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Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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CXL.
Rückkehr

Herr von Richelieu wußte, wie es mit Philipp stand, und er hatte mit gutem Gewissen seine Rückkehr verkündigen können, denn er hatte ihn am Morgen, als er von Versailles wegfuhr, um sich nach Luciennes zu begeben, auf der Landstraße in der Richtung gegen Trianon begegnet und war nahe genug an ihm vorübergekommen, um auf seinem Gesichte alle Symptome der Traurigkeit und Unruhe wahrzunehmen.

Nachdem Philipp jeden Grad der Gunst, sodann der Gleichgültigkeit und Vergessenheit durchgemacht, nachdem er Anfangs bis zum Ueberdruß die Zeichen der Freundschaft von allen auf sein Avancement eifersüchtigen Officieren sowohl, als auch die Aufmerksamkeiten seiner Oberen erhalten hatte, nachdem er in demselben Maß, in welchem die Ungnade mit ihrem Hauche dieses glänzende Glück getrübt, die Freundschaften sich in Kälte, die Aufmerksamkeiten in eine zurückstoßende Behandlung hatte verwandeln sehen, nahm der Schmerz in seinem so zarten Gemüth alle Charaktere tiefen Kummers an.

Philipp sehnte sich nach seiner Lieutenantsstelle in Straßburg in jener Zeit zurück, wo die Dauphine in Frankreich eingezogen war; er sehnte sich nach seinen Freunden, nach seines Gleichen, nach seinen Kameraden zurück. Er sehnte sich besonders nach dem ruhigen, reinen Innern des väterlichen Hauses, nach dem Herde zurück, dessen Oberpriester la Brie war. Jedes peinliche Gefühl fand seinen Trost in der Stille und im Vergessen, diesem Schlafe thätiger Geister; dann hatte die Einsamkeit von Taverney, welche von dem Verfall der Dinge, wie vom Ruin der einzelnen Menschen zeugte, etwas Philosophisches, was mit mächtiger Stimme zu dem Herzen des jungen Mannes sprach.

Aber was Philipp hauptsächlich beklagte, war, daß er nicht mehr den Arm seiner Schwester und ihren beinahe immer so richtigen Rath hatte, einen Rath, der mehr aus dem Stolz, als aus der Erfahrung hervorging. Denn edle Seelen haben das Merkwürdige und Ausgezeichnete, daß sie unwillkührlich und gerade durch ihre Natur über dem Gemeinen, dem Gewöhnlichen schweben, und häufig eben durch ihre Erhabenheit der unsanften Berührung, der Verletzung, den Fallen entgehen, was den Insekten von geringerer Klasse, so geschickt sie auch im Koth zu laviren und mit List zu Werke zu gehen wissen mögen, nicht immer gelingt.

Sobald sich Philipp seiner Lage überdrüssig fühlte, faßte ihn die Entmuthigung, und der junge Mann fand sich so unglücklich in seiner Vereinzelung, daß er nicht glauben wollte, Andrée, diese Hälfte von ihm, könnte in Versailles glücklich sein, während er, die Hälfte von Andrée, so grausam in Rheims litt.

Er schrieb also dem Baron den uns bekannten Brief, in welchem er ihm seine nahe bevorstehende Ankunft mittheilte. Dieser Brief setzte Niemand in Erstaunen, und besonders nicht den Baron; worüber dieser sich wunderte, war im Gegentheil, daß Philipp die Geduld gehabt hatte, so lange zu warten, während er auf glühenden Kohlen stand und seit vierzehn Tagen Richelieu, so oft er ihn sah, bat, auf’s Gerathewohl eine Entscheidung der Sache herbeizuführen.

Als Philipp das Patent in der Frist, die er selbst festgestellt, nicht erhielt, nahm er von seinen Officieren Abschied, ohne daß er ihre Verachtung und ihren Hohn zu bemerken schien, was indessen Beides durch die Höflichkeit, damals noch eine französische Tugend, und durch die natürliche Achtung, welche ein Mann von Herz stets einflößt, verschleiert war.

Zur Stunde, wo er abzureisen mit sich selbst übereingekommen war, bis zu welcher Stunde er auch mit mehr Furcht, als Verlangen die Ankunft seines Patents erwartet hatte, stieg Philipp dem zu Folge zu Pferde und schlug den Weg nach Paris ein.

