Der rote Planet

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Der rote Planet
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Alexander A. Bogdanow

Der rote Planet

Der rote Planet

Alexander A. Bogdanow

Impressum

Texte: © Copyright by Alexander A. Bogdanow

Umschlag: © Copyright by Walter Brendel

Verlag: Das historische Buch, 2022

Mail: walterbrendel@mail.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Teil I

Teil II

Teil III

Teil IV

Teil I
1. Die Trennung

Die Ereignisse haben sich zugetragen, als in unserem Lande der große Umbruch gerade anhob, jener Umbruch, der bis in die Gegenwart fortwährt und sich nun wohl seinem unabwendbaren schrecklichen Ende nähert.

Die ersten, blutigen Tage hatten das gesellschaftliche Bewusstsein so tief aufgewühlt, dass alle einen schnellen und klaren Ausgang des Kampfes erwarteten: Das Schlimmste schien vorüber zu sein, und schlimmer konnte es nicht kommen. Niemand vermochte sich vorzustellen, wie hartnäckig die knochigen Hände eines Toten einen Lebenden krampfhaft umklammern und würgen können.

Kämpferischer Enthusiasmus bemächtigte sich der Massen. Die Menschen öffneten ihre Herzen, grenzenlos auf die Zukunft vertrauend; die Gegenwart verschwamm in rosigem Nebel, die Vergangenheit entrückte in die Ferne. Alle Beziehungen zwischen den Menschen wurden wankend und brüchig wie nie zuvor.

In diesen Tagen geschah, was mein Leben völlig veränderte und mich aus dem Strom der Volkserhebung riss.

Ungeachtet meiner siebenundzwanzig Jahre war ich ein »alter« Parteiarbeiter. Ich hatte sechs Jahre revolutionäre Tätigkeit aufzuweisen, lediglich unterbrochen von einem Jahr Festungshaft. Eher als viele andere spürte ich das Nahen des Sturms, und gelassener als sie begegnete ich ihm. Arbeiten musste ich mehr als früher, dennoch gab ich weder meine wissenschaftliche Betätigung auf— mich interessierte besonders der Aufbau der Materie —, noch beendete ich meine literarischen Versuche: Ich schrieb für Kinderzeitschriften, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Zu der Zeit liebte ich... oder glaubte zu lieben.

Ihr Parteiname war Anna Nikolajewna.

Sie gehörte zum anderen, gemäßigteren Flügel unserer Partei. Ich erklärte das mit ihrer Sanftmut und der allgemeinen Verworrenheit der politischen Verhältnisse in unserem Land; obwohl Anna Nikolajewna älter war als ich, hielt ich sie nicht für einen innerlich gefestigten Menschen. Darin irrte ich mich.

Sehr bald, nachdem wir uns vereinigt hatten, trat der Unterschied unserer Naturen immer merklicher und schmerzlicher zutage. Wir hatten stets gegensätzliche Ansichten über unser Verhältnis zur revolutionären Arbeit und den Sinn unserer Verbindung.

Anna Nikolajewna beschritt unter dem Banner von Pflicht und Opfer den Weg in die Revolution, ich marschierte unter dem Banner meines freien Willens. Der großen Bewegung des Proletariats hatte sie sich als Moralistin angeschlossen, die in der höheren Sittlichkeit der Arbeiterklasse ihre Befriedigung findet, ich hingegen als Amoralist, der einfach das Leben liebt. Dieses Leben sollte erblühen, und deshalb hatte ich mich in den Zug eingereiht, der sich auf der Hauptstraße der Geschichte bewegte und dieses Erblühen des Lebens verkörperte. Für Anna Nikolajewna war die proletarische Ethik an sich geheiligt, ich hielt sie für eine nützliche Richtschnur, der Arbeiterklasse in ihrem Kampfe unabdingbar, aber vergänglich wie dieser Kampf selbst und die Lebensordnung, die sie hervorgebracht hatte. Nach Anna Nikolajewnas Meinung sollte in der sozialistischen Gesellschaft die Klassenmoral des Proletariats in eine allgemein verbindliche Moral umgewandelt werden, während ich meinte, das Proletariat würde schon jetzt mit der Abschaffung jedweder Moral beginnen und das soziale Empfinden, das die Menschen bei der Arbeit wie bei Freude und Leid zu Genossen werden lässt, könne sich erst dann frei entwickeln, wenn es die fetischistische Hülle der Sittlichkeit ablege. Aus diesen unterschiedlichen Ansichten erwuchsen nicht selten widersprüchliche Bewertungen von politischen und sozialen Tatsachen. Diese Widersprüche waren offensichtlich nicht miteinander zu versöhnen.

