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Zwanzig Jahre nachher

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»Seid unbesorgt. Grimaud hat Mousqueton abgelöst und ist auf seiner Hut.«

»Gleichviel; verdoppelt die Wachsamkeit und bleibt nicht einen Augenblick unthätig.«

»Unthätig, mein Lieber?« fragte Porthos. »Ich raste nicht, ich bin unablässig auf meinen Beinen, ich habe das Aussehen eines Tänzers. Gottes Tod! wie liebe ich Frankreich in diesem Augenblicke, und wie gut ist es, ein eigenes Vaterland zu haben, wenn man so schlimm in dem von Andern ist!«

Aramis verließ sie, wie er Athos verlassen hatte, das heißt, indem er Beide umarmte. Dann begab er sich zu dem Bischof Juron und stellte ihm sein Verlangen vor. Juron willigte um so leichter ein, Aramis mitzunehmen, als man ihn bereits benachrichtigt hatte, man würde eines Priesters bedürfen in dem gewissen Falle, daß der König das Nachtmahl nehmen wollte, und besonders in dem wahrscheinlichen Falle, daß er eine Messe zu hören wünschte.

Angethan, wie es Aramis am Tage vorher war, stieg der Bischof in seinen Wagen; mehr verkleidet durch seine Blässe und durch seine Traurigkeit, als durch sein Diaconengewand, stieg Aramis zu ihm ein. Der Wagen hielt vor dem Thore von Whitehall. Es war ungefähr neun Uhr Morgens. Nichts schien verändert. Die Vorzimmer und Gänge waren, wie am Tage vorher, mit Wachen angefüllt. Zwei Schildwachen standen vor der Thüre des Königs, zwei andere gingen vor dem Balcon auf der Plattform des Blutgerüstes auf und ab, auf welchem man bereits den Block befestigt hatte.

Der König war voll Hoffnung; als er Aramis wiedersah, verwandelte sich diese Hoffnung in Freude. Er umarmte Juron und drückte Aramis die Hand. Der Bischof sprach mit dem König zum Scheine laut und vor aller Welt von ihrem Zusammensein am vorhergehenden Tage. Der König antwortete ihm, die Worte, die er ihm bei diesem Zusammensein gesagt, hätten ihre Frucht getragen, und er wünschte noch eine ähnliche Unterredung. Juron wandte sich nach den Anwesenden um und bat sie, ihn mit dem König allein zu lassen.

Alle entfernten sich. Sobald die Thüre wieder geschlossen war, sagte Aramis rasch:

»Sire, Ihr seid gerettet! Der Nachrichter von London ist verschwunden. Sein Gehilfe hat sich gestern unter den Fenstern Euerer Majestät den Schenkel gebrochen. Der Schrei, den wir hörten, rührte von ihm her. Ohne Zweifel hat man das Verschwinden des Henkers bereits wahrgenommen; doch es gibt nur in Bristol einen zweiten, und man braucht Zeit, um ihn zu holen. Wir haben also wenigstens bis morgen für uns.«

»Aber der Graf de la Fère?« fragte der König.

»Er befindet sich zwei Fuß von Euch, Sire. Nehmt das Schüreisen von der Gluthpfanne und klopft dreimal; Ihr werdet hören, daß man Euch antwortet.«

Der König nahm mit zitternder Hand das Instrument und klopfte dreimal in gleichmäßigen Zwischenräumen. Sogleich erschollen, das Signal erwidernd, dumpfe, behutsame Schläge unter dem Boden.

»Also derjenige, welcher mir antwortet,« … sagte der König.

»Ist der Graf de la Fère, Sire,« antwortete Aramis. »Er bereitet den Weg, auf welchem Eure Majestät zu fliehen im Stande sein wird. Parry mag diese Marmorplatte aufheben, und der Gang ist völlig geöffnet.«

»Aber ich habe kein Werkzeug,« sagte Parry.