Die drei Tagemärsche, die er zu machen hatte, kamen ihm von einer tödtlichen Länge vor, und je mehr er sich näherte, desto erschreckendere Verhältnisse nahmen das Stillschweigen seines Vaters und besonders das seiner Schwester an, die ihm wenigstens zweimal in der Woche zu schreiben versprochen hatte.

Philipp kam, wie gesagt, gegen zwei Uhr in Versailles an, als Herr von Richelieu eben von dort wegfuhr. Er hatte seinen Marsch einen Theil der Nacht fortgesetzt und nur ein paar Stunden in Melun geschlafen; er war so beklommen, daß er Herrn von Richelieu in seinem Wagen nicht sah und nicht einmal die Livrée erkannte.

Er wandte sich gerade nach dem Gitter des Parks, wo er am Tage seiner Abreise von Andrée Abschied genommen hatte, wo damals das Mädchen, ohne einen Grund der Betrübniß, denn die Wohlfahrt der Familie stand auf einer erfreulichen Höhe, die prophetischen Dünste einer unbegreiflichen Traurigkeit in sein Gehirn steigen fühlte.

Auch Philipp war an jenem Tage auf eine abergläubige Weise von den Schmerzen von Andrée berührt worden; doch allmälig, da der Geist wieder seine Selbstbeherrschung gewonnen, hatte er das Joch abgeschüttelt, und durch einen seltsamen Zufall war es Philipp, der, im Ganzen ohne Grund, zu derselben Stelle derselben Bangigkeit preisgegeben zurückkehrte, und zwar leider, ohne daß er in seinem Innern einen wahrscheinlichen Trost für diese unüberwindliche Traurigkeit fand, welche eine Ahnung zu sein schien, da sie keine Ursache hatte.

In dem Augenblick, wo sein Pferd das Geräusch mit den Funken aus den Kieselsteinen der Allee hervorspringen machte, kam Jemand, ohne Zweifel durch dieses Geräusch angelockt, aus den geschnittenen Buchenwänden hervor.

Es war Gilbert, der ein Gartenmesser in der Hand hielt.

Der Gärtner erkannte seinen ehemaligen Herrn.

Philipp erkannte seinerseits Gilbert.

Gilbert irrte so seit einem Monat umher; seit einem Monat wußte er wie eine Seele im Fegefeuer nicht, wo er Halt machen sollte.

Gewandt, wie er in Ausführung seiner Gedanken war, suchte er an diesem Tag emsig Standpunkte in den Alleen, um den Pavillon oder das Fenster von Andrée zu erschauen, und um beständig einen Blick auf dieses Haus zu haben, ohne daß ein anderer Blick seine Bangigkeiten, seinen Schauer und seine Seufzer wahrnahm.

Das Gartenmesser in der Hand, um sich eine gewisse Haltung zu geben, lief er zwischen Buschwerk und Rabatten umher, schnitt bald mit Blüthen beladene Zweige ab, unter dem Vorwand, sie vom Ungeziefer zu reinigen, riß bald die ganz gesunde Rinde von jungen Linden, unter dem Vorwand, das Harz und den Gummi wegzunehmen, wobei er stets horchte, stets schaute, wünschte und sich sehnte.

Der junge Mann war seit dem abgelaufenen Monat sehr bleich geworden; die Jugend ließ sich in seinem Gesicht nur noch an dem seltsamen Feuer seiner Augen und an der matten und ununterbrochenen Weiße seiner Haut erkennen; doch sein durch die Verstellung zusammengezogener Mund, sein schiefer Blick, die bebende Beweglichkeit seiner Gesichtsmuskeln gehörten schon den düsteren Jahren des reifen Alters an.

Gilbert erkannte, wie gesagt, Philipp und machte, indem er ihn erkannte, eine Bewegung, um in’s Gebüsch zurückzukehren.

Doch Philipp ritt auf ihn zu und rief:

»Gilbert! he! Gilbert!«

Die erste Bewegung von Gilbert war es gewesen, zu entfliehen; noch eine Secunde, und der Schwindel des Schreckens und jenes Delirium ohne eine mögliche Erklärung, das die Alten, die für Alles eine Ursache suchten, dem Gott Pan zuschrieben, bemächtigten sich seiner und rißen ihn wie einen Narren durch die Alleen, durch die Gebüsche, durch die Buchenhecken und sogar in die Bassins fort.