Noch schärfer klafften die Ansichten über unsere privaten Beziehungen auseinander. Anna Nikolajewna meinte, die Liebe verpflichte zu Zugeständnissen, zu Opfern und vor allem zur Treue, solange die Ehe währe. Ich dachte wahrhaftig nicht daran, neue Bindungen einzugehen, dennoch konnte ich die Verpflichtung zur Treue nicht gelten lassen, eben weil es eine Verpflichtung war. Ich hielt sogar die Polygamie für prinzipiell höher stehend als die Monogamie, weil sie dem Menschen einen größeren Reichtum persönlichen Lebens und größere Vielfalt bei der Vererbung von Anlagen zu geben vermag. Meiner Ansicht nach machen nur die Widersprüche der bürgerlichen Ordnung die Polygamie in unserer Zeit teils unrealisierbar und teils zu einem Privileg von Ausbeutern und Parasiten, die mit ihrer dekadenten Geistesart alles besudeln; die Zukunft müsste auch hier eine tiefe Umwandlung bringen. Anna Nikolajewna war über solche Worte empört; sie sah darin einen Versuch, ein grob sinnliches Verhältnis zum Leben in ein ideologisches Gewand zu kleiden. Trotzdem habe ich die unausbleibliche Trennung nicht vorhergesehen und gespürt. Äußere Ereignisse beschleunigten die Auflösung unserer Verbindung.

Zu jener Zeit kam ein junger Mann in die Hauptstadt, der den ungewöhnlichen Decknamen Menni trug. Er brachte aus dem Süden Nachrichten und Aufträge, an denen zu erkennen war, dass er das volle Vertrauen der Genossen besaß. Nachdem er seine Mission erfüllt hatte, blieb er noch einige Zeit in der Hauptstadt und besuchte uns zuweilen, wobei er die lebhafte Neigung äußerte, mit mir näher bekannt zu werden.

Menni war in vielem ein origineller Mann, angefangen bei seinem Äußeren. Eine dunkle Brille maskierte seine Augen so, dass ich nicht einmal ihre Farbe kannte. Sein Kopf war unproportional groß; seine Gesichtszüge, ebenmäßig, aber erstaunlich starr, wollten durchaus nicht zu der sanften und ausdrucksvollen Stimme passen, und ebenso wenig zu seiner harmonischen, jünglingshaft federnden Gestalt. Er sprach zwanglos und flüssig, seine Rede war stets gehaltvoll. Mennis wissenschaftliche Bildung kam mir sehr einseitig vor; offensichtlich hatte er ein Ingenieurstudium absolviert.

Im Gespräch neigte Menni dazu, spezielle und praktische Fragen auf allgemeine Ideen zurückzuführen. Wenn er bei uns weilte, traten die Gegensätze zwischen mir und Anna Nikolajewna sehr bald so deutlich und klar hervor, dass wir qualvoll die Aussichtslosigkeit unserer Verbindung empfanden. Mennis Ansichten ähnelten offensichtlich den meinigen, er äußerte sich zwar sehr behutsam und vorsichtig in der Form, aber scharf und entschieden dem Inhalt nach. Die politischen Differenzen zwischen Anna Nikolajewna und mir wusste er so kunstvoll mit grundlegenden Unterschieden in unserer Weltanschauung zu verknüpfen, dass diese Unterschiede als psychologisch unausweichliche, fast logische Schlüsse daraus erschienen, und es schwand jegliche Hoffnung, aufeinander einzuwirken, die Gegensätze zu ebnen, eine übereinkunft zu erzielen. Anna Nikolajewna empfand Menni gegenüber beinahe Hass, verbunden mit lebhaftem Interesse. Mir flößte er große Achtung und undeutliches Misstrauen ein: Ich spürte, dass er einen Zweck verfolgte, wusste jedoch nicht, welchen.

An einem Januartag — es war schon Ende des Monats — sollte in den Leitungen beider Parteiflügel über eine geplante Massendemonstration beraten werden, bei der es zu bewaffneten Zusammenstößen kommen konnte. Am Abend zuvor erschien Menni bei uns und fragte, ob die leitenden Funktionäre der Partei an dieser Demonstration teilnehmen würden. Der Streit, der zwischen uns entbrannte, wurde bald heftig.

