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Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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CXLIV.
Die Consultation

Es herrschte außen das tiefste Stillschweigen.

Nicht ein Windhauch durchzog die Luft, nicht eine menschliche Stimme ertönte: die Natur war vollkommen ruhig.

Andererseits war der ganze Dienst von Trianon beendigt.

Die Leute von den Ställen und Küchen waren in ihre Zimmer zurückgekehrt; der kleine Hof war öde und verlassen.

Andrée fühlte sich wohl im Grunde ihres Herzens bewegt durch die Wichtigkeit, welche Philipp und der Arzt ihrer Krankheit gaben.

Sie wunderte sich wohl über die Seltsamkeit der Rückkehr des Doctor Louis, der am Morgen die Krankheit für unbedeutend und die Anwendung von Arzneimitteln für unnöthig erklärt hatte; aber bei ihrer tiefen Unschuld war der glänzende Spiegel ihrer Seele nicht einmal getrübt durch den Hauch des Verdachts, der gegen Sie entstanden.

Plötzlich, nachdem er das Licht der Lampe auf sie gerichtet, nahm der Arzt ihre Hand wie ein Freund oder wie ein Beichtvater, und nicht mehr den Puls wie ein Arzt.

Diese unerwartete Bewegung setzte die empfindliche Andrée sehr in Erstaunen; sie war einen Augenblick nahe daran, ihre Hand zurückzuziehen.

»Mein Fräulein,« fragte der Arzt, »haben Sie mich wiederzusehen gewünscht, oder habe ich, indem ich hierherkam, nur dem Wunsche Ihres Bruders nachgegeben?«

»Mein Herr,« antwortete Andrée, »mein Bruder kehrte zurück und kündigte mir an, Sie würden wiederkommen; doch nach dem, was Sie mir diesen Morgen über die Bedeutungslosigkeit meiner Krankheit zu sagen die Güte hatten, würde ich mir nicht die Freiheit genommen haben, Sie abermals zu bemühen.«

Der Doctor verbeugte sich und fuhr fort:

»Ihr Bruder schien erhitzt, eifersüchtig auf seine Ehre und in gewissen Punkten unnachsichtig; deshalb wollten Sie sich ohne Zweifel ihm nicht eröffnen?«

Andrée schaute den Doctor an, wie sie Philipp angeschaut hatte.

»Auch Sie, mein Herr,« sprach Sie mit stolzer Miene.

»Verzeihen Sie, mein Fräulein, lassen Sie mich vollenden.«

Andrée machte eine Geberde, welche Geduld, oder vielmehr Resignation andeutete.

»Es ist also natürlich,« fuhr der Doctor fort, »daß Sie, den Schmerz des jungen Mannes bemerkend und seinen Zorn ahnend, hartnäckig Ihr Geheimniß bewahrten; doch mir gegenüber, mein Fräulein, der ich, glauben Sie es mir, ebenso sehr der Arzt der Seelen, als der des Körpers bin, mir gegenüber, der ich sehe und weiß, der ich Ihnen folglich die Hälfte des peinlichen Weges der Enthüllung erspare, kann ich mit Recht mehr Offenherzigkeit erwarten.«

»Mein Herr,« erwiederte Andrée, »hätte ich nicht das Gesicht meines Bruders sich verfinstern und den Charakter eines wahren Schmerzes annehmen sehen, befragte ich nicht Ihr ehrwürdiges Aeußeres und den Ruf des Ernstes, in dem Sie stehen, so würde ich glauben, Sie seien Beide mit einander übereingekommen, eine Komödie auf meine Kosten zu spielen und mich in Folge der Consultation bewogen durch die Furcht, die Sie mir eingeflößt, eine sehr schwarze und sehr bittere Arznei nehmen zu lassen.«

Die Stirne faltend sprach der Doctor:

»Mein Fräulein, ich flehe Sie an, verharren Sie nicht auf diesem Wege der Verstellung.«

»Der Verstellung!« rief Andrée.

»Ist es Ihnen lieber, wenn ich sage Heuchelei?«

»Mein Herr, Sie beleidigen mich!« rief das Mädchen.

»Sagen Sie, ich errathe Sie.«

»Mein Herr!«

Andrée stand auf; doch der Doctor nöthigte sie sachte, sich wieder zu setzen.