Ein Wort voll Sanftmuth, das Philipp sprach, wurde zum Glück von dem scheuen Kinde gehört und begriffen.

»Du kennst mich also nicht, Gilbert?« rief ihm Philipp zu.

Gilbert begriff seine Thorheit und blieb stehen.

Dann kehrte er um, aber langsam und mißtrauisch.

»Nein, Herr Chevalier,« sagte der junge Mann ganz zitternd, »nein, ich erkannte Sie nicht; ich hielt Sie für einen von den Aufsehern, und da ich nicht bei meiner Arbeit bin, so befürchtete ich, wahrgenommen und zur Bestrafung aufgezeichnet zu werden.«

Philipp begnügte sich mit dieser Erklärung, stieg ab, schlang den Zügel seines Pferdes um seinen Arm, legte die andere Hand auf die Schulter von Gilbert, der sichtbar zitterte, und fragte:

»Was hast Du denn, Gilbert?«

»Nichts, gnädiger Herr,« antwortete dieser.

Philipp lächelte traurig und sprach:

»Du liebst uns nicht, Gilbert.«

Der junge Mann bebte zum zweiten Mal.

»Ja, ich begreife,« fuhr Philipp fort, »mein Vater hat Dich hart und ungerecht behandelt; doch ich, Gilbert?«

»Oh! Sie,« murmelte der junge Mann.

»Ich habe Dich stets geliebt, unterstützt.«

»Das ist wahr.«

»Vergiß also das Böse um des Guten willen; meine Schwester ist auch stets gut gegen Dich gewesen.«

»Oh! was das betrifft, nein,« erwiederte rasch der junge Mann mit einem Ausdruck, den Niemand hätte begreifen können; denn er enthielt eine Anklage gegen Andrée, eine Entschuldigung für ihn selbst, denn er brach wie der Stolz hervor, während er zugleich wie ein Gewissensbiß seufzte.

»Ja, ja,« sagte Philipp, »ja, ich verstehe, meine Schwester ist ein wenig hoffärtig, doch im Grunde ist sie gut.«

Dann nach einer Pause, denn dieses ganze Gespräch fand nur statt, um ein Wiedersehen zu verzögern, das ihn eine Ahnung fürchten machte, fragte Philipp:

»Weißt Du, wo sie in diesem Augenblick ist, meine gute Andrée?«

Dieser Name berührte auf’s Schmerzlichste das Innere von Gilbert; er antwortete mit erstickter Stimme:

»Zu Hause, gnädiger Herr, wie ich glaube. Doch, wie soll ich es wissen  . . .«

»Allein wie immer, und sich langweilend; arme Schwester!« unterbrach ihn Philipp.

»Allein in dieser Welt, ja, gnädiger Herr, aller Wahrscheinlichkeit nach, denn seit der Flucht von Nicole  . . .«

»Wie, Nicole ist entflohen?«

»Ja, mit ihrem Liebhaber.«

»Mit ihrem Liebhaber?«

»Wenigstens so viel ich vermuthe,« sagte Gilbert, der einsah, daß er zu weit gegangen war. »Man sprach so in den Communs.«

 

»Wahrhaftig, Gilbert, das ist mir ganz unbegreiflich,« versetzte Philipp immer unruhiger. »Man muß Dir die Worte entreißen. Sei doch ein wenig liebenswürdiger. Du hast Geist, es fehlt Dir nicht an natürlichem Anstand, verdirb diese guten Eigenschaften nicht durch ein geheucheltes zurückstoßendes Wesen, durch eine Ungeschlachtheit, die sich für Deinen Stand nicht geziemt, die sich für keinen geziemen würde.«

»Aber, gnädiger Herr, ich weiß dies Alles, was Sie mich fragen, nicht, und wenn Sie nachdenken wollen, so werden Sie einsehen, daß ich es nicht wissen kann. Ich arbeite den ganzen Tag in den Gärten, und was man im Schloß thut, ist mir fremd.«

»Gilbert, Gilbert, ich glaubte, Du hättest Augen.«

»Ich?«

»Ja, und Du nähmest Antheil an denjenigen, welche meinen Namen führen: denn wie schlecht am Ende auch die Gastfreundschaft in Taverney gewesen ist, so hast Du sie doch genossen.«

