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La San Felice

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Fünfzehntes Capitel.
Der Oberaufseher

In dem Augenblick, wo der Neuangeworbene allerdings mit einiger Schwierigkeit, aber doch wenigstens leserlich seinen Namen unter den Contract schrieb, trat ein Matrose in die Cajüte und brachte ein Couvert, welches Papiere enthielt, die ein Bote im Auftrage des Chevalier San Felice mit der ausdrücklichen Bestimmung überbracht, daß dieselben nur dem Capitän Skinner selbst eingehändigt werden sollten.

Schon seit Mittag hatte sich in Palermo das Gerücht verbreitet, daß bei der Herzogin von Calabrien sich die Geburtswehen eingestellt hätten. Die Besitzer der Goelette hatten an diesem Ereignisse ein zu großes Interesse, als daß sie nicht mit zuerst davon unterrichtet gewesen wären. Dann hatte das Glockengeläute und hierauf die Ausstellung des heiligen Sacramentes ihnen die Befürchtungen des Hofes verkündet, bis endlich das Knallen der Kanonenschläge, die Raketen und die Illuminationen sie von dem glücklichen Ausgange unterrichtet hatten, an welchem sie ein so lebhaftes Interesse nahmen, weil das Leben der Gefangenen gewissermaßen davon abhing.

Der Capitän Skinner begriff daher sofort, daß das ihm eingehändigte Couvert die Entscheidung des Königs enthielte, möchte dieselbe nun ausgefallen sein, wie sie wollte.

Er winkte Salvato, der noch einen Blick auf den Contract warf, zu Tonino sagte, es sei Alles so gut, dann den Contract ergriff und denselben in die Tasche steckte.

Tonino, der nicht wenig erfreut war, nun in aller Form der Mannschaft des »Renner« anzugehören, ging wieder auf das Deck hinauf.

Salvato und sein Vater beeilten, sobald sie allein waren, sich, das Siegel zu erbrechen.

Das Couvert enthielt die in acht oder zehn Fetzen zerrissene Bittschrift Luisas.

Man weiß, welche Bedeutung diese Antwort hatte. Dieselbe sagte so klar wie mit Worten: »Der König ist unerbittlich gewesen.«

Außer diesen Fetzen enthielt das Couvert aber auch noch zwei andere Papiere, welche unversehrt waren. Das erste, welches Salvato öffnete, war von der Hand des Chevaliers geschrieben.

Es enthielt folgende Worte:

»Eben stand ich im Begriff Ihnen die beifolgenden Papierfetzen ohne weitere Erläuterung zuzusenden – denn unserer Verabredung gemäß bedeuten sie, daß die Bemühungen der Prinzessin erfolglos gewesen sind und daß von unserer Seite nichts mehr zu hoffen ist – als ich von dem Polizeidirektor die von mir erbetene Ernennung des Tonino Monti zum Posten eines Unterschließers erhielt. Gibt vielleicht diese Ernennung ein Rettungsmittel an die Hand? Ich weiß es nicht und versuche nicht einmal es zu ergründen, so wirr ist es mir im Kopf. Sie aber, Sie sind Männer, welche Erfindungsgabe und Gewandtheit besitzen. Sie haben die Mittel zur Flucht, welche mir fehlen, Ihnen stehen Leute zu Gebote, die ich nicht habe und die ich auch nicht aufzutreiben wüßte. Suchen Sie, erfinden Sie, greifen Sie, wenn es sein muß, zum Wahnsinnigen, zum Unmöglichen, aber retten Sie nur Luisa.

»Ich für meine Person kann die Arme nur beweinen.

»Das Anstellungspatent für Tonino Monti liegt hier bei.«

Diese Mittheilung war eine furchtbare, aber weder Salvato noch sein Vater hatten jemals auf die königliche Milde gerechnet, und die Enttäuschung von dieser Seite war daher weit entfernt auf die Beiden die Wirkung hervorzubringen, welche sie auf den Chevalier San Felice geäußert hatte.

Die beiden Männer sahen einander mit Wehmuth an, aber nicht mit Verzweiflung, ja noch mehr, es erschien ihnen, als ob diese Ernennung Toninos Monti ein Ersatz für die Niederlage wäre, welche ihnen durch die zerrissene Bittschrift verkündet ward.