»Nein!« fuhr er fort, »nein, mein Kind, ich beleidige Sie nicht, ich diene Ihnen; und wenn ich Sie überzeuge, rette ich Sie!  . . . Es werden mich also weder Ihr zorniger Blick, noch die geheuchelte Entrüstung, die Sie belebt, in meinem Entschluß wankend machen.«

»Mein Gott! was wollen Sie, was verlangen Sie denn?«

»Gestehen Sie, oder ich bekomme bei meiner Ehre eine erbärmliche Meinung von Ihnen.«

»Mein Herr, noch einmal, mein Bruder ist nicht da, um mich zu vertheidigen, und ich sage Ihnen, daß Sie mich verletzen, daß ich Sie nicht verstehe, und fordere Sie auf, sich klarer, schärfer über diese vorgebliche Krankheit zu erklären.«

»Zum letzten Mal, mein Fräulein,« sprach der Doctor ganz erstaunt, »wollen Sie mir den Schmerz, Sie erröthen zu machen, ersparen?«

»Ich begreife Sie nicht, ich begreife Sie nicht, ich begreife Sie nicht,« wiederholte Andrée dreimal, und schaute dabei den Doctor mit Augen an, welche von Frage, von Herausforderung, und beinahe von Drohung funkelten.

»Nun! ich, ich begreife Sie, mein Fräulein; Sie zweifeln an der Wissenschaft und hoffen Ihren Zustand vor Jedermann zu verbergen; doch Sie täuschen sich, mit einem einzigen Worte schlage ich Ihren ganzen Stolz zu Boden: Sie sind schwanger!  . . .«

Andrée stieß einen furchtbaren Schrei aus und fiel rückwärts auf den Sopha.

Auf diesen Schrei folgte das Geräusch der Thüre, welche heftig aufgestoßen wurde, und Philipp sprang, den Degen in der Faust, das Auge blutig, die Lippen zitternd, mitten ins Zimmer.

»Elender! Sie lügen!« rief er dem Doctor zu.

Der Doctor wandte sich langsam gegen den jungen Mann um, ohne den Puls von Andrée zu verlassen, welche halb todt unter seiner Hand bebte, und sprach mit einer verächtlichen Miene:

»Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, mein Herr, und, entblößt oder in der Scheide, wird mich Ihr Degen nicht zu einer Lüge bewegen.«

»Doctor,« murmelte Philipp und ließ seinen Degen fallen.

»Sie haben gewünscht, daß ich durch eine zweite Untersuchung meine erste Beobachtung noch einmal prüfe, ich habe es gethan; die Gewißheit hat sich nun in mir festgestellt, und nichts wird sie meinem Herzen entreißen. Ich bedaure es lebhaft, junger Mann, denn Sie haben mir ebenso viel Theilnahme eingeflößt, als mir dieses Mädchen Abneigung durch seine Beharrlichkeit in der Lüge einflößt.«

Andrée blieb unbeweglich; doch Philipp machte eine Bewegung.

»Ich bin Familienvater, mein Herr,« fuhr der Doctor fort, »ich begreife, was Sie Alles leiden können, leiden müssen. Ich biete Ihnen meine Dienste an, wie ich Ihnen meine Verschwiegenheit gelobe. Mein Wort ist heilig, mein Herr, und Jedermann wird Ihnen sagen, daß ich mehr an meinem Wort, als an meinem Leben hänge.«

»Oh! mein Herr, es ist unmöglich!«

»Ich weiß nicht ob es unmöglich ist, aber es ist wahr. Gott befohlen, Herr von Taverney.«

Und der Doctor ging mit demselben langsamen, ruhigen Schritt weg, nachdem er liebevoll den jungen Mann angeschaut hatte, der sich vor Schmerz krümmte, und in dem Augenblick, wo sich die Thüre schloß, von den tiefsten Qualen ergriffen zwei Schritte von Andrée auf einen Stuhl sank.

Sobald sich der Arzt entfernt hatte, stand Philipp auf, schloß die Thüre der Hausflur, die des Zimmers, die Fenster, näherte sich Andrée, die ihn mit Erstaunen diese düsteren Vorkehrungen treffen sah, und sprach, die Arme über der Brust kreuzend:

»Du hast mich schändlich und albern getäuscht; schändlich, weil ich Dein Bruder bin, weil ich die Schwäche gehabt habe, Dich zu lieben, Dich Allem vorzuziehen, Dich höher als Alles zu schätzen, und weil dieses Vertrauen von meiner Seite wenigstens das Deinige in Ermanglung von Zärtlichkeit hervorrufen mußte; albern, weil heute das abscheuliche Geheimnis; das uns entehrt, in der Macht eines Dritten ist, weil es sich trotz Deiner Verschloßenheit vielleicht andern Augen geoffenbart hat, weil ich Dich endlich, wenn Du mir gleich am Anfang die Lage, in der Du Dich befindest, gestanden hättest, wenn nicht aus Zuneigung, doch wenigstens aus Selbstsucht vor der Schande bewahrt haben würde, denn indem ich Dich rettete, schonte ich mich. Hierin und dadurch hast Du Dich hauptsächlich verfehlt. Deine Ehre, so lange Du nicht verheirathet bist, gehört gemeinschaftlich denjenigen, deren Namen Du führst, das heißt befleckst. Ich bin nun nicht mehr Dein Bruder, da Du mir diesen Titel abgeleugnet hast; ich bin ein Mann, der dabei betheiligt ist, Dir durch jedes mögliche Mittel das ganze Geheimniß zu entreißen, damit aus diesem Geständniß irgend eine Genugthuung für mich hervorgehe. Ich trete also voll Zorn und Entschlossenheit vor Dich und sage Dir: da Du schändlich genug warst, Deine Hoffnung auf eine Lüge zu setzen, so sollst Du bestraft werden, wie man die Schändlichen bestraft. Gestehe mir also Dein Verbrechen, oder  . . .«