»Ich interessire mich auch ungemein für Sie, Herr Philipp,« sagte Gilbert mit weicherem Stimmtone, denn die Milde von Philipp und ein anderes Gefühl, das dieser nicht begreifen konnte, hatten dieses scheue Herz besänftigt; »ja, ich liebe Sie, und deshalb sage ich Ihnen, daß Fräulein Andrée sehr krank ist.«

»Sehr krank! meine Schwester sehr krank!« rief Philipp voll Heftigkeit; »meine Schwester sehr krank, und Du hast mir das nicht sogleich gesagt!«

Und während er seinen abgemessenen Gang in einen raschen Lauf verwandelte, fragte er:

»Mein Gott, was fehlt ihr denn?«

»Oh! man weiß es nicht«

»Aber wie kam es?  . . .«

»Ich weiß nur, daß sie heute dreimal mitten unter den Blumenbeeten ohnmächtig geworden ist, und zu dieser Stunde hat sie der Arzt der Frau Dauphine schon besucht und der Herr Baron ebenfalls.«

Philipp hörte nicht mehr; seine Ahnungen hatten sich verwirklicht, und der wahren Gefahr gegenüber fand er wieder seinen Muth.

Er ließ sein Pferd in den Händen von Gilbert und lief in der größten Eile nach dem Gebäude der Communs.

Als Gilbert allein war, führte er rasch das Pferd in den Stall und entfloh wie jene scheuen oder schädlichen Vögel, welche nie im Bereiche des Menschen bleiben wollen.

CXLI.
Der Bruder und die Schwester

Philipp fand seine Schwester auf dem kleinen Sopha liegend, von dem wir schon zu sprechen Gelegenheit gehabt haben.

Als der junge Mann in das Vorzimmer kam, bemerkte er, daß Andrée alle Blumen sorgfältig entfernt hatte, sie, die dieselben so sehr liebte; denn seit ihrem Unwohlsein verursachten ihr die Blumen unerträgliche Schmerzen und sie schrieb dieser Reizung der Gehirnfibern alle die Unpäßlichkeiten zu, die bei ihr seit vierzehn Tagen auf einander gefolgt waren.

In dem Augenblick, wo Philipp eintrat, träumte Andrée; ihre mit einer Wolke beladene Stirne war schwerfällig gesenkt und ihre Augen irrten in ihrer schmerzhaften Höhle. Ihre Hände hingen zu Boden, und obgleich in dieser Lage das Blut hätte hinabfallen müßen, waren doch ihre Hände so weiß, wie die eines Wachsbildes.

Ihre Unbeweglichkeit war so groß, daß sie scheinbar nicht mehr lebte, und daß man, um sich zu überzeugen, sie sei nicht todt, ihren Athem hören mußte.

Philipp war immer rascher gegangen seit dem Augenblick, wo ihm Gilbert gesagt hatte, seine Schwester sei krank, so daß er ganz keuchend unten an die Treppe kam; doch hier hatte er einen Halt gemacht, die Vernunft war wieder zu ihm zurückgekehrt, und er war die Stufen mit ruhigerem Schritte hinaufgestiegen, so daß er an der Schwelle des Zimmers nur noch den Fuß geräuschlos und beinahe ohne Bewegung aufsetzte, als wäre er ein Sylphe gewesen.

Er wollte sich durch sich selbst mit jener den Leuten, welche lieben, eigenthümlichen Besorgniß von der Krankheit durch die Symptome Rechenschaft geben. Er kannte Andrée als so zart und so gut, daß er wußte, sie würde sogleich, nachdem sie ihn gesehen und gehört, ihrer Geberde und ihrer Haltung Zwang anthun, um ihn nicht zu beunruhigen.

Philipp öffnete daher bei seinem Eintritt die Glasthüre so sachte, daß es Andrée nicht hörte, und er befand sich mitten im Zimmer, ehe sie etwas vermuthete.

Philipp hatte also Zeit, sie anzuschauen, ihre Bläße, diese Unbeweglichkeit, diese Leblosigkeit wahrzunehmen; er sah den seltsamen Ausdruck dieser Augen, die sich in den leeren Raum versenkten, und beängstigter, als er es sein zu können glaubte, faßte er sogleich den Gedanken, das Geistige habe einen bedeutenden Antheil an den Leiden seiner Schwester.

Bei diesem Anblick, der einen Schauer in seinem Herzen erregte, konnte Philipp eine Bewegung des Schreckens nicht bewältigen.