Anna Nikolajewna erklärte, dass jeder, der für die Demonstration stimme, moralisch verpflichtet sei, in den ersten Reihen zu marschieren. Ich hielt das durchaus nicht für verbindlich, teilnehmen sollten vielmehr diejenigen, die dort vonnöten wären und wirklich nützlich sein könnten, wobei ich mich im Sinn hatte, da ich bereits einige diesbezügliche Erfahrungen besaß. Menni ging noch weiter und behauptete, bei dem offenbar unvermeidlichen Zusammenstoß mit dem Militär müssten sich die Straßenagitatoren und Kampf Organisatoren auf dem Handlungsfeld befinden, dagegen hätten die politischen Leiter dort nichts zu suchen und nervöse oder körperlich schwache Menschen könnten der Sache sogar schaden. Anna Nikolajewna war wegen dieser Erwägungen, die sie als Affront gegen sich auffasste, geradezu beleidigt. Sie brach die Unterhaltung ab und begab sich in ihr Zimmer. Bald verabschiedete sich auch Menni.

Tags darauf musste ich früh aufstehen. Ich ging fort, ohne Anna Nikolajewna gesehen zu haben, und kam erst abends heim. Der Plan zu der Demonstration war verworfen worden, sowohl von unserem Komitee wie von der Leitung des anderen Flügels. Ich war es zufrieden, weil ich wusste, wie unzureichend vorbereitet wir für einen bewaffneten Konflikt waren; bei einem solchen Zusammenstoß hätten wir nur fruchtlos unsere Kräfte vergeudet. In der Hoffnung, der Beschluss würde Anna Nikolajewna besänftigen, betrat ich das Zimmer. Auf dem Tisch fand ich einen Zettel.

»Ich fahre fort. Je mehr ich über uns nachdenke, um so klarer wird mir, dass wir auf verschiedenen Wegen gehen und dass wir uns beide geirrt haben. Es ist besser, wenn wir uns nicht wieder sehen. Verzeih mir.«

 

Ich irrte lange durch die Straßen, im Kopf ein Gefühl der Leere, das Herz verkrampft. Als ich heimkam, fand ich einen unvermuteten Gast vor. An meinem Tisch saß Menni und schrieb.

2. Die Einladung

»Ich muss wegen einer sehr ernsten und etwas eigenartigen Angelegenheit mit Ihnen reden«, sagte Menni.

Mir war alles gleichgültig; ich setzte mich und hörte ihm zu.

»Ich habe Ihre Arbeit über Elektronen und Materie gelesen«, begann er. »Auf diesem Gebiet habe ich selbst mehrere Jahre geforscht, und ich glaube, Ihre Arbeit enthält viele richtige Gedanken.«

Ich verneigte mich schweigend.

»In Ihrer Arbeit findet sich eine besonders interessante Bemerkung. Sie äußern, dass die elektrische Theorie der Materie, die die Gravitation als von elektrischen Kräften abhängige Anziehung und Abstoßung erklärt, notwendigerweise zur Entdeckung einer Gravitation mit umgekehrtem Vorzeichen führen müsse, das heißt zu einer Materie, die von der Erde, der Sonne und den anderen Himmelskörpern abgestoßen, aber nicht angezogen wird. Zum Vergleich verweisen Sie auf die diamagnetischen Eigenschaften von Körpern und auf die Abstoßung von unterschiedlich gepoltem Gleichstrom. Das alles wird beiläufig gesagt, aber ich glaube, dass Sie das für wichtiger halten, als Sie zeigen wollen.«

»Sie haben Recht«, antwortete ich, »und ich meine, die Menschheit wird auf diesem Wege die Aufgabe lösen, sich völlig frei in der Luft zu bewegen und dann zu anderen Planeten zu fliegen. Mag diese Idee nun richtig sein oder nicht, sie ist völlig fruchtlos, solange es keine genaue Erklärung der Materie und der Gravitation gibt. Wenn ein anderer Materietyp existieren sollte, so ist er offensichtlich nicht zu finden: Durch die Repulsionskraft ist er längst aus dem gesamten Sonnensystem vertrieben worden, oder noch genauer — er gelangte gar nicht erst in dieses System, als es sich in Form eines Nebels zu bilden begann. Das bedeutet, dass man diese Materie erst theoretisch konstruieren und dann praktisch herstellen muss. Vorläufig besitzen wir keine Voraussetzungen dazu und können die Aufgabe lediglich erahnen.«

»Diese Aufgabe ist bereits gelöst«, sagte Menni.