»Drohungen!« rief die stolze Andrée, »Drohungen einem Weibe!«

Und sie stand bleich und selbst drohend auf.

»Ja, Drohungen, nicht einem Weibe, sondern einem Geschöpf ohne Treu’ und Glauben, ohne Ehre.«

»Drohungen!« fuhr Andrée fort, welche allmälig in Verzweiflung gerieth; »Drohungen mir, die ich nichts weiß, die ich nichts begreife, die ich Euch Alle wie blutgierige Narren anschaue, die sich verbunden haben, um mich vor Kummer, wenn nicht vor Scham sterben zu machen!«

»Ja,« rief Philipp, »ja, stirb also, wenn Du nicht gestehst; stirb auf der Stelle, Gott richte Dich, und ich werde Dich schlagen!«

Und der junge Mann raffte krampfhaft seinen Degen auf und setzte rasch wie der Gedanke die Spitze seiner Schwester auf die Brust.

»Gut, gut, tödte mich,« rief Andrée, ohne daß sie über den Blitz erschrak, der aus der Klinge hervorzuckte, ohne daß sie den Schmerz des Stiches zu vermeiden suchte.

Und sie stürzte vor, wie vom Wahnsinn erfaßt, und ihr Sprung war so lebhaft, daß ihr der Degen die ganze Brust durchbohrt hätte, ohne den jähen Schrecken von Philipp und den Anblick einiger Tropfen Blutes, welche die um den Hals seiner Schwester gelegte Mousseline befleckten.

Der junge Mann war mit seinen Kräften und mit seinem Zorn zu Ende; er wich zurück, ließ das Eisen seinen Händen entschlüpfen, fiel schluchzend auf die Kniee, umschlang mit seinen Armen den Leib des Mädchens und rief:

»Andrée! Andrée! nein, nein, ich werde sterben. Du liebst mich nicht mehr, Du kennst mich nicht mehr, ich habe nichts mehr auf dieser Welt zu thun. Oh! Du liebst einen Andern so sehr, Andrée, daß Du den Tod einem in meinen Busen ergossenen Geständniß vorziehst? Oh! Andrée, nicht Du sollst sterben, ich werde sterben!«

 

Und er machte eine Bewegung, um zu fliehen; doch schon hatte ihn Andrer mit ihren beiden zitternden Händen am Halse gefaßt, schon bedeckte sie ihn mit Küssen, schon benetzte sie ihn mit ihren Thränen.

»Nein, nein,« rief sie. »Du hattest von Anfang Recht: Tödte mich! tödte mich, Philipp! denn man sagt, ich sei schuldig. Doch Du, der Du so edel, so rein, so gut bist, Du, den Niemand anklagt, lebe und beklage mich nur, statt mich zu verfluchen.«

»Wohl, meine Schwester,« sprach der junge Mann, »im Namen des Himmels, im Namen unserer früheren Freundschaft, befürchte nichts, weder für Dich, noch für denjenigen, welchen Du liebst; dieser, wer er auch sein mag, wird mir heilig sein, und wäre es mein grausamster Feind, wäre es der Letzte der Menschen. Doch ich habe keinen Feind, Andrée; doch Du bist so edlen Herzens und Geistes, daß Du Deinen Geliebten gut gewählt haben mußt. Ich werde den Mann Deiner Wahl aufsuchen, ich werde ihn meinen Bruder nennen. Du sagst nichts; eine Heirath zwischen Dir und ihm ist also unmöglich? Willst Du das sagen? Gut! es sei, ich werde mich fügen, ich werde meinen ganzen Schmerz für mich behalten, ich werde diese gebieterische Stimme der Ehre, welche Blut fordert, ersticken. Ich verlange nichts mehr von Dir, nicht einmal mehr den Namen dieses Mannes. Es sei, dieser Mann hat Dir gefallen, er ist mir theuer. Nur werden wir Frankreich verlassen und mit einander fliehen. Der König hat Dir, wie man mir sagt, einen reichen Schmuck geschenkt; wir verkaufen ihn; wir schicken die Hälfte des Preises unserem Vater. Mit der anderen Hälfte leben wir unbekannt; ich werde dann Alles für Dich sein, Andrée. Du wirst Alles für mich sein. Ich, ich liebe Niemand; Du siehst, daß ich Dir ergeben bin. Andrée, Du siehst, was ich thue; Du siehst, daß Du auf meine Freundschaft rechnen kannst; sprich, wirst Du mir nach dem, was ich Dir gesagt habe, abermals Dein Vertrauen verweigern? Sprich, wirst Du mich nicht Deinen Bruder nennen?«