Sie hatten, wie man gesehen, sich ebenfalls auf diesen Ausgang gefaßt gemacht und, indem sie sich Toninos aufs Gerathewohl hin bemächtigten, demzufolge ihre Maßregeln getroffen.

Ihr Plan an und für sich war noch sehr unbestimmt, oder vielmehr sie hatten noch gar keinen Plan. Sie standen da mit wachsamen Blick, lauschendem Ohr und ausgestrecktem Arm, bereit, die Gelegenheit zu ergreifen, wenn dieselbe sich darböte. Es kam ihnen vor, als sähen sie in Tonino’s Anwerbung einen Lichtschimmer, und dieser Lichtschimmer ward durch die Ernennung des jungen Burschen zum Schließer noch heller.

Von diesem Lichtschimmer geleitet standen sie jetzt im Begriff, ihrem seither flüchtig und ungreifbar gewesenen Traum eine feste Gestaltung zu geben.

Es war sieben Uhr Abends. Um acht schienen sie einen Entschluß gefaßt zu haben, denn die Mannschaft ward benachrichtigt, daß man im Laufe des nächstfolgenden Nachmittags den Anker lichten werde.

Tonino erhielt Erlaubniß, noch denselben Abend oder den nächstfolgenden Tag ans Land zu gehen, um von seinem Vater Abschied zu nehmen. Er erklärte jedoch, er fürchte den Zorn des Alten so sehr, daß er, weit entfernt, Abschied von ihm nehmen zu wollen, sich, wenn er ihn etwa auf das Schiff zukommen sähe, in den untersten Raum verkriechen wurde.

Wie es schien, konnte Salvato und sein Vater sich nichts Besseres wünschen als diese Furcht, die Tonino vor seinem Vater hatte, und sie wechselten eine Geberde der Befriedigung.

Wir werden nun die Ereignisse erzählen, so wie dieselben geschahen, ohne zu versuchen, ihnen eine andere Erklärung als die der Thatsachen zu geben.

Am nächstfolgenden Tage gegen fünf Uhr Abends begann bei bewölktem äußeren Himmel die Goelette ihre Anstalten zum Lichten des Ankers zu treffen.

Während dieser Operation brach, sei es nun in Folge der Ungeschicklichkeit der Mannschaft, sei es in Folge einer mangelhaften Beschaffenheit der Kette, ein Ring in derselben und der Anker blieb im Grunde stecken.

Dieser Unfall ereignet sich nicht selten, und wenn der Anker nicht allzutief steckt, so gehen Taucher auf den Grund hinab, um ihn herauf zu befördern.

Trotz dieses mit dem Anker geschehenen Unfalls fuhr man jedoch fort, das Schiff zum Absegeln fertig zu machen. Nun ward verabredet, daß, da der Anker nur drei Klafter tief stak, ein Boot mit acht Mann und dem Hochbootsmann Giovanni, um den Anker herauszufischen, zurückbleiben und die Goelette am Eingange des Hafens kreuzend das Boot erwarten sollte. Um sich in einer mondlosen Nacht sichtbar zu machen, sollte sie drei Feuer von verschiedenen Farben tragen.

Gegen acht Uhr Abends steuerte die Goelette zwischen den in dem Hafen liegenden sie umgebenden Fahrzeugen hindurch und begann an der verabredeten Stelle zu lavieren, während die acht Matrosen, deren man zum Hinaussegeln aus dem Hafen bedurft hatte, mit dem Boote zurückruderten, um den Anker wieder aufzufischen.

Zu derselben Stunde trat der Oberaufseher des Fortes Castellamare, Ricciardo Monti, in das Zimmer des Gouverneurs und meldete, er habe soeben einen Brief von seinem Sohn erhalten, der ihm melde, daß er zu seiner herzlichen Freude zum Unterschließer ernannt worden und daß er zwischen neun und zehn Uhr mit seinem Vater zusammentreffen wolle, weil er vorher noch einigen Formalitäten auf der Polizei zu genügen habe.

Diesen Brief hatte Tonino ohne Zweifel auf den Rath eines Cameraden geschrieben, um die Aufmerksamkeit seines Vaters von dem Abgang der Goelette abzulenken, wo er sagen hören konnte, daß sein Sohn angeworben sei.

Als Stelldichein war dem alten Monti eines der kleinen Wirthshäuser an der Piazza Marina bezeichnet worden. Ohne Mißtrauen trat er hinein und fragte nach Tonino Monti. Man bezeichnete ihm einen Corridor, der nach einem Zimmer führte, in welchem, wie man ihm sagte, sein Sohn mit drei oder vier Cameraden bei der Flasche säße.