Ich sah ihn verblüfft an. Sein Gesicht war wie immer ausdruckslos, aber seine Stimme klang so sicher, dass ich ihn nicht für einen Scharlatan halten konnte.

Vielleicht ist er geisteskrank, ging es mir durch den Kopf. »Ich weiß sehr wohl, was ich sage. Warum sollte ich Ihnen etwas vorgaukeln?« antwortete er auf meine Gedanken. »Hören Sie mich geduldig an, danach lege ich Ihnen Beweise vor, wenn Sie es für nötig erachten sollten.« Und er fuhr fort:

»Die große Entdeckung, von der die Rede ist, wurde nicht von einem einzelnen gemacht. Sie ist das Werk einer wissenschaftlichen Gesellschaft, die schon ziemlich lange besteht und viele Jahre auf diesem Felde geforscht hat. Es ist eine Geheimgesellschaft, und ich bin nicht bevollmächtigt, Sie näher mit ihrer Entstehung und Geschichte vertraut zu machen, solange wir nicht in der Hauptsache übereingekommen sind.

Unsere Gesellschaft ist der akademischen Welt in vielen wichtigen Fragen der Wissenschaft weit voraus. Radioaktive Elemente und ihr Zerfall waren uns weitaus früher bekannt als Curie und Ramsay, und unsere Wissenschaftler haben viel früher und gründlicher den Aufbau der Materie analysiert als die bedeutendsten Forscher der neuesten Zeit. So gelangten sie zu der Erkenntnis, dass Elemente existieren, die von irdischen Körpern abgestoßen werden, und dann wurde diese >Minus-Materie<, wie wir sie kurz bezeichnen, synthetisiert.

Nun war es ein leichtes, diese Entdeckung technisch zu nutzen — anfangs wurden Flugapparate zur Bewegung in der irdischen Atmosphäre gebaut, dann Sternschiffe für den Flug zu anderen Planeten.«

»Und all das konnten Sie geheim halten?« unterbrach ich ihn. »Ja, weil wir das in höchstem Maße für wichtig halten. Es wäre gefährlich, unsere wissenschaftlichen Entdeckungen zu veröffentlichen, solange in den meisten Ländern reaktionäre Regierungen an der Macht sind. Sie, ein russischer Revolutionär, müssten uns mehr als jeder andere darin beipflichten. Sie sehen ja, wie Ihr asiatischer Staat europäische Technik dazu benutzt, alles, was bei Ihnen lebendig und fortschrittlich ist, zu unterdrücken und auszumerzen. Und die Regierung des halb feudalen, halb konstitutionellen Landes, auf dessen Thron ein militaristisch-geschwätziger Dummkopf sitzt, der von adligen Spitzbuben gelenkt wird? Ist sie etwa viel besser? Was taugen selbst die beiden bürgerlichen Republiken Europas? Würden unsere Flugmaschinen bekannt, setzten diese Regierungen alles daran, sie in ihre Gewalt zu bekommen, das Monopol darüber zu erhalten und die Apparate für ihre Zwecke zu nutzen. Unsere Erfindungen würden nur dazu dienen, die Macht der oberen Klassen zu stärken. Das wollen wir keineswegs, deshalb behalten wir das Monopol und warten bessere Verhältnisse ab.«

»Ist es Ihnen tatsächlich schon gelungen, andere Planeten zu erreichen?« fragte ich.

»Ja, die beiden erdnächsten Planeten, die Venus und den Mars, den toten Mond nicht gerechnet. Augenblicklich sind wir dabei, diese Planeten gründlich zu erkunden. Wir haben alle notwendigen Mittel, brauchen jedoch beherzte und zuverlässige Helfer. Mit Vollmacht meiner Kameraden trage ich Ihnen an, in unsere Reihen zu treten — natürlich mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten.«

Er verstummte und wartete auf meine Antwort. Ich wusste nicht, was ich von alledem halten sollte.