Andrée hatte Alles, was der junge Mann gesagt, stillschweigend angehört. Nur das Schlagen ihres Herzens allein bezeichnete das Leben, nur ihr Blick deutete die Vernunft an.

»Philipp,« erwiederte sie nach einem langen Stillschweigen, »Du dachtest, ich liebe Dich nicht, armer Junge; Du dachtest , ich habe einen andern Mann geliebt; Du dachtest, ich habe das Gesetz der Ehre vergessen, ich, die ich ein Mädchen von edlem Blute bin und begreife, welche Pflichten dieses Wort hinsichtlich der Verirrungen auferlegt!  . . . Mein Freund, ich verzeihe es Dir; ja, ja, vergebens hast Du mich für ehrlos gehalten, vergebens hast Du mich schändlich genannt; ja, ja, ich verzeihe Dir; doch ich werde Dir nicht verzeihen, wenn Du mich für so gottlos, für so niederträchtig hältst, daß Du glaubst, ich könnte Dir einen falschen Eid schwören. Ich schwöre Dir, Philipp, bei dem Gott, der mich hört, bei der Seele meiner Mutter, die mich leider, wie es scheint, nicht genug beschützt hat; ich schwöre Dir bei meiner glühenden Liebe für Dich, daß nie ein Liebesgedanke meine Vernunft irregeleitet, daß nie ein Mann zu mir gesagt hat: ,Ich liebe Dich;’ daß nie ein Mund meine Hand geküßt hat; daß ich rein an Geist, jungfräulich an Wünschen bin, und dies wie am Tage meiner Geburt  . . . Nun, Philipp, nun nehme Gott meine Seele, Du hast meinen Leib in Deinen Händen.«

»Es ist gut,« sprach Philipp nach langem Stillschweigen, »es ist gut, Andrée, ich danke Dir. Nun sehe ich klar bis in die Tiefe Deines Herzens. Ja, Du bist rein, unschuldig, theures Opfer; doch es gibt Zaubertränke, vergiftete Liebestränke; es wird Dir einer eine schändliche Falle gestellt haben; was der Lebenden Niemand hätte entreißen können, wird man Dir während Deines Schlafes geraubt haben. Du bist in eine Falle gerathen, Andrée; doch nun sind wir einig und folglich stark. Nicht wahr, Du wirst mir die Sorge für Deine Ehre und die Deiner Rache anvertrauen?«

»Oh! ja, ja,« sprach Andrée mit einem düsteren Feuer; »ja, ja, denn wenn Du mich rächst, wirst Du mich wegen eines Verbrechens rächen!«

»Wohl!« fuhr Philipp fort, »hilf mir, unterstütze mich. Suchen wir mit einander, steigen wir Stunde für Stunde die abgelaufenen Tage hinauf, folgen wir dem hilflichen Faden der Erinnerung, und bei dem ersten Knoten dieses dunklen Gewebes  . . .«

»Oh! das will ich, das will ich, laß uns suchen.«

»Sprich, hast Du Einen bemerkt, der Dir folgte, Dich belauerte?«

»Nein.«

»Niemand hat Dir geschrieben?«

»Niemand.«

»Kein Mann hat Dir gesagt, er liebe Dich?«

»Keiner.«

»Die Frauen haben hiefür einen merkwürdigen Instinct; hast Du in Ermangelung von Briefen, in Ermangelung eines Geständnisses bemerkt, daß Einer nach Dir  . . . begehrte?«

»Ich habe nie dergleichen bemerkt.«

»Liebe Schwester, suche in den Umständen Deines Lebens, in den geheimsten Einzelnheiten.«

»Leite mich.«

»Hast Du einen Spaziergang allein gemacht?«

»Nie, so viel ich mich erinnere, wenn nicht um zur Frau Dauphine zu gehen.«

»Wenn Du Dich in den Park, in den Wald begabst?«

»Nicole begleitete mich immer.«

»Ah! was Nicole betrifft, sie hat Dich verlassen?«

»Ja,«

»An welchem Tag?«

»Am Tag Deiner Abreise, wie ich glaube.«

»Es war ein Mädchen von verdächtigen Sitten. Hast Du die einzelnen Umstände ihrer Flucht erfahren? Suche wohl.«