Andrée schlug die Augen auf und erhob sich, einen gewaltigen Schrei ausstoßend, wie eine Todte, welche wieder erwacht; und ebenfalls ganz keuchend, hing sie sich ihrem Bruder an den Hals.

»Du, Philipp, Du,« sagte sie; und die Kraft verließ sie, ehe sie mehr zu sagen vermochte.

Was hätte sie auch Anderes sagen sollen, da sie nur dieses dachte?

»Ja, ja, ich,« antwortete Philipp, indem er sie umarmte und unterstützte, denn er fühlte, wie sie in seinen Armen zusammensank; »ich komme zurück und finde Dich krank. Ah! theure Schwester, was hast Du denn?«

Andrée lachte auf eine nervige Weise, welche Philipp mehr wehe that, als beruhigte, wie dies die Kranke wollte.

»Was ich habe, fragst Du mich? sehe ich denn krank aus, Philipp?«

»Oh! ja, Andrée, Du bist ganz bleich und zitternd.«

»Woran hast Du denn das gesehen? Ich bin nicht einmal unpäßlich; mein Gott! wer hat Dich denn so schlecht unterrichtet? wer hat die Albernheit begangen, Dich zu ängstigen? Wahrhaftig, ich weiß nicht, was Du damit sagen willst, ich befinde mich ganz vortrefflich, abgesehen von einigen leichten Schwindeln, welche vorübergehen werden, wie sie gekommen sind.«

»Aber Du bist so bleich, Andrée  . . .«

»Habe ich denn gewöhnlich viel Farbe?«

»Nein, Du lebst wenigstens, während Du heute  . . .«

»Es ist nichts.«

»Siehe Deine Hände, so eben glühten sie noch, und nun sind sie kalt wie das Eis.«

»Das ist ganz einfach, Philipp, als ich Dich eintreten sah  . . .«

»Nun!  . . .«

»Fühlte ich mich von einer so lebhaften Freude ergriffen, daß sich das Blut nach dem Herzen zurückzog  . . . nichts Anderes.«

»Aber Du wankst, Andrée, Du hälst Dich an mir.«

»Nein, ich umarme Dich nur; willst Du nicht, daß ich Dich umarme, Philipp?«

»Oh! theure Andrée!«

Und er preßte das Mädchen an sein Herz.

In demselben Augenblick fühlte Andrée, daß sie ihre Kräfte abermals verließen; vergebens suchte sie sich an dem Halse ihres Bruders zu halten, ihre Hand sank starr und beinahe todt herab, und sie fiel wieder auf den Sopha, weißer als die Mousselinevorhänge, auf denen sich ihr reizendes Antlitz hervorhob.

»Siehst Du, siehst Du, daß Du mich getäuscht hast.« rief Philipp. »Ah! theure Schwester Du leidest, Du befindest Dich unwohl.«

»Den Flacon! den Flacon!« murmelte Andrée, während sie den Ausdruck ihres Gesichtes zu einem Lächeln zwang, das sie bis in den Tod begleitete.

Und ihr mattes Auge und ihre kaum erhobene Hand bezeichneten Philipp einen Flacon, der auf einem Tischchen in der Nähe des Fensters stand.

Philipp stürzte nach diesem Tischchen, die Augen beständig auf seine Schwester geheftet, die er nur mit Bedauern verließ.

Dann öffnete er das Fenster, kehrte rasch zu dem Mädchen zurück und hielt den Flacon unter die krampfhaft zusammengezogene Nase von Andrée.

»Gut, gut,« sagte sie, in langen Zügen Luft und Leben einathmend; »Du siehst, daß ich wieder erwacht bin; sprich, hälst Du mich für sehr krank?«

Doch Philipp dachte nicht einmal daran, zu antworten, er schaute seine Schwester an.

Andrée erholte sich allmälig, richtete sich auf ihrem Sopha auf, nahm zwischen ihre feuchten Hände die Hand von Philipp, und da nun ihr Blick sich milderte, da das Blut wieder in ihre Wangen stieg, erschien sie schöner, als sie je gewesen war.