»Nehmt diesen Dolch,« versetzte Aramis, »nur hütet Euch, denselben zu sehr abzustumpfen, denn Ihr könntet desselben bedürfen, um etwas Anderes auszuhöhlen, als den Stein.«

»Oh, Juron,« sprach Karl, sich gegen den Bischof umwendend und seine beiden Hände fassend, »hört die Bitte desjenigen, welcher Euer König war.«

»Der es noch ist und immer sein wird,« sprach Juron, dem Fürsten die Hand küssend.

»Betet Euer ganzes Leben für diesen Edelmann, den Ihr hier seht, für einen andern, den Ihr unter unweit Füßen hört, und für noch zwei, welche irgendwo, ich bin es fest überzeugt, zu meinem Heile wachen.«

»Sire,« antwortete Juron, »es soll Euch gehorcht werden. Jeden Tag, so lange ich lebe, soll ein Gebet für die getreuen Seelen Eurer Majestät zum Himmel emporsteigen.«

Der Gräber setzte noch einige Zeit seine Arbeit fort, die man immer näher kommen fühlte. Plötzlich aber erscholl ein unerwartetes Geräusch in der Gallerie. Aramis ergriff das Schüreisen und gab das Signal zur Unterbrechung.

Das Geräusch näherte sich. Es war das einer gewissen Anzahl gleichmäßiger, geregelter Schritte. Die vier Männer blieben unbeweglich. Aller Augen waren auf die Thüre geheftet, die sich langsam und mit einer Art von Feierlichkeit öffnete.

Wachen waren in Reihe und Glied in dem Vorzimmer des Königs aufgestellt. Schwarz gekleidet und mit einem Ernste von schlimmer Vorbedeutung trat ein Commissär des Parlaments ein, grüßte den König, entrollte ein Pergament und las ihm seinen Spruch vor, wie man dies gewöhnlich bei den Verurtheilten thut, welche das Blutgerüste besteigen sollen.

»Was soll das bedeuten?« fragte Aramis den Bischof.

Juron erwiderte ihm durch ein Zeichen, er sei in jeder Beziehung so unwissend, als er.

»Dies ist also für heute?« sagte der König mit einer nur für Juron und Aramis bemerkbaren Bewegung.

»Wäret Ihr nicht davon in Kenntniß gesetzt, Sire, daß es heute geschehen sollte?« fragte der Mann in dem schwarzen Gewände.

»Und ich soll wie ein gemeiner Verbrecher von der Hand des Henkers von London sterben?« sagte der König.

»Der Henker von London ist verschwunden, Sire,« antwortete der Commissär des Parlaments; »aber es hat sich ein Mensch statt seiner angeboten. Die Hinrichtung wird also nur um so viel Zeit verzögert werden, als Ihr fordert, um Eure zeitlichen und geistlichen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.«

Ein leichter an der Wurzel der Haare von Karl perlender Schweiß war die einzige Spur von Aufregung, welche diese Kunde bei ihm veranlagte.

Aramis aber wurde leichenbleich. Sein Herz schlug nicht mehr. Er schloß die Augen und stützte seine Hand auf einen Tisch. Als Karl diesen tiefen Schmerz wahrnahm, schien er den seinigen zu vergessen.

Er ging auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand, umarmte ihn und sprach mit sanftem, traurigem Lächeln:

»Auf, mein Freund, Muth gefaßt!«

Dann sich gegen den Commissär umwendend:

»Mein Herr, ich bin bereit und verlange nur zwei Dinge, die Euch, glaube ich, nicht sehr auffallen werden. Erstens, das Nachtmahl zu nehmen, und dann, meine Kinder zu umarmen und ihnen das letzte Lebewohl zu sagen. Wird mir dies gestattet sein?«

»Ja, Sire,« antwortete der Commissär des Parlaments.

Und er entfernte sich.

Zu sich selbst gekommen, preßte sich Aramis die Nägel in das Fleisch. Ein ungeheurer Seufzer entstieg seiner Brust.

