Buch lesen: «Liturgie und Poesie»
Alex Stock
Liturgie und Poesie
Alex Stock
Liturgie und Poesie
Zur Sprache des Gottesdienstes
Butzon & Bercker
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ISBN 978-3-7666-1357-8
E-BOOK ISBN 978-3-7666-4121-2
EPUB ISBN 978-3-7666-4122-9
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Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern
Satz: Schröder Media GbR, Dernbach
Druck: Bercker Graphischer Betrieb, Kevelaer
Inhalt
Vorwort
A. Dichten und Denken
I. Weltliche Poesie und theologische Poetik
II. Gutes denken, tun und dichten
III. Im sozialen Wandel
IV. Gedämpfte Erinnerung
V. Schule der Poesie
VI. Atem der Texte
VII. O-Antiphonen
VIII. Am Grab
B. Römische Tradition
I. Rechte Attacke Mosebach anhören?
II. Wunde Punkte
III. Römische Orationen
IV. Inter mundanas varietates
V. Unde et memores Über die Idee des Eingedenkens
VI. Gabenbereitung Zur Logik des Opfers
VII. Engelbrot Zu einer alttestamentlichen Figur
VIII. Dies irae
Nachwort
Anmerkungen
Nachweise
Vorwort
„In Wirklichkeit, und dem entgegen, was viele heutigen Tages verkündigen, sind die Werke der Vergangenheit, die unsere Kultur ausmachen, nur in dem Maße vorhanden und mächtig, als sie, statt zu überschatten, uns erleuchten, statt eine Last zu sein, uns beflügeln.“1
Christliche Gebete und Lieder in deutscher Sprache gibt es seit über tausend Jahren. Vor einem halben Jahrtausend ungefähr wurde die deutsche Sprache hierzulande für den reformatorischen Flügel der Christenheit zur Grundsprache der Liturgie. Das brachte eine ungeheure Spracharbeit mit sich, das Übersetzen der Bibel, aber auch lateinischer Hymnen und Gebete, und einen Schub der Neudichtung von Liedern. Martin Luther war der führende Reformator nicht zuletzt als sprachbegabter Initiator eines Gottesdienstes in deutscher Sprache.
Die revolutionäre Entscheidung des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Landesprache nicht nur neben, sondern auch statt des alten Lateins im offiziellen Gottesdienst zu gebrauchen, bescherte den katholischen Ortskirchen von oben her, was sich die Reformation von unten her genommen hatte. Ähnliche Aufgaben wie zu Beginn des 16. Jh. standen um die Mitte des 20. Jh. unvermutet auf der kirchlichen Tagesordnung: das Übersetzen der Bibel, die deutsche Fassung von Missale, Rituale und Stundengebet, ein neues Gebet- und Gesangbuch. Unter dem amtlichen Druck, die liturgische Reform möglichst bald aus dem Stadium der offenen Experimente wieder in den Ruhezustand allgemein verbindlicher Textbücher zu überführen, wurde von vielen vieles schnell gemacht. Ein Sprachgenie von Luthers Format war dem deutschen Katholizismus nicht beschieden. Das Kirchenmanagement übernahm, dem Verfahrensmodell des gerade stattgehabten Konzils folgend, in einer Vielzahl von Kommissionen die Überführung des alten Liturgie- und Andachtswesens in den geforderten neuen Sprachzustand. Auf die ausführenden Organe vor Ort kamen sprachliche Gestaltungsaufgaben zu, die sie nach den verfügbaren Kräften nutzten.
Dass die Veränderungen in mancherlei Hinsicht über das hinausgegangen sind, was sich die Väter der Liturgiereform vorgestellt haben, ist schwer zu übersehen. Das hat wiederum die Reaktion auf den Plan gebracht, die das ganze Unternehmen als Verfallsgeschichte stigmatisiert und am liebsten zur tridentinischen Messe und altem Latein zurückkehren möchte, wofür sogar an allerhöchster Stelle einiges Verständnis aufgekommen ist. Der pastoral besonnene Hauptstrom wird sich in dieses Bett kaum leiten lassen, aber an einer Reform der Reform, etwa in Form neuer Übersetzungen lateinischer Texte oder eines neuen Gesangbuchs, arbeitet man auch hier. Solche Entwicklungen haben ihre eigenen Gesetze und im konservativ-progressiven Buschkrieg hat Nachdenklichkeit keinen leichten Stand. Theologische Kritik, Kritik verstanden als Unterscheidungskunst, kann sich nur aus dem ihr eigenen geschichtlichem Gedächtnis heraus um Aufklärungen bemühen, um das freibleibende Angebot von Gesichtspunkten und Argumenten.