»Nein, ich weiß nur, daß sie mit einem jungen Mann weggegangen ist, der sie liebte.«

»Was war Deine letzte Beziehung zu diesem Mädchen?«

»Oh! mein Gott, gegen neun Uhr trat sie wie gewöhnlich in mein Zimmer; sie kleidete mich aus, sie bereitete mir mein Zuckerwasser und ging wieder weg.«

»Du hast nicht bemerkt, daß sie irgend Etwas in dieses Wasser mischte?«

»Nein; überdies hätte dieser Umstand keine Wichtigkeit, denn ich erinnere mich, daß ich in dem Augenblick, wo ich das Glas an meine Lippen setzte, eine seltsame Empfindung hatte.«

»Welche?«

»Dieselbe, die mich eines Tags in Taverney ergriff.«

»In Taverney?«

»Ja, bei der Durchreise des Fremden.«

»Welches Fremden?«

»Des Grafen von Balsamo.«

»Des Grafen von Balsamo? Und was für ein Gefühl war dies?«

»Oh! etwas wie ein Schwindel, wie eine Blendung, worauf ich alle meine Sinne verlor.«

»Und Du hast diesen Eindruck in Taverney empfunden, sagst Du?«

»Ja.«

»Unter welchen Umständen?«

»Ich war an meinem Klavier, ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe, ich schaute vor mich hin und erblickte den Grafen in einem Spiegel. Von diesem Augenblick an erinnere ich mich keines Umstandes mehr, wenn nicht, daß ich an meinem Klavier wieder erwachte, ohne die Zeit, die ich geschlafen hatte, ermessen zu können.«

»Sprich, ist dies das einzige Mal, daß Du diese seltsame Empfindung gehabt hast?«

»Ich hatte sie noch einmal, am Tage oder vielmehr in der Nacht des Feuerwerks. Ich wurde von dieser ganzen Menge auf dem Punkt, zermalmt, vernichtet zu werden, fortgerissen; ich raffte alle meine Kräfte zusammen, um zu kämpfen; plötzlich spannten sich meine steif gewordenen Arme ab, eine Wolke umhüllte meine Augen, doch ich hatte noch Zeit, durch diese Wolke denselben Mann zu sehen.«

»Den Grafen Balsamo?«

»Ja.«

»Und Du entschliefst?«

»Ich entschlief oder wurde ohnmächtig. Du weißt, wie er mich forttrug und wie er mich zu meinem Vater brachte.«

»Ja, ja; und in jener Nacht, in der Nacht der Flucht von Nicole hast Du ihn wiedergesehen?«

»Nein; doch ich empfand alle Symptome, welche seine Gegenwart andeuteten: dasselbe seltsame Gefühl, dieselbe Blendung, denselben Schwindel, dieselbe Betäubung, denselben Schlaf.« »Denselben Schlaf?«

»Ja, einen Schlaf mit Schwindel, dessen geheimnißvollen Einfluß ich erkannte, während ich kämpfte, und dem ich unterlegen bin.«

»Großer Gott!« rief Philipp, »fahre fort, fahre fort.«

»Ich entschlief.«

»Wo dies?«

»Auf meinem Bett, dessen bin ich sicher, und ich fand mich wieder auf dem Teppich, allein, leidend und eiskalt wie eine Todte, welche aus dem Grabe aufersteht. Als ich erwachte, rief ich Nicole, doch vergebens; Nicole war verschwunden.«

»Und dieser Schlaf war derselbe?«

»Ja.«

»Derselbe wie in Taverney? derselbe wie am Tag der Festlichkeiten ?«

»Ja. ja.«

»Die zwei ersten Male hattest Du, ehe Du unterlagst, diesen Joseph Balsamo, diesen Grafen von Fönix gesehen?«

»Vollkommen.«

»Und das dritte Mal sahst Du ihn nicht wieder?«

»Nein,« sprach Andrée voll Angst, denn sie fing an zu begreifen, »nein, doch ich errieth ihn.«

»Gut!« rief Philipp; »nun sei ruhig, sei unbesorgt, sei stolz, Andrée; ich kenne das Geheimniß; ich danke Dir, liebe Schwester, ich danke Dir! Ah ! wir sind gerettet!«

Philipp nahm Andrée in seine Arme, drückte sie zärtlich an sein Herz und stürzte, fortgerissen durch das Ungestüm seines Entschlusses, aus dem Zimmer, ohne warten oder hören zu wollen; er lief in den Stall, sattelte selbst sein Pferd, schwang sich auf seinen Rücken und schlug in aller Hast den Weg nach Paris ein.