»Oh, hochwürdigster Herr! rief er, die Hände von Juron ergreifend, »wo ist Gott? wo ist Gott?«

»Mein Sohn,« sprach der Bischof mit Festigkeit, »Ihr seht Gott nicht, weil die Leidenschaften der Erde ihn verbergen.

»Mein Sohn,« sagte der König zu Aramis, »verzweifle nicht. Du fragst, was Gott mache? Gott sieht Deine Ergebenheit und mein Märtyrthum, und glaube mir, Beides wird seine Belohnung finden. Halte Dich also bei dem, was geschieht, an die Menschen, und nicht an Gott. Die Menschen bewirken meinen Tod, die Menschen veranlassen Deine Thränen.«

»Ja, Sire, erwiderte Aramis, »Ihr habt Recht, an die Menschen muß ich mich halten und an sie werde ich mich auch halten.«

»Setzt Euch, Juron,« sprach der König niederknieend, »Ihr habt mich noch zu hören, ich habe noch zu beichten. Bleibt, mein Herr,« fügte er bei, sich an Aramis wendend, der eine Bewegung machte, um sich zurückzuziehen; »bleibt auch Ihr, Parry, ich habe selbst bei den Geheimnissen der Beichte nichts zu sagen, was sich nicht vor aller Welt sagen ließe; bleibt, ich bedaure nur, daß mich nicht die ganze Welt wie Ihr und mit Euch hören kann.«

Juron setzte sich und der König begann, vor ihm knieend, wie der geringste Gläubige, seine Beichte.

V
Remember!

Als die königliche Beichte vollendet war, nahm Karl das Abendmahl; dann verlangte er seine Kinder zu sehen. Es schlug zehn Uhr und es war somit, wie der König gesagt hatte, keine lange Zögerung.

Das Volk hielt sich indessen schon bereit; es wußte, daß zehn Uhr die für die Hinrichtung bestimmte Stunde war, schaarte sich in den Straßen beim Palaste zusammen, und der König sing an den entfernten Lärmen zu unterscheiden, welchen die Menge und das Meer machen, wenn die eine durch ihre Leidenschaften, das andere durch seine Stürme erregt ist.

Die Kinder des Königs langten an: zuerst die Prinzessin Charlotte, dann der Herzog von Glocester, – ein kleines, blondes Mädchen, die Augen in Thränen gebadet, und ein Knabe von acht bis zehn Jahren, bei dem ein trockenes Auge und die verächtlich aufgeworfene Lippe den wachsenden Stolz verriethen. Das Kind hatte ^ die ganze Nacht hindurch geweint, aber vor allen diesen Leuten weinte es nicht.

Karl fühlte, wie sein Herz beim Anblick der beiden Kinder schmolz, die er seit zwei Jahren nicht gesehen hatte und jetzt nur in der Stunde seines Todes wiedersah. Eine Thräne trat in seine Augen und er wandte sich und trocknete sie, denn er wollte sank sein vor denjenigen, welchen er ein so schweres Erbe des Leidens und des Unglücks hinterließ.

Er sprach zuerst mit dem jungen Mädchen, zog die Kleine zu sich, empfahl ihr Frömmigkeit, Resignation und kindliche Liebe; dann ging er von den: Einen zum Andern über, nahm den jungen Herzog von Glocester und setzte ihn auf seinen Schooß, damit er ihn zugleich an sein Herz drücken und ihm das Gesicht küssen könnte.

»Mein Sohn,« sagte er zu ihm, »Du hast auf Deinem Wege hierher in den Straßen und in den Vorzimmern viele Menschen gesehen; diese Leute, vergiß es nie, werden Deinem Vater den Kopf abschlagen. Vielleicht wollen sie Dich eines Tags, weil sie Dich bei sich sehen und in ihrer Gewalt haben, zum König machen, mit Ausschließung des Prinzen von Wales und des Herzogs von York, Deiner älteren Brüder, von denen der Eine in Frankreich, der Andere ich weiß nicht wo ist; aber Du bist nicht der König, mein Sohn, und kannst es nur durch ihren Tod werden. Schwöre mir also, Dir nicht die Krone auf das Haupt setzen zu lassen, wenn Du nicht rechtgemäße Ansprüche auf diese Krone hast, denn eines Tages, hörst Du Wohl, mein Sohn, eines Tages, wenn Du dies thust, würden sie Dir Kopf und Krone abschlagen, und an diesem Tage könntest Du nicht ruhig und ohne Gewissensbisse sterben, wie ich sterbe. Schwöre mir, mein Sohn.«