Kaum war er aber in dieses Zimmer, in welchem er mit den Augen vergebens den suchte, der ihn hierherbestellt, eingetreten, so ward er von vier Männern ergriffen, gebunden, geknebelt und auf ein Bett geworfen, indem man ihm jedoch zugleich versicherte, daß er den nächstfolgenden Morgen wieder in Freiheit gesetzt werden und daß ihm kein Leides widerfahren würde, wenn er nicht etwa zu entwichen suchte.

Die einzige Thätlichkeit, welche man ihm zufügte und welche die Anwendung von Gewalt und besonders von Drohungen nothwendig machte, bestand darin, daß man ihm den Schlüsselbund abnahm, welchen er am Gürtel trug und mit dessen Hilfe er in die Zellen der Gefangenen gelangte.

Dieser Schlüsselbund ward durch die halb geöffnete Thür Jemanden gereicht, der hinter dieser Thür wartete.

Eine halbe Stunde später pochte ein junger Mann von Tonino’s Alter und Wuchs an das Thor des Fortes und verlangte im Namen seines Vaters mit dem Gouverneur zu sprechen.

Der Gouverneur befahl den jungen Mann vorzulassen. Letzterer erzählte nun, Ricciardo Monti sei in den Augenblick, wo er die Toledostraße durchschritten, durch einen aus Anlaß der Niederkunft der Prinzessin abgefeuerten Mortarello, welcher gesprungen sei, schwer verwundet und in das Hospital dei Pellegrini geschafft worden.

Der Verwundete hatte sofort seinen Sohn rufen lassen, ihm seinen Schlüsselbund übergeben und ihm befohlen, sich sofort zu Seiner Excellenz dem Gouverneur zu verfügen, den er bereits von der Ernennung seines Sohnes unterrichtet, ihm ein Anstellungspatent zu präsentieren und seinen Vater bis zu einer hoffentlich baldigen Wiederherstellung zu ersetzen.

Der Gouverneur las das Anstellungspatent des neuernannten Unteraufsehers. Es war vollkommen in Ordnung.

In dem Ricciardo Monti zugestoßenen Unfall lag nichts Außerordentliches, denn dergleichen ereigneten sich bei jedem Fest zu Hunderten. Der Gouverneur war übrigens, wie wir bereits erwähnt, auch schon vorher davon benachrichtigt, daß sein Oberaufseher ausgehen wollte, um mit seinem Sohn zurückzukommen. Er schöpfte daher durchaus keinen Verdacht, sondern forderte den falschen Tonino auf die Schlüssel seines Vaters vorläufig zu behalten, sich in Bezug auf seinen Dienst instruieren zu lassen und seinen Posten anzutreten.

Der neue Schließer steckte sein Patent behutsam in die Tasche, hing die Schlüssel, welche er auf den Tisch des Gouverneurs legte, wieder an seinen Gürtel und verließ das Zimmer.

 

Der von den Wünschen des Gouverneurs in Kenntniß gesetzte Inspector führte ihn von Corridor zu Corridor und zeigte ihm die bewohnten Zimmer. Es waren deren neun.

Als man an dem Luisa’s vorüberkam, blieb der Inspector stehen, um dem jungen Manne zu sagen, daß diese Gefangene eine ganz besonders wichtige sei, und daß man, um sich von ihrer Anwesenheit zu überzeugen, ihr Zimmer dreimal am Tage und zweimal des Nachts zu visitieren habe – das erste Mal um acht Uhr Abends, das zweite Mal um drei Uhr Morgens.

Ueberdies waren an demselben Tage neue Befehle ertheilt worden, welchen zufolge die Wachsamkeit im Innern wie im Aeußern verdoppelt werden sollte.

Als der Rundgang beendet war, zeigte der Inspector dem neuangestellten Schließer noch das Wachzimmer. Der mit der Ueberwachung dieses Theiles der Festung beauftragte Aufseher mußte die ganze Nacht hier bleiben. Er hatte am Tage vier Stunden zum Schlafen. Wenn er sich langweilte, oder wenn er in dem Wachtzimmer einzuschlafen fürchtete, so stand ihm frei, in dem Corridors auf- und abzugehen.