25 bis 27. Bändchen

CXLV.
Das Gewissen von Gilbert

Alle diese von uns erzählten Ereignisse hatten einen furchtbaren Gegenschlag auf Gilbert hervorgebracht.

Die sehr zweideutige Empfindlichkeit dieses jungen Mannes wurde auf eine zu harte Probe gestellt, da er von irgend einer verborgenen Stelle aus, die er in einem Winkel der Gärten zu wählen wußte, jeden Tag die Fortschritte der Krankheit auf dem Gesichte und im Gang von Andrée wahrnahm; da diese Bläße, die ihn am Tage vorher beunruhigt hatte, am andern Tag noch viel bezeichnender, viel verrätherischer erschien, wenn sich Fräulein von Taverney bei den ersten Strahlen des Tags an ihr Fenster stellte. Wer dann den Blick von Gilbert beobachtet hätte, würde darin die charakteristischen Züge der Gewissensfolter, welche zu einer classischen Zeichnung bei den Malern des Alterthums geworden ist, nicht verkannt haben.

Gilbert liebte die Schönheit von Andrée und durch die Gegenwirkung haßte er sie. Diese glänzende Schönheit begründete in Verbindung mit so vielen andern Vorzügen eine neue Abgrenzungslinie zwischen ihm und dem Mädchen; doch diese Schönheit erschien ihm auch als ein neuer Schag für die Eroberung  . . . Dies waren die Gründe seiner Liebe und seines Hasses, seines Verlangens und seiner Verachtung.

Doch von dem Tage, wo sich diese Schönheit trübte, wo die Züge von Andrée die Verräther eines Leidens oder einer Scham wurden; von dem Tage endlich, wo eine Gefahr für Andrée, eine Gefahr für Gilbert vorhanden war, veränderte sich die Lage der Dinge gänzlich, und Gilbert, ein ausgezeichnet richtiger Geist, veränderte mit dieser Lage auch den Gesichtspunkt.

Sein erstes Gefühl, wir müssen es sagen, war eine tiefe Traurigkeit. Nicht ohne Schmerz sah er die Schönheit, die Gesundheit seiner Geliebten verwelken. Er fühlte es als einen köstlichen Stolz, diese so hoffärtige, gegen ihn so verächtliche Frau zu beklagen und alle Schmach, mit der sie ihn bedeckt, durch Mitleid zu erwiedern.

Wir wollen indessen Gilbert nicht hiedurch entschuldbar finden, der Stolz rechtfertigt nichts. Bei der Art und Weise, wie er die Lage nun in’s Auge zu fassen sich zur Gewohnheit machte, war der Stolz hauptsächlich im Spiele. So oft Fräulein von Taverney, bleich, leidend, gebückt, wie ein Gespenst vor den Augen von Gilbert erschien, sprang das Herz von diesem, das Blut stieg ihm in die Augenlider, wie es die Thränen thun, und er preßte an seine Brust eine krampfhafte, unruhige Hand, welche die Empörung seines Gewissens zurückzudrängen suchte.

»Durch mich ist sie verloren,« murmelte er, und nachdem er sie mit einem wüthenden, verzehrenden Blick angeschaut hatte, entfloh er, während er sie immer wiederzusehen und seufzen zu hören glaubte.

Dann empfand er in seinem Innern einen der brennendsten Schmerzen, die der Mensch zu ertragen vermag. Seine wüthende Liebe bedurfte einer Erleichterung, und zuweilen hätte er sein Leben geopfert, um berechtigt zu sein, vor Andrée auf die Kniee zu fallen, ihre Hand zu nehmen, sie zu trösten, sie in’s Leben zurückzurufen, wenn sie bewußtlos hingesunken war. Seine Ohnmacht bei diesen Gelegenheiten war für ihn eine Strafe, deren Martern nichts in der Welt zu beschreiben vermöchte.

Gilbert ertrug dieses Märtyrthum drei Tage.

Am ersten Tag bemerkte er die Veränderung, die langsame Zersetzung, welche bei Andrée vorging. Da, wo noch Niemand etwas sah, errieth, erklärte er, der Schuldige, Alles. Mehr noch: nachdem er den Gang des Uebels studirt hatte, berechnete er genau die Epoche, wo die Krise eintreten würde. Der Tag der Ohnmachten ging für ihn in Bangigkeiten, in Schweißen, in schwankenden Schritten, sicheren Anzeichen eines gefolterten, rebellischen Gewissens, vorüber. Alles dieses Hin- und Hergehen, diese Miene der Gleichgültigkeit oder des Eifers, diese Aufwallungen der Sympathie oder des Hohnes, welche Gilbert als Meisterwerke der Verstellung und der Taktik betrachtete, hätte der geringste Schreiber des Chatelet, der unterste Schließer von Saint-Lazare so vollkommen analysirt und übersetzt, als la Fouine von Herrn von Sartines die in Ziffern geschriebenen Correspondencen las und übersetzte.