 

Das Kind streckte seine kleine Hand in die seines Vaters aus und sprach:

»Sire, ich schwöre Euerer Majestät …«

Karl unterbrach ihn und sagte:

»Heinrich, nenne mich Deinen Vater.«

»Mein Vater,« versetzte das Kind, »ich schwöre Euch, daß sie mich eher tödten, als zum König machen werden.«

»Gut! mein Sohn. Nun umarme mich, und Du auch, Charlotte, und vergeßt mich nicht.«

»Oh! nein! nein!« riefen die zwei Kinder, ihre Arme um den Hals des Königs schlingend.

»Gott befohlen,« sprach Karl, »Gott befohlen, meine Kinder. Führt sie weg, Juron, ihre Thränen würden mir den Muth zum Sterben rauben.«

Juron entriß die unglücklichen Kinder den Armen ihres Vaters und übergab sie denjenigen, welche sie gebracht hatten.

Hinter ihnen öffneten sich die Pforten, und Jedermann konnte eintreten.

Als sich der König unter der Menge der Wachen und Neugierigen, welche das Zimmer zu füllen begannen, allein sah, erinnerte er sich, daß der Graf de la Fère sehr nahe unter dem Boden des Gemaches war, und da er ihn nicht sehen konnte, vielleicht immer noch hoffte.

Er zitterte, das geringste Geräusch könnte Athos als Signal erscheinen, und dieser würde sich, seine Arbeit wieder beginnend, selbst verrathen. Er heuchelte deshalb eine Unbeweglichkeit und hielt dadurch alle Anwesenden in Ruhe.

Der König täuschte sich nicht, Athos war wirklich auf den Beinen, er horchte, er verzweifelte, da er kein Signal hörte; er fing zuweilen abermals an, den Stein anzugreifen, da er aber gehört zu werden befürchtete, hielt er bald wieder inne.

Diese furchtbare Unthätigkeit dauerte zwei Stunden. Eine Todesstille herrschte in dem Zimmer des Königs.

Nun entschloß er sich, die Ursache dieser düsteren, stummen, nur von dem ungeheuren Lärmen des Volkes gestörten Ruhe zu erforschen. Er öffnete ein wenig die Tapete, welche das Loch des Spalts verbarg, und stieg auf den ersten Stock des Schaffots hinab. Kaum vier Zoll über seinem Kopfe war der Boden, der sich in einer Höhe mit der Plattform ausdehnte und das Schaffot bildete.

Das Geräusch, welches er bis jetzt nur dumpf gehört hatte, und das nun düster und bedrohlich an sein Ohr drang, machte ihn vor Schrecken beben. Er ging bis an den Rand des Schaffots, öffnete ein wenig das schwarze Tuch in der Höhe seines Auges und sah Reiter, welche an der furchtbaren Maschine aufgestellt waren, jenseits der Reiter eine Reihe Partisanenträger, jenseits der Partisanenträger Musketiere, jenseits der Musketiere die ersten Reihen des Volkes, das einem düsteren Ocean ähnlich brauste und tobte. »Was ist denn vorgefallen?« fragte sich Athos, heftiger zitternd, als das Tuch, dessen Falten er zerknitterte; das Volk drängt sich, die Soldaten stehen unter den Waffen, und unter den Zuschauern, welche insgesamt die Augen nach dem Fenster gerichtet haben, erblicke ich d’Artagnan! Was erwartet er? was betrachtet er? Großer Gott, sollte er haben den Henker entschlüpfen lassen!«

Plötzlich erscholl die Trommel dumpf und düster auf dem Platze; ein Geräusch schwerer, langsamer Tritte machte sich über seinem Kopfe hörbar. Es kam ihm vor, als ob etwas, wie eine ungeheure Prozession die Parkete von Whitehall beträte; bald hörte er sogar die Bretter des Blutgerüstes krachen. Er warf einen letzten Blick auf den Platz, und die Haltung der Zuschauer lehrte ihn, was eine im Grunde seines Herzens zurückgebliebene Hoffnung zu errathen bis jetzt verhindert hatte.