Es war halb zwölf Uhr, als der Inspector und der neue Schließer sich trennten. Ersterer empfahl Letzterem Pünktlichkeit und Wachsamkeit und der Schließer versprach, daß er ganz gewiß noch mehr leisten würde, als man von ihm erwartete.

In der That hätte Niemand, der ihn mit offenem Auge und lauschendem Ohr an der Thür des Wachzimmers gesehen, welches auf den ersten Corridor und den Fuß der Treppe Nr. 1 ging, ihn beschuldigen können, daß er seinem Worte untreu werde.

So stand er unbeweglich da, bis alles Geräusch in dem Fort verstummte.

Es schlug Mitternacht.

Sechzehntes Capitel.
Die Patrouille

Kaum war der zwölfte Glockenschlag verhallt, so gewann der neue Aufseher, den man bis jetzt für eine Bildsäule der Erwartung hätte halten können, wieder Leben, und stieg, als ob er einen plötzlichen Entschluß gefaßt hätte, ohne Eile, aber auch nicht gerade langsam, die Treppe hinauf.

Hätte man seinen Tritt gehört, hätte man ihn vor- übergehen sehen, hätte man eine Frage an ihn gerichtet, so hätte er blos zu antworten gebraucht: »In Abwesenheit meines Vaters habe ich die Beaufsichtigung des Gefängnisses und ich beaufsichtige.«

Alles aber schlief in der Citadelle. Niemand sah ihn, Niemand hörte ihm, Niemand befragte ihn.

In der zweiten Etage angelangt, durchschritt er den Corridor der ganzen Länge desselben nach und kehrte dann wieder um, aber vorsichtiger, mit leisen Tritten, gespanntem Ohr und den Athem anhaltend.

Plötzlich blieb er vor der Thür des Gefängnisses stehen, welches Luisa bewohnte.

Den Schlüssel zu dieser Thür hatte er schon im Voraus zur Hand genommen. Er steckte ihn so vorsichtig in das Schloß und drehte ihn so langsam um, daß man das Knarren kaum hörte.

Die Thür öffnete sich. Diesmal war die Nacht finster. Der Wind pfiff durch die Gitterstangen des Fensters, dessen Oeffnung nicht einmal zu bemerken war, so dicht war die Finsterniß.

Der junge Mann that, den Athem anhaltend, einen Schritt in das Zimmer hinein.

Dann, da er die Gefangene mit den Augen vergeblich suchte, murmelte er:

»Luisa !«

Ein Hauch trug den Namen »Salvato !« an sein Ohr und in demselben Augenblick umschlangen zwei Arme seinen Hals und sein Mund heftete sich auf den einigen.

Ein Flammenhauch, ein Murmeln der Freude ward ausgetauscht. Es war das erste Mal seit dem Tage der Verurtheilung vor dem Tribunal und folglich ihrer Trennung, daß die beiden Liebenden sich Eines in des Andern Armen sahen.

Ohne Zweifel hatte Salvato durch während des Tages gegebene Zeichen Luisa von diesem Besuch unterrichtet, weil er sonst fürchten mußte, daß die Ueberraschung ihr einen Ausruf des Schreckens entlocken würde.

Auch haben wir soeben gesehen, daß sie, erfüllt von Hoffnung, aber auch von Furcht, gewartet hätte, bis Salvato ihren Namen aussprach, ehe sie ihm antwortete.

In der Annäherung dieser beiden, nur eines für das andere lebenden Herzen lag ein Augenblick stummer und unbeweglicher Extase.

Salvato rüttelte sich zuerst auf.

»Wohlan, theure Luisa, sagte er; »es ist kein Augenblick zu verlieren. Wir sind bei dem Moment angelangt, wo unser gemeinsames Schicksal sich entscheiden wird. Ich habe Dir gesagt: sei ruhig und geduldig. Wir werden beide sterben oder beide leben. Du hast auf mich gerechnet; hier bin ich.«

»Ja, Gott ist groß, Gott ist gut. Was kann ich jetzt thun? Wie kann ich Dir beistehen?«

»Höre,« antwortete Salvato; »ich habe eine Arbeit zu verrichten, welche über eine Stunde dauern wird, nämlich die Gitterstangen des Fensters zu durchsägen. Es ist jetzt einige Minuten nach Mitternacht und wir haben folglich noch vier Stunden Nacht vor uns. Wir wollen nichts übereilen, aber diese Nacht muß auch unser Vorhaben gelingen, denn morgen wird Alles entdeckt sein.«