»Beweise!« rief ich. »Sie haben versprochen, Beweise vorzulegen.«

Menni zeigte mir ein gläsernes Flakon mit einer metallischen Flüssigkeit, die ich für Quecksilber hielt. Seltsamerweise befand sich die Flüssigkeit, die lediglich ein Drittel des Flakons ausfüllte, nicht auf dem Boden, sondern im oberen Teil unter dem Korken. Als Menni das Flakon umdrehte, schwebte die Flüssigkeit zum Boden hinauf. Menni ließ das Flakon los, und es hing in der Luft. Das war zwar unerklärlich, aber unbestreitbar.

»Dieses Flakon ist aus gewöhnlichem Glas«, erklärte Menni, »während die Flüssigkeit aus einer Materie besteht, die von den Körpern des Sonnensystems abgestoßen wird. Man hat gerade soviel Flüssigkeit hineingegossen, um das Gewicht der Flasche auszugleichen, also wiegen sie zusammen nichts. Auf diese Weise bauen wir auch alle Flugapparate. Sie werden aus gewöhnlichem Material hergestellt, enthalten aber ein Reservoir, das mit einer ausreichenden Menge Minus-Materie gefüllt ist. Dann braucht man diesem gewichtlosen System nur noch die ausreichende Geschwindigkeit zu verleihen. Für irdische Flugmaschinen verwenden wir einfache Elektromotoren mit Luftschraube, für den Flug zu den Planeten eignet sich diese Methode natürlich nicht, da bedienen wir uns eines völlig anderen Verfahrens, mit dem ich Sie demnächst näher bekannt machen werde.«

Es gab keine Zweifel mehr.

»Welchen Beschränkungen unterliegt ein neues Mitglied Ihrer Gesellschaft, abgesehen von der Schweigepflicht?«

»Eigentlich fast gar keinen. Weder das Privatleben noch die berufliche und öffentliche Tätigkeit unserer Kameraden sind irgendwie eingeschränkt, sie dürfen nur den Interessen unserer Gesellschaft nicht zuwiderlaufen. Aber jeder muss bei seinem Eintritt einen wichtigen und verantwortungsvollen Auftrag erfüllen. Auf diese Weise wird das neue Mitglied besser in unsere Gesellschaft eingegliedert, zudem zeigt sich

dabei das Ausmaß seiner Fähigkeiten und seiner Energie.«

»Auch ich bekomme also jetzt einen solchen Auftrag?«

»Ja.«

»Und wie lautet er?«

»Morgen fliegt ein großes Sternschiff zum Mars. Sie müssen an der Expedition teilnehmen.«

»Wie lange wird diese Expedition dauern?«

»Das ist unbekannt. Allein der Hin- und Rückflug erfordern mindestens fünf Monate. Vielleicht kehren wir auch gar nicht zurück.«

»Das verstehe ich, und darum geht es nicht. Aber was wird aus meiner revolutionären Tätigkeit? Sie selbst sind anscheinend Sozialdemokrat und werden deshalb meine schwierige Lage begreifen.«

»Wählen Sie! Wir halten eine Unterbrechung Ihrer Tätigkeit für unumgänglich, wenn Sie unsere Aufgabe erfüllen wollen. Der Auftrag kann nicht verschoben werden. Lehnen Sie ihn ab, verzichten Sie auf alles.«

Ich überlegte. Da unsere Bewegung immer stärker wurde, war es völlig unerheblich, wenn ein Revolutionär fehlte. Zudem war es ein zeitweiliges Aussetzen. Später, mit meinen neuen Verbindungen, Kenntnissen und Mitteln, würde ich der Bewegung weitaus mehr nützen können als jetzt. Ich entschloss mich.

»Wann soll ich aufbrechen?«

»Sofort, mit mir.«

»Geben Sie mir zwei Stunden Zeit, um die Genossen zu benachrichtigen! Ich brauche morgen im Kreis einen Vertreter.«

»Dafür ist schon gesorgt. Heute ist Andrej angekommen, der aus dem Süden geflüchtet ist. Ich habe ihn informiert, dass Sie die Stadt verlassen würden, und er ist bereit, Ihren Platz einzunehmen. Während ich auf Sie wartete, habe ich ihm für alle Fälle einen

Brief mit genauen Anweisungen geschrieben. Diesen Brief können wir unterwegs abgeben.«

Mehr war nicht zu besprechen. Ich vernichtete schnell überflüssige Papiere, schrieb meiner Wirtin einen Zettel und kleidete mich an. Menni war schon fertig.

»Also gehen wir. Von nun an bin ich Ihr Gefangener.«

»Sie sind mein Kamerad«, entgegnete Menni.