Die im Folgenden zusammengetragenen Beiträge sind keine Bilanz nachkonziliärer Liturgieentwicklungen und schon gar nicht eine Abrechnung damit. Es sind Marginalien; sie stehen mit dem, der sie geschrieben hat, am Rand. Sie kommen nicht aus einer amtlichen Zuständigkeit oder gar kirchlichen Autorisierung, auch nicht aus liturgiewissenschaftlicher Professionalität. Es sind Überlegungen, aus Passion für die Sprache und an ihr geschrieben, der Sprache als hohem Gut der Religion.
Die Beiträge sind anlassbedingt im Laufe der Jahre entstanden, aber sie sind so bearbeitet und angeordnet, dass ein Gedankengang durch alle hindurch möglich ist. Der erste Teil befasst sich unter dem Titel „Dichten und Denken“ mit Sprachentwicklungen auf dem Feld der deutschsprachigen Liturgie, vor allem im Bereich des Kirchenlieds.2 In sprachlichen Mutationen stecken theologische und theologische drängen zu sprachlichen. Diese Verflechtung von Dichten und Denken ist genau und im Einzelnen zu bedenken, wenn die Religion Schönheit mit Vernunft bewahren will. Der zweite Teil des Buches reflektiert unter der Überschrift „Römische Tradition“ Umbrüche im Übergang von der lateinischen in die landessprachliche Verfassung der Liturgie. Das geschieht nicht in restaurativer, wohl aber in rettender Absicht.
Alex Stock
A. Dichten und Denken
I. Weltliche Poesie und theologische Poetik
Unter dem Titel „Reiz der Wörter“ erschien im Jahre 1978 eine Anthologie von kurzen Texten, Antworten von Autoren auf eine Frage, die der Reclam-Verlag zu seinem 150-jährigen Bestehen gestellt hatte: „Wir fragen nach einem Gedanken, einer Devise oder einem Satz aus der Literatur, der haften geblieben ist, auch einer Gedichtstrophe oder einfach einem Stück Sprache.“3 In dem Beitrag des 1909 geborenen Schriftstellers Ernst Johann fand ich die folgenden Sätze: „Dem Reiz der Wörter nachzugehen, heißt für einen, der ihm für immer verfallen bleiben sollte, dem Reiz der Erinnerung nachzugehen. Schulpflicht hieß damals zugleich auch Kirchenpflicht. Eingezwängt auf der Knabenseite, ohne den Blick auf den Hochaltar, bei einer feiertäglichen Andacht mit Segen hört der zum ersten Mal das Te Deum singen, das Lied „Großer Gott, wir loben dich“, angestimmt vom Pfarrer, eingestimmt von der Gemeinde und nicht von der Orgel begleitet, sondern allein von den silbernen Glöckchen der Messdiener. Die Stelle ,Alle Engel, die dir dienen …‘ wurde von der Gemeinde so hinausgezogen, dass statt der drei aufeinander folgenden i-Wörter ,die dir dienen‘ vier i-Wörter wurden: ,die-i dir dienen‘, eine Neu-Artigkeit, die den Siebenjährigen berauschte. Er wiederholte sie, wann immer und wo immer vor sich hinsummend: ,Alle Engel, die-i dir dienen‘. Den nächsten Wörter-Reiz übten Litanei und Rosenkranz aus, die gewöhnlichen Wechselgebete der gewöhnlichen Andachten. Im Mai die Lauretanische Litanei (zur allerseligsten Jungfrau) mit ihren immer neuen und, wie es schien, unerschöpflichen Anrufungswörtern: du Siegel der Gerechtigkeit, du Sitz der Weisheit, du Ursache unserer Freude, du geistliches Gefäß, du ehrwürdiges Gefäß, du vortreffliches Gefäß der Andacht, du geistliche Rose, du Turm Davids, du elfenbeinerner Turm, du goldenes Haus, du Arche des Bundes, du Pforte des Himmels, du Morgenstern … Und im Oktober die Rosenkranz-Andachten mit dem freudenreichen, dem schmerzhaften und dem glorreichen Rosenkranz … Wörter, kostbar in ihrer Erlesenheit, ausgedrückt vom einfachen (und einfach betörenden) Rhythmus der Wechselgebete, in die Gefühlswallungen von Himmelserwartungen gebettet, sollte man ihren Reiz nicht hier und endlich Poesie nennen?“4
Ernst Johann ist eine Generation älter als ich, aber ich teile mit ihm solche Erinnerung. Liturgie, Messe, Andachten, Prozessionen, lateinisch und deutsch, in der Vielfalt der Textsorten und Sprechweisen und Singweisen, eingebettet in die Atmosphäre des Kirchenraums und der wechselnden Zeiten des Tages und des Kirchenjahres – das war auch für mich in dem westfälischen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, der Mutterboden der Poesie. Nicht allein, die Volks- und Jugendlieder kamen hinzu und natürlich die einsame Lektüre unter der Lampe. Aber die Liturgie war doch jener poetische Raum, in dem kulturelle Weite und persönliche Betroffenheit aufs Engste sich verbanden. Diese Erfahrung teile ich mit dem 1909 geborenen Schriftsteller Ernst Johann. Wie weit die noch einmal eine Generation später Geborenen an alldem noch teilnehmen können, ist schwer zu sagen.