»Ich frage Dich nochmals, was soll ich während dieser Stunde thun ?«

»Ich lasse die Thür halb geöffnet, wie sie jetzt ist. Du stellt Dich so dazwischen, daß Du mit einem Fuße draußen, mit dem andern im Zimmer steht, und horcht ob irgend ein Geräusch uns Gefahr droht. Bei der mindesten Wahrnehmung rufst Du mich; ich gehe hinaus und schließe die Thür. Sobald diese geschlossen ist, bin ich Beamter und manche die Nachtrunde. Niemand, der mir begegnet, kann mich mit Mißtrauen betrachten, da man mich nur in der Ausübung meiner Pflicht antrifft. Eine Viertelstunde später komme ich wieder und beende das begonnene Werk. Also jetzt Muth und Kaltblütigkeit!«

»Sei unbesorgt, mein Freund, ich werde deiner würdig sein,« antwortete Luisa, indem sie ihm mit beinahe männlicher Kraft die Hand drückte.

Salvato zog nun zwei feine stählerne Feilen aus der Tasche, denn eine konnte während der Arbeit zerbrechen. Nachdem Luisa sich seiner Aufforderung gemäß so gestellt, daß sie jedes Geräusch, welches in den Corridors und auf den Treppen entstand, sogleich hören mußte, begann er die Gitterstäbe mit jener festen, sichern Hand zu durchfeilen, welche keine Gefahr zittern machen konnte.

Die Feile war so fein, daß man das Eingreifen ihrer Zähne in das Eisen kaum hörte. Uebrigens wäre dieses Geräusch, selbst wenn es noch bemerkbarer gewesen, durch das Pfeifen des Windes und das erste Rollen des Donners, welches ein heranziehendes Gewitter verkündete, übertäubt worden.

»Sehr schönes Wetter!« murmelte Salvato, indem er leise dem Donner dankte, daß derselbe für ihn Partie nahm.

Und dann setzte er seine Arbeit weiter fort. Nichts störte ihn darin.

Wie er vorausgesehen, waren nach Verlauf einer Stunde vier Stäbe durchsägt, und das Fenster bot nun eine Oeffnung, die groß genug war, um zwei Personen durchzulassen.

Salvato schlug nun einen Ueberrock abermals in die Höhe und wickelte ein Seil los, welches er sich um den Gürtel geschlungen.

Dieses feste, obschon feingeflochtene Seil war mehr als hinreichend lang, um bis auf dem Erdboden hinabzureichen.

An einem der beiden Enden befand sich ein zu diesem Zwecke vorgerichteter Ring, welcher bestimmt war, in den noch in der Mauer steckenden senkrechten Theil der von Salvato durchsägten Gitterstange gesteckt zu werden.

Salvato machte in gemessenen Entfernungen Knoten in das Seil, damit dieselben seinen Händen und Knieen zum Stützpunkt dienten.

Dann verließ er das Zimmer und durchschritt den Corridor bis an die Stelle, wo derselbe an die Treppe stieß.

Hier blieb er über das schwere eiserne Geländer geneigt, mit dem Auge die Finsterniß durchforschend und mit dem Ohr das Schweigen befragend, einen Augenblick lang unbeweglich und den Athem anhaltend stehen.

»Nichts!«, murmelte er mit einem Ausdruck der Freude und des Triumphes.

Dann drehte er sich rasch herum, kehrte in das Zimmer zurück, zog den Schlüssel aus dem Thürschloß, verschloß die Thür von innen, machte das Schloß dadurch, daß er drei bis vier Nägel hineinschob, unbrauchbar, faßte Luisa in seine Arme, drückte sie an seine Brust, sprach ihr Muth ein, befestigte den Ring an der Eisenstange, band Luisas beide Hände, damit sie nicht durch die Wucht auseinandergerissen würden, fest zusammen und forderte sie dann auf, ihre beiden Arme um seinen Hals zu legen.

Erst jetzt begriff Luisa die Fluchtmethode, welche Salvato in Anwendung zu bringen gedachte, und der Muth entsank ihr bei dem Gedanken, daß sie in der freien Luft schweben und daß sie am Halse ihres Geliebten hängend sich dreißig Fuß hoch hinablassen müßte, während Salvato selbst keine andere Stütze hätte als das Seil.