3. Die Nacht

Mennis Wohnung nahm die gesamte vierte Etage eines großen Hauses ein, das sich von den Häuschen am Stadtrand' abhob. Niemand empfing uns. Die Zimmer, durch die wir schritten, waren leer, und beim hellen Licht der elektrischen Lampen wirkte diese Leere besonders unheimlich und unnatürlich. Im dritten Zimmer blieb Menni stehen und zeigte auf eine Tür.

»Dort befindet sich die Fluggondel, mit der wir gleich zum Sternschiff fliegen werden. Vorher muss ich mich jedoch ein wenig verwandeln. In dieser Maske könnte ich schwerlich die Gondel lenken.«

Er knöpfte den Kragen auf und zog eine kunstvoll gefertigte Maske von seinem Kopf, die wir alle bisher für sein Gesicht gehalten hatten. Ich war verblüfft von dem Anblick, der sich mir bot. Mennis Augen waren zwei glotzende Kugeln, weit größer als bei einem Menschen mit fortgeschrittener Basedowscher Krankheit. Sogar im Vergleich zu dieser unnatürlichen Augengröße waren die Pupillen erweitert, was beinahe furchterregend aussah. Der obere Teil des Gesichts und des Kopfes waren so breit, wie es für solche Augen notwendig war, dagegen war die untere Gesichtshälfte, übrigens ohne den Anflug eines Bartes, vergleichsweise schmal. Alles zusammen machte den Eindruck äußerster Originalität, der Kopf war zwar missgestalt, wirkte aber nicht wie eine Karikatur.

»Sie sehen, mit was für einem Äußeren mich die Natur bedacht hat«, sagte Menni. »Und Sie werden verstehen, dass ich mein Gesicht verbergen muss, schon um die Leute nicht zu erschrecken, von den Erfordernissen der Konspiration gar nicht zu reden. Aber Sie werden sich an meine Hässlichkeit gewöhnen müssen, denn Sie werden viel Zeit mit mir verbringen.« Er öffnete die Tür zum nächsten Zimmer und schaltete das Licht ein. Es war ein großer Saal. In seiner Mitte lag ein kleines, recht breites Boot. Seitenwände und Boden waren gläsern und hatten stählerne Einfassungen, das durchsichtige Glas von zwei Zentimeter Dicke war offenbar sehr stabil. über dem Bug sollten zwei flache Kristallplatten, die im spitzen Winkel zueinander standen, die Luft durchschneiden und die Passagiere beim schnellen Flug vor dem Wind schützen. Der Motor nahm den mittleren Teil des Bootes ein, die Luftschraube mit drei Flügelblättern von einem halben Meter Länge befand sich am Heck. Vorn war das Boot mit einem dünnen transparenten Schutzdach bedeckt, das mit leichten Stahlstiften an den Metalleinfassungen der Seitenwände befestigt war. Bei näherem Betrachten wirkte diese Fluggondel geschmackvoll wie ein großes Spielzeug.

Menni befahl mir, auf einer Seitenbank Platz zu nehmen, bevor er das elektrische Licht löschte und das riesige Fenster öffnete. Er selbst setzte sich vorn vor den Motor und warf einige Säcke Ballast hinaus, die auf dem Boden lagen. Dann drückte er auf einen Hebel. Die Gondel schwankte, erhob sich langsam und glitt durch das geöffnete Fenster hinaus.

»Dank der Minus-Materie brauchen wir für unsere Flugapparate keine zerbrechlichen plumpen Flügel«, bemerkte Menni.

Ich saß wie angeschmiedet auf der Bank und wagte nicht, mich zu bewegen. Das Rauschen der Schraube wurde immer vernehmlicher, kalte Winterluft gelangte unter das Schutzdach und erfrischte mein glühendes Gesicht, drang jedoch nicht unter meine warme Kleidung. über uns blinkten Tausende von Sternen, sie zogen dahin, während unten .. . Ich sah durch den durchsichtigen Boden der Gondel, wie die schwarzen Flecke der Häuser kleiner wurden und die hellen Pünktchen der elektrischen Straßenlaternen flimmerten. Die Hauptstadt entschwand den Blicken, tief unten schimmerten verschneite Ebenen in trübem bläulichem Licht. Das leichte Schwindelgefühl, das ich erst kaum spürte, wurde immer stärker, und ich schloss die Augen, um mich davon zu befreien.