Aber, dies ist jetzt nicht die erste Strophe des Liedes „Wie schön der Weihrauch damals roch.“ Ich greife nicht zur Panflöte der Nostalgie, wollte vielmehr nur zu Beginn kenntlich machen, woher das kommt, was ich vorlegen möchte, was sein lebensgeschichtlicher Grund ist und folglich auch seine perspektivische Grenze.
„Das meiste vermag die Geburt“, heißt es bei Hölderlin, aber lebensentscheidend ist dann, was wir aus dem machen, was uns mitgegeben ist. So steht es in den letzten Sätzen von E. Blochs monumentalem Werk „Prinzip Hoffnung“: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch (…) so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin doch niemand war: Heimat.“5 Da ist vom schaffenden, schöpferischen Menschen die Rede, eben von dem, was im Griechischen poiein und poiesis heißt, etwas ins Werk setzen, aus Gegebenem, Vorgegebenem, Überkommenen, Überlieferten etwas Neues hervorbringen, aber nicht im Sinne eines blinden Fortschritts, sondern aus dem verborgenen Antrieb, als Erwachsener irgendwie einzuholen, wovon ein verheißungsvoller Vorschein in die Kindheit gefallen ist.
Das Poetische hat so von vornherein diesen doppelten Sinn, den der Schönheit und den des Werkes. Es weist auf eine Herkunft, aber es meint keine Regression in den schönen einfachen Kinderglauben des katholischen Milieus und schon gar nicht dessen fundamentalistische Restaurierung. Das Poetische ist, wie schon in der Romantik, kein Weg hinter die Aufklärung zurück, sondern über sie hinaus: Der Versuch, Wahrheit und Schönheit, Begriff und Bild, Intellekt und Emotion zusammen zu halten.
Wie zur bildenden Kunst so ist auch das Verhältnis der Theologie zur Poesie, historisch gesehen, zwiespältig, gespalten zwischen humanistisch-neugierigem Interesse für die literarischen Schätze der Welt und moralischer Verachtung für das feinsinnige Allotria christlicher Ästheten. Das offene Interesse wiederum hat sich seit der Spätantike auf zwei Ebenen bewegt. Die erste Interessensrichtung schließt sich an die antike Tradition der theologia poetica (mythica, narrativa) an, dergemäß die ersten Theologen die Dichter waren, Männer wie Hesiod und Orpheus. Christliche Theologen der Spätantike und des Mittelalters haben sich da angeschlossen, indem sie die heidnischen Mythen wie das Alte Testament allegorisch und typologisch lasen auf Christus und die Offenbarung des Neuen Bundes hin, als verborgene (christliche) Theologie, die man durch Interpretation aus ihrer Latenz heben konnte.