Ihre Furcht war jedoch stumm. Sie sank auf die Knie nieder, hob ihre mit einem Taschentuch zusammengebundenen Hände zum Himmel empor, sprach leise ein kurzes Gebet, stand dann wieder auf und sagte:

»Ich bin bereit.«

In diesem Augenblick spaltete ein Blitz die dichten, tief herabhängenden Wolken, und bei dem Scheine dieses Blitzes konnte Salvato sehen, wie große Schweißtropfen an Luisa’s bleichem Gesicht herabrannen.

»Wenn es dieses Herablassen ist, was Dich schreckt,« sagte Salvato, der mit Recht auf eine eisernen Muskeln sich verließ, »so stehe ich Dir dafür, daß wir ohne Unfall auf den Boden hinabgelangen.«

»Mein Freund,« antwortete Luisa, »ich sage nochmals: ich bin bereit. Ich habe Vertrauen zu Dir und ich glaube an Gott.«

»Dann,« sagte Salvato, »wollen wir auch keine Minute mehr verlieren.«

Er legte das Seil zum Fenster hinaus, versicherte sich seiner Festigkeit, bot Luisa seinen Kopf dar, damit sie die Kette ihrer Arme um seinen Hals lege, stieg auf einen herbeigeholten Schemel, kroch mit Luisa durch die Oeffnung, umklammerte, ohne sich an das Zittern zu kehren, welches den ganzen Körper der armen Luisa schüttelte, mit seinen Knien das Seil, welches er schon mit den Händen gefaßt hielt, und schwang sich ins Freie hinaus.

Luisa hielt einen Schrei zurück, als sie sich über den Steinplatten schweben und schaukeln fühlte, in der Höhe, welche sie so oft mit Entsetzen gemessen, und schloß die Augen indem sie mit ihren Lippen die Salvato’s suchte.

»Fürchte nichts,« murmelte Salvato leise. »Ich habe Kraft genug, um mich an einem Seile hinabzulassen, selbst wenn es dreimal so lang wäre als dieses.«

Und in der That fühlte Luisa sich mit einer langsamen, gemessenen Bewegung hinabsteigen, welche gleichzeitig die Kraft und die Kaltblütigkeit des gewaltigen Gymnastikers verrieth, der sie zu beruhigen suchte.

In der Mitte des Seiles angelangt hielt Salvato jedoch plötzlich inne.

Luisa öffnete die Augen.

»Was gibt es?« fragte sie.

»Still!« flüsterte Salvato.

Er schien mit gespannter Aufmerksamkeit zu horchen.

Nach Verlauf eines Augenblickes fragte er Luisa mit einer Stimme, die nur für sie allein hörbar war:

»Hörst Du nichts?«

»Die Tritte mehrerer Männer, wie mir scheint,« antwortete Luisa mit einer Stimme, welche schwach war wie der letzte Seufzer eines hinsterbenden Windes.

»Es ist eine Patrouille, sagte Salvato. »Wir würden nicht Zeit haben, den Boden zu erreichen, bevor sie zur Stelle käme. Lassen wir sie nur erst vorbei, dann wollen wir uns vollends hinablassen.«

»Mein Gott! mein Gott! Ich habe keine Kraft mehr,« murmelte Luisa.

»Was thut das, sobald nur ich deren noch habe,« antwortete Salvato.

Während dieses kurzen Gespräches hatten die Tritte sich genähert und Salvato, dessen Augen allein offen geblieben waren, sah bei einer von einem Soldaten getragenen Laterne eine Patrouille von neun Mann, welche die Runde am Fuße der Mauer machte.

Salvato erschrak darüber weiter nicht, denn die Finsterniß war so dicht, daß er, wenn ihn nicht etwa ein Blitz beleuchtete, in der Höhe, in welcher er schwebte, unsichtbar war, und übrigens fühlte er, wie er gesagt, in sich Kraft genug, um zu warten, bis die Patrouille vorüber und verschwunden wäre.

In der That ging die Patrouille auch unter den Füßen der beiden Flüchtlinge vorüber. Zum großen Erstaunen Salvato’s aber, der ihr begierig mit den Augen folgte, machte sie am Fuße des Thurmes Halt, wechselte einige Worte mit einer Schildwache, die er noch gar nicht bemerkt, löste dieselbe durch einen andern Mann ab und ging unter das Gewölbe hinein, wo ein Lichtschimmer von der Laterne sichtbar blieb, und bewies, daß sie unter diesem Gewölbe verweilte.