 

Die Luft wurde immer dünner, das Rauschen der Schraube und das Pfeifen des Luftzuges klangen immer höher — offenbar flogen wir schneller. Bald unterschied mein Ohr unter all den Lauten einen feinen, sehr gleichmäßigen silbrigen Ton — die gläserne Bugwand der Gondel vibrierte, während sie die Luft durchschnitt. Wunderbare Musik erfüllte mein Inneres, meine Gedanken entglitten mir, ich empfand nur eine elementar-leichte und freie Bewegung, die mich vorwärts trug, vorwärts in den endlosen Raum.

»Vier Kilometer pro Minute«, sagte Menni.

Ich öffnete die Augen und fragte: »Ist es noch weit?«

»Ungefähr eine Stunde. Wir landen auf einem vereisten See.«

Wir befanden uns in einer Höhe von mehreren hundert Metern, die Gondel flog waagerecht, ohne zu sinken oder zu steigen. Meine Augen gewöhnten sich an die Finsternis, und ich konnte alles deutlich erkennen. Unter uns breitete sich eine Gegend mit Seen und Granitfelsen aus. Die Felsen hoben sich an einigen Stellen schwarz vom Schnee ab. Zwischen ihnen klebten kleine Dörfer.

Linkerhand blieb das Schneefeld eines vereisten Meerbusens hinter uns zurück, rechterhand lagen die weißen Ebenen eines riesigen Sees. In dieser leblosen Winterlandschaft sollte meine Verbindung zur alten Erde zerreißen. Und auf einmal spürte ich — kein Zweifel, nein, es war die echte Gewissheit —, dass das ein Abschied für immer sein würde.

Die Gondel sank langsam zwischen Felsen nieder und schwebte in die kleine Bucht eines Gebirgssees. Ein dunkles Gebilde erhob sich aus dem Schnee. Weder Fenster noch Türen waren zu sehen. Eine Metallwand wurde langsam beiseitegeschoben und gab eine dunkle Öffnung frei, in die unsere Gondel hineinflog. Danach schloss sich die Wand wieder. Der Raum, in dem wir uns befanden, erstrahlte in elektrischem Licht. Es war ein großer, länglicher Saal ohne Möbel, auf dem Boden lagen lediglich Ballastsäcke.

Menni befestigte die Gondel an speziell dafür bestimmten Pfosten und öffnete eine Seitentür. Wir betraten einen schwach beleuchteten Gang mit einer Reihe von Türen. Ich wurde in ein Zimmer geführt.

»Das ist Ihre Kajüte«, sagte Menni. »Machen Sie es sich bequem, ich muss in den Maschinenraum. Wir sehen uns morgen früh.«

Ich war froh, allein zu sein. Trotz der Erregung infolge der merkwürdigen Erlebnisse des Abends war ich ermattet. Ich rührte das Abendessen auf dem Tisch nicht an, sondern löschte gleich die Lampe und legte mich ins Bett. Verworrene Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Ich mühte mich krampfhaft einzuschlafen, doch es gelang mir lange nicht. Schließlich wurde mein Bewusstsein trübe, flüchtige Bilder drängten sich mir vor die Augen, die Umgebung entschwand, und schwere Träume bemächtigten sich meines Hirns. Die Kette der Träume endete mit einem Alptraum. Ich stand an einem schwarzen Abgrund, auf dessen Boden Sterne glänzten, und Menni wollte mich hinunterstoßen. Er sagte, ich brauche die Schwerkraft nicht zu fürchten, nach einigen hunderttausend Jahren Fall würden wir zum nächsten Stern gelangen. Ich stemmte mich gegen ihn, stöhnte in qualvollem Ringen auf und erwachte.

Zartes blaues Licht füllte mein Zimmer. Menni saß auf dem Bett und neigte sich zu mir. Menni? Ja, er, aber gespenstisch-seltsam und irgendwie anders. Er schien kleiner geworden zu sein, seine Augen traten nicht so stark hervor, er lächelte gütig und hatte nicht den kalten und unerschütterlichen Gesichtsausdruck wie eben im Traum.

»Wie gut Sie aussehen«, sagte ich benommen.

Er legte seine Hand auf meine Stirn. Es war eine kleine, zarte Hand. Ich schloss wieder die Augen, und mit dem absurden Gedanken, dass ich diese Hand küssen müsste, sank ich in einen ruhigen, tiefen Schlaf.