Das zweite positive Interesse richtete sich nicht primär auf die potentiellen theologischen Inhalte, sondern auf die der Dichtung eigene sprachliche Kunstfertigkeit. Im propädeutischen Schulprogramm der artes, insbesondere der Grammatik und Rhetorik, las man die Dichter. Man beschäftigte sich mit Poesie in poetischer Absicht, d. h. in der Lernabsicht, selbst in und mit der Sprache etwas machen zu können, inhaltlich durchaus etwas anderes, als es die klassischen Autoren vorgaben. Richtig lesen, reden und schreiben zu können, gut und auch schön, lernte man durch das Studium der Autoren. Poetik zielte hier darauf, aus dem gelungen Gemachten die Regeln der Kunst des Machens zu gewinnen. Diese poetische Position hat die Poesie in der Theologie jedoch nicht auf Dauer halten können. Im Bildungssystem der Hochscholastik stieg die Logik zum ersten Lerngegenstand der artes auf, die „poetica“ wurde zur „infima inter omnes doctrinas“, zur untersten aller Wissenschaften (Thomas v. Aquin, Sth I q 1 a 9). „Die Scholastik ist an der Würdigung der Poesie nicht interessiert. Sie hat keine Poetik und Kunsttheorie produziert“6, resümiert E. R. Curtius. Das gilt auch für die Neuscholastik des 19./20. Jahrhunderts. Und als diese transzendentaltheologisch aufgehoben oder exegetisch überrollt wurde, fand eine theologische Poetik auch keine nennenswerte Wiederbelebung.
Die Theologen, die sich heute mit der mittlerweile weltlich gewordenen Literatur beschäftigen, sind primär Nachfahren der inhaltlich-offenbarungstheologisch interessierten Allegoriker der Antike und des Mittelalters. Weltfreudig-humanistisch sind sie an der in der säkularen Literatur verborgenen Theologie interessiert, an dem, was die Dichter in ihrer anderen Sprache sagen über Gott und Jesus, die biblischen Geschichten, die Kirche und die Moral. Hiob und der Holocaust sind bewegende Anziehungspunkte des Theodizee-Interesses der literarischen Theologen der Gegenwart. Und so, wie die heidnische Literatur der Antike als Präfiguration der christlichen Botschaft gelesen wurde, so wird die aus dem Christentum herausgewachsene weltliche Literatur der Moderne von vielen als „Postfiguration“7 gelesen, wie A. Schöne sagt, oder als „Realisation eines theologischen Gehaltes in der nicht-religiösen weltlichen Konkretion“8, wie es bei Dorothee Sölle heißt. Nicht selten wird dies in einem unmittelbar inhaltlichen Sinne verstanden: Die dichterische Gestalt ist die bildliche Einkleidung von Gedanken. Diese erscheinen als das eigentlich theologisch Interessante, die „Aussagen des Schriftstellers zu …“ und seine darin artikulierte weltanschauliche Position. Es ist wohl der konfessorische, kerygmatische, dogmatische Grundzug theologischer Rede, der dazu führt, die Poesie vor allem daraufhin zu befragen, was der Dichter sagen will und welche Meinung er hierzu und dazu vertritt, um dies dann mit den hauseigenen Aussagen und Meinungen vergleichen und mit diesem Maßstab einordnen zu können.
Man kann versuchen, Dichtung so zu lesen, und je mehr sie selbst Lehr- und Gedankendichtung ist, mag das auch gelingen. Was dabei zwangsläufig in den Hintergrund treten muss, ist die eigentümliche Sprachbewegung der Dichtung selbst. Ihr kommt man nur auf die Spur, wenn man den Lesevorgang selbst, in den wir uns durch die literarischen Texte verstricken lassen, als den Ort begreift, wo Dichtung sich realisiert. Vielleicht hat D. Sölle, die den Begriff der „Realisation“ in die theologische Literaturdiskussion eingebracht hat, dies auch im Sinn gehabt, wenn sie „Realisation“ als „Gewinn an Sprache, an Ausdrucksmöglichkeit, an angeeigneter Welt“9 interpretiert. Es ist sehr wichtig, sich in der Weltliteratur umzusehen, wie die alten Motive und Themen des Christentums jenseits des kirchlich verwalteten Terrains weiterverhandelt werden. Aber erst, wenn durch diese Lektüre den lesenden Theologen selbst etwas geschieht, wenn das Lesen solcher Literatur die Theologie nicht nur ornamental umspielt, sondern in ihre ureigene Schreib- und Redeweise eingreift, wird die Bedeutung der Poesie für die Theologie Ereignis. Der theologisch eigentlich interessante Ort der Poesie, insbesondere der modernen, ist somit das Arbeitsfeld einer theologischen Poetik. Da geht es primär nicht darum, ob man hier oder da einmal ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte „einsetzen“ kann, sondern um sprachliche poiesis im ursprünglichen Sinne des Machens, Herstellens, Anfertigens von Texten und Textkompositionen.