 

Man sieht nicht einen Menschen bis zur Athemlosigkeit laufen, dann plötzlich stille stehen, unartikulirte Töne ausstoßen, dann mit einem Schlag in das schwärzeste Stillschweigen versinken; man sieht nicht auf unbedeutende Geräusche in der Luft horchen, an der Erde kratzen, oder mit einer Art von Wuth die Bäume zerhauen, ohne stille zu stehen und zu sagen:

»Dieser ist ein Narr, wenn er nicht ein Verbrecher ist.«

Nach dem ersten Ausbruch der Gewissensbisse war Gilbert vom Mitleid zur Selbstsucht übergegangen. Er fühlte, die so häufigen Ohnmachten von Andrée würden nicht Jedermann als eine natürliche Krankheit erscheinen, und man würde nach der Ursache forschen.

Gilbert erinnerte sich sodann der so brutalen und raschen Formen der Gerichte, der Verhöre, der Nachforschungen, der der übrigen Welt unbekannten Analogien, welche auf die Spur eines Verbrechens diese bemittelten Leithunde aller Arten von Diebstählen, die einen Menschen entehren können, diese Leithunde, genannt Untersuchungsrichter, bringen.

Der Diebstahl aber, den Gilbert begangen hatte, erschien in moralischer Hinsicht als der gehässigste und strafbarste.

Er zitterte also im Ernste, denn er befürchtete, die Leiden von Andrée könnten eine Untersuchung hervorrufen.

Dem Verbrecher jenes berühmten Gemäldes ähnlich, den der Engel der Reue mit dem bleichen Feuer seiner Fackel verfolgt, wandte Gilbert von nun an seine Blicke unabläßig auf Alles, was ihn umgab. Jedes Geräusch, jedes Flüstern wurde ihm verdächtig. Er horchte auf jedes Wort, das man in seiner Gegenwart aussprach, und so unbedeutend es war, schien es ihm doch eine Beziehung zu Fräulein von Taverney oder zu ihm zu haben.

Er sah Herrn von Richelieu zum König, Herrn von Taverney zu seiner Tochter gehen. Es kam ihm vor, als nähme das Haus an diesem Tag ein ungewöhnliches Aussehen der Verschwörung und des Argwohns an.

Es war noch viel schlimmer, als er den Arzt der Dauphine sich nach dem Zimmer von Andrée wenden sah.

Gilbert gehörte zu jenen Skeptikern, die an gar nichts glauben. Es war ihm wenig an den Menschen und am Himmel gelegen; doch er erkannte als Gott die Wissenschaft und verkündigte ihre Allmacht.

In gewissen Augenblicken hätte Gilbert den unfehlbaren Scharfsinn des höchsten Wesens geleugnet; nie aber würde er an der Hellsichtigkeit des Arztes gezweifelt haben. Die Ankunft des Doctor Louis bei Andrée war ein Schlag, von dem sich der Geist Gilberts nicht erholte.

Jede Arbeit unterbrechend und stumm wie eine Bildsäule gegen die Ermahnungen seiner Obern, lief er nach seinem Zimmer. Hier, hinter dem armseligen Vorhang, den er angebracht hatte, um seine Spähereien zu verkleiden, schärfte er alle seine Sinne in der Absicht, ein Wort, eine Geberde zu erlauern, die ihm das Resultat der Berathung offenbaren würden.

Nichts erleuchtete ihn. Er erblickte nur einmal das Gesicht der Dauphine, welche ans Fenster trat, um durch die Scheiben in den Hof zu schauen, den sie vielleicht noch nie gesehen hatte.

Er konnte auch wahrnehmen, wie der Doctor Louis das Fenster öffnete, um ein wenig Luft in das Zimmer einzulassen. Doch Gilbert vermochte nicht zu hören, was er sagte, er vermochte das Spiel der Physiognomie nicht zu sehen: ein dichter Vorhang fiel am Fenster herab und benahm ihm jede Möglichkeit, die Scene zu beobachten.

Man kann sich die Angst des jungen Mannes denken. Der Arzt mit dem Luchsauge hatte das Geheimniß entdeckt. Der Ausbruch mußte stattfinden; nicht unmittelbar, denn Gilbert nahm mit Recht an, die Gegenwart der Dauphine wäre ein Hinderniß dagegen, doch sogleich, zwischen dem Vater und der Tochter, nach dem Abgang der zwei fremden Personen.