Das Geräusch auf dem Platze hatte völlig aufgehört. Aller Augen waren nach dem Fenster von Whitehall gerichtet; die starre Menge gab durch den aufgesperrten Mund und das Zurückhalten des Athems die Erwartung eines furchtbaren Schauspiels kund.

Das Getöse der Tritte, das Athos von der Stelle, die er unter dem Boden des königlichen Zimmers einnahm, über seinem Kopfe gehört hatte, wiederholte sich auf dem Schaffot, welches sich dergestalt unter dem Gewichte bog, daß die Bretter beinahe den Kopf des unglücklichen Edelmanns berührten. Offenbar waren es zwei Reihen Soldaten, welche den ihnen zugewiesenen Platz besetzten.

In demselben Augenblicke sprach eine Athos wohlbekannte Stimme, eine edle Stimme, über seinem Kopfe:

»Herr Oberster, ich wünsche zu dem Volke zu reden.«

Athos bebte vom Scheitel bis zu den Zehen: es war der König, welcher auf dem Blutgerüste sprach.

Nachdem Karl ein paar Tropfen Wein getrunken und etwas Brod gebrochen, hatte er sich wirklich, müde den Tod zu erwarten, entschlossen, diesem entgegenzugehen, und das Zeichen zum Aufbruch gegeben.

Dann hatte man die beiden Flügel des nach dem Platze gehenden Fensters geöffnet, und das Volk sah schweigend aus dem Hintergrunde des Zimmers einen verlarvten Mann hervortreten, in welchem man an dem Beile, das er in der Hand hielt, den Scharfrichter erkannte. Dieser Mann näherte sich dem Blocke und legte sein Beil darauf.

Nach diesem Menschen erblickte man Karl Stuart, welcher ruhig und festen Schrittes zwischen zwei Priestern ging, gefolgt von einigen Oberofffzieren, die der Hinrichtung beizuwohnen hatten, und von zwei Gliedern von Partisanenträgern, welche sich auf beiden Seiten des Schaffots aufstellten.

Der Anblick des verlarvten Mannes hatte ein lange anhaltendes Geräusch hervorgebracht. Jedermann war neugierig zu erfahren, wer der unbekannte Henker wäre, der sich noch zur rechten Zeit angeboten hatte, damit das dem Volke verheißene Schauspiel stattfinden konnte, während man bereits geglaubt, dasselbe müßte auf den andern Tag verschoben werden. Jeder verschlang ihn gleichsam mit den Augen, aber man konnte nichts sehen, als daß es ein schwarz gekleideter Mann von mittlerem Wüchse war, der bereits ein gewisses Alter erreicht zu haben schien, denn das Ende eines grau werdenden Bartes stand unter der Larve hervor, die sein Gesicht bedeckte.

Doch bei dem Anblick des so ruhigen, so edlen, so würdigen Königs stellte sich die Ruhe wieder her, und Jedermann konnte es hören, als er das Verlangen, zu dem Volke zu reden, aussprach.

Dieses Verlangen hatte derjenige, an welchen es gerichtet war, ohne Zweifel mit einem bejahenden Zeichen beantwortet, denn der König fing an, mit einer festen, wohlklingenden, bis in die Tiefe des Herzens von Athos vibrirenden Stimme zu sprechen.

Er erklärte dem Volke sein Benehmen und gab ihm Rathschläge zur Wohlfahrt Englands.