Auf diesem Gebiet ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten atemberaubend viel einfach gemacht worden, in den verordneten Textreformationen der Liturgien, Gesangbücher, Bibelübersetzungen wie in der freihändigen Durchführung und Eigenproduktion vor Ort. Eine von der Poesie, zumal der modernen, belehrte Poetik hat dabei, wie mir scheint, keine bedeutende Rolle gespielt. Ob sie das gekonnt hätte oder in den verbliebenen Spielräumen noch kann, steht freilich dahin. Man kann es nur experimentierend auskundschaften. Nur im Durchgang durch sie selbst kann man schrittweise herausbekommen, was Poesie für die Theologie austragen könnte.
II. Gutes denken, tun und dichten
Der lateinischen Herkunft des Begriffs folgend, könnte man „Qualität“ zunächst im ontologischen Sinne der scholastischen „qualitas“ verstehen, als Beschaffenheit eines bestimmten Seienden, hier also der Eigenart jener bestimmten Textkörper, die man als Kirchengesänge bezeichnet. Im Zuge solchen Verständnisses wäre eine Taxonomie von Textsorten des Kirchengesangs vorzulegen, eine Typologie von Genera litteraria, in denen er sich realisiert. Bei der Bestimmung des Genus litterarium kommen bekanntlich formale und funktionale Komponenten zusammen; analog zu einem in der Kunstgeschichte gebräuchlichen Begriff könnte man von „Funktionsformen“ sprechen. Eine solche Sichtung der hymnodischen Genera et Species ist unverzichtbar, damit man weiß, von welchem literarischen Feld man überhaupt spricht. Aber der Begriff „Qualität“ ist im vorliegenden Zusammenhang nicht vorrangig in diesem ontologischen Sinne von literarischer Beschaffenheit gemeint, sondern im normativen Sinne von Wertigkeit. Es steht weniger die Klassifikation nach generischen Differenzmerkmalen zur Debatte als die Erörterung von Wertmaßstäben und Urteilskriterien. Es geht um eine Kriteriologie, die freilich ohne taxonomische Ordnung im Nebel stochert.
Bewertung setzt eine Situation der Wahl voraus, in der es zugleich möglich und nötig ist, das eine dem anderen vorzuziehen. Im Bereich des Kirchengesangs gibt es zwei exemplarische Wahlsituationen: die zumeist über mehrere Jahre sich erstreckende Makrosituation der Entstehung eines Gesangbuchs und die zumeist im Stundenmaß bleibende Mikrosituation der Entscheidung über die Liedgestaltung eines bestimmten Gottesdienstes. Die Resultate dieser beiden Wahlentscheidungen sind miteinander verschränkt. Die Globalentscheidung des Gesangbuchs befindet darüber, was langfristig als Repertoire dem Gemeindegesang zur Verfügung stehen soll. Die Mikroentscheidungen der Liturgen vor Ort befinden, jedenfalls in der Summe ihrer Bevorzugungen und Vernachlässigungen, darüber, was wirklich unter das Volk kommt und was als hymnodischer Ladenhüter verstaubt. Es wäre eine lohnende Arbeit empirischer Hymnologie, zu ermitteln, welche Gesänge, bezogen auf ein bestimmtes Gesangbuch, realiter in Gebrauch genommen worden sind, in welchem Umfang, zu welchen Anlässen, aus welchen Gründen. Solche von den lokalen Liturgen oder liturgischen Gremien gelenkte hymnologische Volksabstimmung über ein Gesangbuch kann zwar nicht alleiniger Maßstab sein, aber ihre Ergebnisse könnten doch den Realitätssinn von Gesangbuchmachern im Hinblick auf künftige Entscheidungen schärfen, jedenfalls der kriteriologischen Reflexion bodennahe Fakten bieten.