Wie muthig und gestählt Salvato’s Seele auch war, so fühlte er doch, wie ihn ein leiser Schauer durchrieselte. Er hatte sofort Alles errathen.

Das Verlangen des Prinzen von Calabrien und der Prinzessin Marie Clementine hatte den Haß gegen die arme Luisa San Felice von Neuem belebt. Es waren neue Befehle zu strengerer Ueberwachung ertheilt worden, und eine am Fuße eines Thurmes postierte Schildwache war das Resultat dieses Befehles.

 

Luisa fühlte, als sie an Salvato’s Herzen lag, wie dieses erbebte.

»Was gibt’s?« fragte sie, als sie erschrocken ihre großen Augen aufschlug.

»Nichts,« antwortete Salvato.

»Gott wird uns schützen.«

Und in der That bedurften die Flüchtlinge des Schutzes Gottes in hohem Grade. Eine Schildwache marschierte am Fuße des Thurmes auf und ab, und Salvatos Kräfte, welche wohl zum Hinablassen hinreichten, wären nicht zum Wiederhinaufklettern hinreichend gewesen.

Uebrigens hieß Hinabsteigen der mögliche Tod, Wiederhinaufsteigen dagegen war der sichere Tod.

Salvato zögerte nicht. Er benutzte den Augenblick, wo der Soldat auf seinem regelmäßigen eng begrenzten Gange ihm den Rücken kehrte, und stieg vollends hinab.

In dem Augenblick aber, wo er den Boden berührte, drehte der Soldat sich um und sah zehn Schritte vor sich eine umförmliche Gruppe sich im Dunkel bewegen.

»Wer da?« rief er. Ohne zu antworten rannte Salvato, die vor Schrecken halb ohnmächtige Luisa in seinen Armen haltend, nach dem Meere zu, wo allerdings ein Boot ihm erwartete.

»Wer da?« rief die Schildwache zum zweiten Male und schickte sich an auf die Fliehenden anzuschlagen.

Salvato beschleunigte, sich immer noch stumm verhaltend, seinen Lauf. Er sah das Boot, er erkannte seine Freunde, er hörte die Stimme seines Vaters, welcher ihm »Muth! Muth!« und seinen Matrosen »Haltet dicht an das Land!« zurief.

»Wer da?« schrie der Soldat zum dritten Male um legte an.

Da auch die dritte Frage ohne Antwort blieb, so gab die Schildwache, geleitet durch einen Blitz, welcher in diesem Augenblick den Himmel durchfurchte, nun ohne Weiteres Feuer.

Luisa fühlte wie Salvato zusammenzuckte. Dann stürzte er auf ein Knie nieder und stieß einen Schrei aus, welcher noch mehr Wuth als Schmerz verrieth.

Während der Soldat, der soeben geschossen, schrie: »Zu den Waffen!« versuchte Salvato mit halberstickter Stimme zum letzten Male zu rufen: »Rettet sie!«

Die halb ohnmächtige, vor Schmerz wahnsinnige Luisa, welche mit ihren fest zusammengebundenen Handgelenken und ihren um Salvatos Hals geschlungenen Arm keiner Bewegung fähig war, sah nun wie in einem Traum zwei Trupps Männer oder vielmehr Teufel auf einander losstürzen, die heulend mit einander kämpften und sie mit Füßen traten.

Nach Verlauf von fünf Minuten zerriß der Kampf gleichsam in zwei Theile.

Luisa blieb sterbend in den Händen der Soldaten, die sie zurück nach der Citadelle schleppten, während die Matrosen Salvato in ihr Boot trugen.

Er war todt, denn die Kugel war ihm mitten durchs Herz gegangen, und sein Vater durch einen auf den Kopf erhaltenen Kolbenschlag betäubt.

Als Luisa wieder in ihr Gefängniß trat, ward sie, obschon die erst im siebenten Monat ihrer Schwangerschaft stand, in Folge der so eben erduldeten furchtbaren Gemüthserschütterungen von den Geburtswehen ergriffen und gegen fünf Uhr Morgens von einem todten Kind entbunden.

Eine Gunst oder vielmehr eine Reue der Vorsehung ersparte ihr den letzten Schmerz, sich von ihrem Kind trennen zu müssen.