»Oh!« sprach Athos zu sich selbst, »ist es denn möglich, daß ich höre, was ich höre? Ist es möglich, daß Gott seinen Stellvertreter auf Erden so sehr verlassen hat, daß er so elendiglich sterben muß! … Und ich habe ihn nicht gesehen …habe ihm kein Fahrewohl gesagt!«

Man vernahm ein Geräusch, als würde das Todeswerkzeug auf dem Blocke bewegt.

Der König unterbrach sich und sprach:

»Berührt das Beil nicht.«

Und er setzte seine Rede fort; als sie zu Ende war, trat eine furchtbare Stille über dem Kopfe des Grafen ein. Er hielt seine Hand vor die Stirne, aber zwischen seiner Hand und seiner Stirne rieselten Schweißtropfen durch, obgleich die Luft eiskalt war.

Diese Stille deutete die letzten Vorbereitungen an.

Nachdem der König seine Rede geschlossen, ließ er auf der Menge einen Blick voll Mitleids umhergehen. Dann machte er den Orden, den er trug, eben jenen Demantstern, den die Königin ihm geschickt hatte, los und übergab ihn dem Priester, welcher Juron begleitete. Hierauf zog er aus seiner Brust ein kleines Kreuz, ebenfalls von Diamanten. Dieses kam, wie der Stern, von Frau Henriette.

»Mein Herr,« sagte er, sich an den Priester wendend, welcher Juron begleitete, »ich werde dieses Kreuz bis zu meinem letzten Augenblick in der Hand behalten; aber nehmt es von mir, wenn ich todt bin.«

»Ja, Sire,« sprach eine Stimme, in welcher Athos die von Aramis erkannte.

Karl, welcher bis dahin seinen Kopf bedeckt gehabt hatte, nahm nun feinen Hut ab und warf ihn von sich. Dann löste er, einen nach dem andern, die Knöpfe seines Wammses, zog es aus und warf es neben seinen Hut. Da es aber sehr kalt war, forderte er seinen Schlafrock, den man ihm reichte.

Alle diese Vorbereitungen waren mit furchtbarer Ruhe vor sich gegangen. Man hätte glauben sollen, der König wäre im Begriff, sich zu Bette und nicht in seinen Sarg zu legen.

Endlich hob er seine Haare mit der Hand in die Höhe und sagte zu dem Henker:

»Werden sie Euch hinderlich sein? In diesem Falle könnte man sie mit einer Schnur aufbinden«

Karl begleitete diese Worte mit einem Blick, der unter die Larve des Unbekannten dringen zu wollen schien. Der so edle, so ruhige, so sichere Blick nöthigte diesen Menschen, den Kopf abzuwenden. Aber hinter dem tiefen Blicke des Königs begegnete er dem glühenden Blicke von Aramis.

Als der König sah, daß er nicht antwortete, wiederholte er seine Frage.

»Es wird genügen, wenn Ihr sie vom Halst entfernt,« antwortete der Mann mit einer dumpfen Stimme.

Der König trennte seine Haare mit seinen beiden Händen und sagte, den Block anschauend:

»Dieser Block ist sehr niedrig; sollte sich kein höherer finden?

»Es ist der gewöhnliche Block,« antwortete der Verlarvte.

Glaubt Ihr mir den Kopf mit einem Streiche abzuhauen?« fragte der König.

»Ich hoffe es,« antwortete der Scharfrichter.

Es lag in den Worten: »Ich hoffe es,« eine so seltsame Betonung, daß alle Anwesenden, den König ausgenommen, bebten.

»Es ist gut,« sprach der König, »und nun, Henker, höre.«

Der Verlarvte machte einen Schritt gegen den König und stützte sich auf sein Beil.

»Du sollst mich nicht überraschen,« sprach Karl zu ihm. »Ich werde niederknieen um zu beten; dann schlage noch nicht.«

»Wann soll ich schlagen?« fragte der Verlarvte. »Sobald ich den Hals auf den Block gelegt habe, die Arme ausstrecke und Remember14 rufe.«

Der Mann mit der Larve machte eine leichte Verbeugung.