Da mir solche empirischen Untersuchungen aber nicht zur Hand sind, niste ich meine Überlegungen in der Makrosituation der Entstehung eines Gesangbuchs ein und wähle dazu den exemplarischen Fall des ersten katholischen Einheitsgesangbuchs deutscher Zunge, des in den Jahren 1963 bis 1975 entstandenen „Gotteslob“.10 Die verantwortlichen Hersteller dieses Gesangbuchs haben in einem umfänglichen Redaktionsbericht über Entscheidungsprozeduren ihrer zehnjährigen Arbeit Auskunft gegeben.11
Dieses Gesangbuch mitsamt den Informationen über seine Entstehung wirft für den an diesem Prozess nicht beteiligten, aber von seinem Ergebnis betroffenen Theologen eine Fülle von Fragen auf hinsichtlich des Konzepts und Verfahrens dieser einschneidenden Veränderung der Gesangbuchlandschaft des deutschsprachigen Katholizismus. Aber es ist hier nicht der Ort einer kirchen- und theologiegeschichtlichen Gesangbuchanalyse in toto.12 Es geht um etwas Begrenzteres, die Frage der Qualität kirchlicher Gesänge. Auch das ist schon ein weites Feld.
Als beschleunigender Anlass und legislativer Hintergrund des neuen Einheitsgesangbuchs ist die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils anzusehen. In der Liturgiekonstitution des Jahres 1963 und den nachfolgenden Dokumenten zur „Musica sacra“ wird als allen Reformen zugrundeliegender Grundsatz herausgestellt, dass die Musik als „pars integralis“ der Liturgie zu betrachten sei.13 Der Kirchengesang des Chores oder des Volkes soll nicht mehr etwas sein, was die eigentlich allein vom Priester gefeierte Messe als eine Art Parallelaktion begleitet, sondern übernimmt als solcher bestimmte Funktionsstellen der Liturgie. Diese unbestreitbare Aufwertung der liturgischen Rolle der singenden Gemeinde bindet sie jedoch gleichzeitig auch enger an die Vorgegebenheiten der offiziellen Liturgie. Die funktionelle Beförderung bedeutet zugleich eine Einengung des Spielraums. Ein Passus der Instruktion „Musicam Sacram“ von 1967 macht das deutlich: „Aus dem überlieferten Schatz der Kirchenmusik soll zunächst das hervorgeholt werden, was den Bedürfnissen der erneuerten Liturgie entspricht; sodann sollen Fachleute prüfen, ob anderes diesen Bedürfnissen angepasst werden kann; das übrige schließlich, das mit dem Wesen und der angemessenen seelsorglichen Ausrichtung der liturgischen Feier nicht in Einklang gebracht werden kann, soll nach Tunlichkeit in Andachtsübungen, besonders auch in selbständige Wortgottesdienste übernommen werden.“14
Die Übernahme dieser liturgiereformerischen Grundstellung in die Kriteriologie der Gesangbuchherstellung hatte in Interferenz mit einer Reihe anderer Einflüsse der Zeit um 1970 erhebliche Veränderungen im Gefolge. Die vorrangige Orientierung an den messliturgischen Funktionsstellen der Ordinariumsgesänge Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei wie der primär antiphonal-psalmistisch verstandenen Propriumsgesänge hatte im „Gotteslob“ eine, an der älteren katholischen Gesangbuchpraxis gemessen, exorbitante Zunahme von „nichtliedmäßigen Gesängen“, Kehrversen, Psalmen, Akklamationen usw. zur Folge. Der produktive Eifer auf diesem liturgiefunktional neu erschlossenen Feld scheint weniger auf der literarischen als auf der musikalischen Ebene am Werk gewesen und dementsprechend eher einer musikologischen Analyse und Kritik zuzuordnen zu sein.