Trunken vor Schmerz und Ungeduld, schlug Gilbert seinen Kopf an die Wände der Mansarde.

Er sah Herrn von Taverney mit der Frau Dauphine weggehen, und der Doctor war schon weggegangen.

»Die Erklärung wird zwischen Herrn von Taverney und der Dauphine stattfinden,« sagte er zu sich selbst.

Der Baron kehrte nicht zu seiner Tochter zurück; Andrée blieb allein zu Hause und brachte die Zeit auf einem Sopha zu, bald bei einer Lecture, welche sie Migräne und Krämpfe zu unterbrechen zwangen, bald in einer solchen Versunkenheit und Unempfindlichkeit, daß Gilbert diesen Zustand für Extase hielt, wenn er eine solche Periode durch den Zwischenraum des Vorhangs, den der Wind aufhob, erschaute.

Ermüdet durch Schmerzen und Gemüthsbewegungen entschlummerte Andrée. Gilbert benützte diese Frist, um auswärts die Gerüchte und Commentare zu sammeln.

Diese Zeit war ihm kostbar, weil er sie zu Betrachtungen verwenden konnte.

Die Gefahr war so drohend, daß er sie durch einen raschen heldenmüthigen Entschluß bekämpfen mußte.

Dies war der erste Stützpunkt, auf welchem dieser gerade durch seine Feinheit schwankende Geist wieder Federkraft und Ruhe gewann.

Doch welchen Entschluß sollte er fassen? Eine Veränderung ist unter solchen Umständen eine Offenbarung. Die Flucht  . . . Ah! ja! die Flucht, mit dieser Thatkraft der Jugend, mit dieser Stärke der Verzweiflung und der Angst, welche die Kräfte eines Menschen verdoppeln und sie der eines Heeres gleichmachen  . . . Sich bei Tag verbergen, bei Nacht marschiren, und endlich anlangen  . . .

Wo?

An welchem Ort sich so gut verbergen, daß der rächende Arm der Gerechtigkeit des Königs nicht dahin zu reichen vermöchte?

Gilbert kannte die Sitten des Landes. Was hält man in beinahe öden, wilden Gegenden, denn an die Städte war nicht zu denken, was hält man in einem Flecken, in einem Dorfe von dem Fremden, der eines Tags kommt und sein Brod bettelt, oder den man im Verdacht hat, er stehle es? Und dann kannte sich Gilbert auswendig; ein merkwürdiges Gesicht, ein Gesicht, das fortan das unvertilgbare Gepräge eines furchtbaren Geheimnisses an sich tragen müßte, würde die Aufmerksamkeit des ersten des besten Beobachters erregen. Fliehen war schon eine Gefahr, doch entdeckt werden war eine Schmach.

Floh Gilbert, so mußte man ihn für schuldig halten; er verwarf diese Idee; und als hätte sein Geist gerade nur Kräfte gehabt, um eine Idee zu finden, fand der Unglückliche nach der Flucht den Tod.

Es war das erste Mal, daß er hieran dachte, die Erscheinung des düsteren Gespenstes, das er heraufbeschwor, verursachte ihm keine Angst.

»Es wird immer noch Zeit sein, an den Tod zu denken, wenn alle Mittel erschöpft sind,« sprach er zu sich selbst. »Ueberdies ist es eine Feigheit, sich zu tödten, wie Herr Rousseau sagt; leiden ist edler.«

Bei diesem Paradoron erhob Gilbert das Haupt und fing wieder an in den Gärten umherzuirren.

Er war im ersten Schimmer der Sicherheit begriffen, als plötzlich Philipp durch seine Ankunft alle seine Ideen niederwarf und ihn in eine neue Reihe von Verlegenheiten und Bangigkeiten stürzte.

Der Bruder! der Bruder herbeigerufen, es war also ganz richtig! Die Familie war entschlossen, zu schweigen, aber mit allen den Nachforschungen, mit dem scharfen Nachspüren, mit den peinlichen Umständen, welche für Gilbert die ganze Bedeutsamkeit des Folterapparats der Conciergerie, des Chatelet und der Tournelles hatten. Man würde ihn vor Andrée schleppen, man würde ihn nöthigen, niederzuknieen, demüthig sein Verbrechen zu bekennen und ihn wie einen Hund mit dem Stock oder mit dem Messer tödten. Eine gesetzliche Rache, deren Straflosigkeit zum Voraus in einer Menge vorhergehender Abenteuer lag.

König Ludwig XV. zeigte sich sehr nachsichtig gegen den Adel bei solchen Veranlassungen.