»Der Augenblick, von der Welt zu scheiden, ist gekommen/ sprach der König zu seiner Umgebung. »Meine Herren, ich lasse Euch mitten im Sturme und gehe Euch in jenes Vaterland voran, das kein Ungewitter kennt. Gott befohlen!«

Er schaute Aramis an und machte ihm ein besonderes Zeichen mit dem Kopfe.

»Nun entfernt Euch,« fuhr er fort, »und laßt mich leise mein Gebet verrichten. Entferne. Du Dich auch,« sagte er zu dem Verlarvten; »ich weiß, daß ich Dir gehöre; aber erinnere Dich, daß Du erst bei meinem Signal schlagen sollst.«

Karl kniete nieder, machte das Zeichen des Kreuzes und näherte seinen Mund den Brettern, als wollte er die Plattform küssen. Dann stützte er sich mit der einen Hand auf den Boden, mit der andern auf den Block, und sagte in französischer Sprache:

»Graf de la Fère, seid Ihr da, und kann ich sprechen?«

Diese Stimme schlug gerade in das Herz von Athos und durchdrang dasselbe, wie ein kaltes Eisen.

»Ja, Majestät,« erwiderte er zitternd.

»Treuer Freund, edles Herz,« sprach der König, »ich konnte nicht von Dir gerettet werden, ich sollte es nicht sein. Nun aber, und sollte ich eine Entheiligung begehen, sage ich: ja, ich habe zu den Menschen, ich habe zu Gott gesprochen, ich spreche zuletzt zu Dir. Um eine Sache aufrecht zu halten, die ich für heilig hielt, habe ich den Thron meiner Väter verloren und das Erbe meiner Kinder verschleudert. Eine Million in Gold bleibt mir. Ich habe sie in den Kellern des Schlosses von Newcastle in dem Augenblick vergraben, wo ich diese Stadt verließ. Du allein weißt, daß dieses Geld vorhanden ist. Mache Gebrauch davon, wenn Du es zum Wohle meines ältesten Sohnes für zeitgemäß hältst. Und nun, Graf de la Fère, nimm Abschied von mir.«

»Gott befohlen, heilige Majestät, Märtyrer-Majestät!« stammelte Athos, vor Schrecken zu Eis geworden.

Es trat nun ein Stillschweigen ein, während dessen es Athos vorkam, als stünde der König auf und wechselte seine Stellung.

Dann rief der König mit einer vollen, klingenden Stimme, so daß man es nicht nur auf dem Schaffot, sondern auch auf dem ganzen Patze hörte:

 

Kaum war dieses Wort aus seinem Munde, als ein furchtbarer Schlag den Boden des Blutgerüstes erschütterte. Der Staub drang aus dem Tuche hervor und verblendete den unglücklichen Edelmann.

Plötzlich hob er mit einer maschinenmäßigen Bewegung die Augen und den Kopf empor, und es fiel ein warmer Tropfen auf seine Stirne. Athos wich mit einem Schauer des Schreckens zurück, und in demselben Augenblick verwandelten sich die Tropfen in eine schwarze Cascade, welche auf dem Boden aufprallte.

Athos fiel auf die Kniee und blieb einige Augenblicke wie vom Wahnsinn erfaßt. An dem abnehmenden Gemurmel bemerkte er bald, daß das Volk sich entfernte. Er verharrte noch einen Moment unbeweglich, stumm und bestürzt. Dann tauchte er, sich umwendend, das Ende seines Taschentuches in das Blut des Märtyrer-Königs, und als das Volk immer mehr den Platz verließ, stieg er hinab, schlitzte das Tuch, drängte sich zwischen zwei Pferde, vermischte sich mit dem Volke, dessen Kleidung er trug, und gelangte zuerst in die Taverne.

Als er in sein Zimmer trat, beschaute er sich im Spiegel, sah auf seiner Stirne einen breiten rochen Fleck, fuhr mit der Hand an die Stirne, zog sie voll von dem Blute des Königs zurück, und fiel in Ohnmacht.

14erinnert Euch.