Die außergewöhnliche Expansion dieser Form des Kirchengesangs gibt jedoch auch zu pastoralliturgischen Rückfragen Anlass, welchen Wert es etwa hat, dass die Gemeinde – allein den Stammteil gerechnet – z. B. das Sanctus in insgesamt 18 Varianten singen kann, fünf lateinisch-gregorianischen, acht deutsch-verbalen und fünf deutsch-paraphrasierenden. Wenn das Evangelische Gesangbuch (EG) mit fünf Sanctus-Gesängen auskommt, dann hat das sicher seinen Grund in dem anderen Rang der Abendmahlsfeier, aber auch die älteren katholischen Diözesangesangbücher waren auf diesem Sektor viel bescheidener. Variatio delectat!? Dass die Variantenbildung auf dem Gebiet der Ordinariumsgesänge wie der Kehrverse kirchliche Komponisten delektiert, ist nicht zu übersehen. Aber diese Produktionslust ist abzuwägen gegen die Bedeutung des kulturellen Gedächtnisses, das mit der Steigerung der Varianten eher verschwimmen könnte, ohne dass im Gegenzug mit den einzelnen Varianten ein merklicher Bedeutungsgewinn zu verbuchen wäre. Eine Qualitätsprüfung hätte hier zu bedenken, ob nicht eine Reduzierung der Produktpalette die memoriellen Rezeptionschancen erhöhen könnte. Damit ist bereits ein generelleres Qualitätskriterium ins Feld geführt. Ein kirchlicher Gesang ist auch daran zu messen, wie weit es ihm – einzelnen Strophen, Versen, Motiven, Melodien, Imaginationen – gelingt, über den begrenzten Funktionsraum der Liturgie hinaus zu wirken in die memorielle Kultur.
Reformerische Uniformierung kann bestehende literarische und musikalische Gedächtnisstränge abreißen, die Einführung einer übermäßigen Variantenfrequenz sie erst gar nicht zustande kommen lassen. Die Ausbildung eines christlich geprägten Gedächtnisses als Referenzhorizont der wechselnden Alltagserfahrung erscheint mir als eine wichtige Zielperspektive des Gottesdienstes, die durch rein liturgiefunktionelle Bewertung nicht konterkariert werden sollte.
Die erwähnte liturgiereformerische Neubewertung des Kirchengesangs hat also einerseits zu einer produktiven, in ihrem Produktionseifer aber durchaus befragbaren Expansion nicht liedmäßiger Gesänge geführt. Andererseits schränken die liturgiefunktionalen Vorgaben, wenn man sie ernst nimmt, den Gebrauch der eigentlichen Kirchenlieder der deutschsprachigen Tradition zwangsläufig ein. Als messliturgische Gesänge zum Einzug, zwischen den Lesungen, zur Gabenbereitung, zur Kommunion sind viele dieser Lieder nach Herkunft, Umfang und inhaltlicher Ausrichtung nicht unmittelbar geeignet. Sie würden also, dem Siebprinzip der Instruktion „Musicam sacram“ entsprechend, eher in den Bereich der „pia exercitia“, der paraliturgischen Andachtsübungen gehören. Dass viele spezifisch katholische Lieder der deutschsprachigen Tradition nach Genese und Gebrauch im Bereich der Volksandachten, Messandachten, Prozessionen usw. anzusiedeln sind, ist offenkundig. Eben dieses für die katholische Frömmigkeit sehr prägende Andachtswesen wurde nun nicht nur von den liturgiereformerischen Kräften, die in klerikal-monastischer Tradition Messliturgie, Wortgottesdienst und Stundengebet favorisierten, vernachlässigt, es unterlag in der Zeit um 1970 auch dem Prozess einer frömmigkeitspraktischen Erosion großen Ausmaßes.15 Die sozioökonomisch bedingte Reduzierung der religiösen Aktivitäten auf den Sonntagsgottesdienst konvergierte mit dessen ekklesialer Hochschätzung. Viele einst sehr gebräuchliche und gern gesungene Lieder aus dem Bereich der Marien- und Heiligenverehrung, der Sakraments- und Herz-Jesu-Frömmigkeit, der Kreuzweg-, Mai- und Rosenkranzandachten gerieten durch diese Entwicklung in eine labile Position. Das „Gotteslob“ gibt das durch Reduzierung und ideologische Überarbeitung des einschlägigen Repertoires zu erkennen. Wie es mit dem faktischen Gebrauch der in diesem Bereich beibehaltenen Gesänge steht, wäre empirisch zu untersuchen. Der faktische Nichtgebrauch ist der härteste Prellbock der gesamten Qualitätsdiskussion.
Natürlich erschöpft sie sich nicht im Kriterium der tatsächlichen Verwendung. Ich möchte mich darum der Frage poetisch-theologischer Wertmaßstäbe zuwenden, begrenzt auf das Feld der eigentlichen Kirchenlieder. Meine Überlegungen schließen sich an Beispiele an und zwar an strittige Fälle, weil sich an ihnen die zur Bewertung vorgebrachten Argumente und die ihnen zugrunde liegenden Kriterien am besten validieren und diskutieren lassen. Der Redaktionsbericht liefert hinsichtlich der Auswahl und Bearbeitung von Liedern ausreichend strittige Fälle, aus denen ich einige ad modum exempli auswähle.
