den westlichen Ländern trifft man leider oft auf die Einstellung: »Warum sollte ich die Schmutzarbeit machen? Schließlich habe ich doch für mein Training bezahlt!« Wenn ich auf Okinawa bin, putze auch ich das Dōjō. Selbst mein Lehrer beteiligt sich an diesen Arbeiten. Die Reinigung des Dōjō nach dem Training sollte vom Schüler so gesehen werden: »Ich wische meinen Schweiß selbst weg, niemand anders soll das für mich tun. Ich mache diese Arbeit, um mein Ego zu überwinden.« Mit dem Wischen des Bodens soll der sprichwörtliche Affe auf der Schulter vertrieben werden. Dieser Affe steht für das eigene Ego, das dort sitzt und einem zuflüstert, man sei etwas Besonderes und habe derartige Arbeiten nicht nötig.


Abb. 6: Putzen im Dōjō von Kelheim.

Das eigene Ego ist der größte Feind, gegen den wir jemals antreten. Es drängt einen dazu, immer im Vordergrund stehen zu wollen. Die Bedürfnisse der anderen Menschen werden da leicht vergessen. Um das Ego im Zaum zu halten, wird im Training großer Wert auf die Entwicklung von Respekt und Bescheidenheit gelegt. Die Verhaltensregeln im Dōjō tragen hierzu maßgeblich bei. So wird sich z. B. zu Beginn des Trainings sowie am Anfang einer Partnerübung mit dem Wort »Onegaishimasu« verbeugt. »Onegaishimasu« ist eine höfliche Bitte um Unterricht oder um ein gutes Partnertraining. Auch wenn die Verbeugung in Europa nicht zum Alltag gehört, so versteht man sie intuitiv als ein Zeichen von Wertschätzung. Man sollte deshalb der Verbeugung die nötige Zeit geben und seinem Partner davor und danach in die Augen blicken. Nach dem Training oder der Übung bedankt man sich mit den Worten »Arigatō gozaimashita«–»herzlichen Dank«. Diese Worte und ihre Bedeutung sollte man verinnerlichen und sie nicht nur als leere Phrasen wiederholen, vor allem dann, wenn man der japanischen Sprache nicht mächtig ist.

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