Ich nehme als erstes ein kleines Lied, das es nicht geschafft hat. Der Fall ist deswegen etwas gewichtiger, weil es sich um ein Lied handelt, „das eine gewisse Festigkeit gegenüber den Abnutzungsprozessen der Zeit“16 erwiesen hatte. Es gehörte bereits zu den 23 Titeln, die nach einem Beschluss der Fuldaer Bischofskonferenz aus dem Jahre 1916 als Einheitslieder in allen Diözesen einzuführen waren17, und fand sich auch unter den 74 Einheitsliedern, die die deutsche Bischofskonferenz im Jahre 1947 als Kernbestand des katholischen Kirchenliedguts beschlossen hatte, und war dementsprechend in allen Diözesangesangbüchern der Folgezeit vertreten.18 Im Jahre 1972/73 wurde es mit neun anderen alten Einheitsliedern nicht in den Stammteil des neuen Einheitsgesangbuchs aufgenommen: das Lied „Jesu, dir leb ich“.
Die im Redaktionsbericht mitgeteilte Begründung ist die von allen zehn Fällen kürzeste: Gemäß „Entscheid der HK (Hauptkommission) vom Juli 1972 wurde zu diesem Lied die Meinung der Diözesen eingeholt. Auf deren Votum von 13 Ja und 14 Nein hin lehnte die HK im Dezember 1972 das Lied mehrheitlich ab.“19 Die Begründung liefert kein inhaltliches Argument, sondern nur den Mechanismus einer offenbar schwierigen Entscheidungsfindung. Nach der Ablehnung für den Stammteil hat es dann in zehn Diözesananhängen Unterkunft gefunden.20
Das umstrittene Lied besteht aus zwei kurzen Strophen und hat den Wortlaut:
„Jesu, dir leb ich! Jesu, dir sterb ich! Jesu, dein bin ich im Leben und im Tod.
O, sei uns gnädig, sei uns barmherzig! Führ uns, o Jesus, in Deine Seligkeit!“
Die in den älteren Gesangbüchern gebräuchliche Legende lautet: „Text: Als Kehrverse schon im 17./18. Jh. bekannt, Liegnitz 1828; Weise: Franz Bühler (1760 – 1824)“.21 In einer sorgfältig belegten Untersuchung hat F. Schulz die Geschichte des Liedes weiter aufhellen können22. Die erste Strophe ist als Reimgebet bis ins 16. Jh. zurückzuverfolgen: Die „bis jetzt früheste Fassung des Jesusgebets: O Herr Jesu / dir leb ich / dir stirb ich / dein bin ich / tot und lebendig“23 findet sich in einem Gebetbuch des Jahres 1557. Das Gebet stammt nach den frühesten Belegen des 16. Jh. aus evangelischer Tradition und erscheint im 17. Jh. dann auch in katholischen Gebetbüchern. Aufgeführt wird es im Zusammenhang des Morgensegens oder als Sterbegebet. Der „offensichtlich bekannte und fest geprägte Text“24 erhält um 1800 eine Liedfassung, zunächst evangelisch in einem Gesangbuch der Brüdergemeine von 1784 und dann katholisch. Der ersten, 1813 veröffentlichten Melodie folgte vor 1824 die von dem Augsburger Domkapellmeister Franz Bihler stammende Melodie25, die sich in der Folgezeit, wenn auch mit zahlreichen melodischen Varianten, durchsetzte (zwischen 1828 und 1909 in 17 katholischen Gesangbüchern nachweisbar26). Die zweite Strophe findet sich erstmals in einem katholischen Gesangbuch von 1837 und wird „von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an bis zur Gegenwart in fast alle vom Pietismus und der Erweckungsbewegung geprägten Liederbücher für kirchliche und freikirchliche evangelische Gemeinschaften sowie für Kinder- und Jugendgottesdienste“27 übernommen. Mit der Streichung aus dem Liedrepertoire des „Gotteslob“ wurde also ein altes, im interkonfessionellen Frömmigkeitsaustausch interessantes Stück aus dem Verkehr gezogen. Versteckt unter der Rubrik „Sterbegebete“ hat die erste Strophe sich im Gebetsteil (Nr. 79,1) erhalten.