»Ah! mein Gott,« sagte sie, »Du siehst wohl, Philipp, daß es vorbei ist, und ich wette, ohne die Ueberraschung, die Du mir in so guter Absicht bereitet, wären die Krämpfe nicht wieder gekommen und ich wäre genesen; doch so vor mich treten, Du begreifst wohl, Philipp, vor mich, die ich Dich so sehr liebe, Dich, der Du die bewegende Kraft, das Ereigniß meines Lebens bist, das hieße mich tödten wollen, selbst wenn ich mich wohl befände.«

»Ja, dies Alles ist sehr freundlich und artig, Andrée; doch mittlerweile sage mir, welchem Umstand Du dieses Unwohlsein zuschreibst?«

»Was weiß ich, Freund, der Rückkehr des Frühlings, der Jahreszeit der Blumen; Du weißt, wie leicht meine Nerven angegriffen werden; schon gestern hat mich der Geruch des persischen Flieders im Garten beinahe erstickt: Du weißt wie diese herrlichen Blumen, die sich im Frühlingswind schaukeln, berauschende Düfte verbreiten; nun! gestern  . . . oh! mein Gott! Philipp, ich will nicht mehr daran denken, denn das Uebel würde mich, glaube ich, wieder erfassen.«

»Ja. Du hast Recht, und vielleicht ist es das; die Blumen sind sehr gefährlich; Du erinnerst Dich, daß es mir, als ich noch ein Kind war, einmal einfiel, mein Bett mit einem Gewinde von Flieder zu umgeben, den ich von der Hecke abschnitt  . . . es sei dies so hübsch wie ein Ruhealtar, sagten wir damals; doch am andern Tag erwachte ich nicht, Du weißt es; am andern Tag hielt mich Jedermann für todt, nur Du nicht, die Du nie begreifen wolltest, ich habe Dich so verlassen, ohne Dir Lebewohl zu sagen, und Du allein warst es, arme Andrée  . . . Du magst damals kaum sechs Jahre alt gewesen sein  . . . Du allein warst es, die mich durch Küsse und Thränen ins Leben zurückrief.«

»Und durch Luft, Philipp, denn die Luft ist es, was man unter solchen Umständen braucht; an Luft scheint es mir immer zu fehlen.«

»Ah! meine Schwester, meine Schwester, Du erinnertest Dich dessen wohl nicht mehr, und hast Dir Blumen in Dein Zimmer bringen lassen.«

»Nein, Philipp, nein, es sind wahrhaftig vierzehn Tage, daß kein Maßliebchen mehr hierhergekommen ist; ich, die ich die Blumen so sehr liebte, habe seltsamer Weise einen Abscheu dagegen gefaßt. Doch lassen wir die Blumen. Ich hatte also die Migräne; Fräulein von Taverney hatte die Migräne, lieber Philipp, und was für eine glückliche Person ist Fräulein von Taverney! denn um dieser Migräne willen, welche eine Ohnmacht herbeiführte, interessirten sich die Stadt und der Hof für ihr Schicksal.«

»Wie so?«

»Allerdings, die Frau Dauphine hatte die Güte, mich zu besuchen. Oh! Philipp! welch eine reizende Beschützerin, welch eine zarte Freundin ist die Frau Dauphine! sie pflegte mich, sie hätschelte mich, sie brachte mir ihren ersten Arzt, und als dieser gewichtige Mann, dessen Sprüche unfehlbar sind, mir den Puls fühlte und die Augen und die Zunge beschaute, weißt Du, welches äußerste Glück ich da hatte?«

»Nein.«

»Es fand sich ganz einfach, daß ich nicht im Geringsten krank war, der Doctor Louis hatte mir nicht den unbedeutendsten Trank zu verordnen, nicht eine einzige Pille zu verschreiben, er, der jeden Tag, wie man sagt, Arme und Beine abschneidet, daß es Schauder erregt; Du siehst also, Philipp, ich befinde mich ganz wohl. Sprich nun, was hat Dich erschreckt?«

»Der alberne kleine Gilbert, bei Gott!«

»Gilbert?« versetzte Andrée mit einer sichtbaren Regung des Aergers.

»Ja, er hat mir gesagt, Du seist sehr krank.«

»Und Du hast diesem kleinen Dummkopf, diesem Müßiggänger, der zu nichts taugt, als um das Böse zu thun oder zu sagen, geglaubt?«

»Andrée, Andrée?’

»Nun?«

»Du erbleichst abermals.«

»Nein, dieser Gilbert reizt mich; ist es nicht genug, daß ich ihm auf meinem Weg begegne, ich muß auch noch von ihm hören, wenn er nicht da ist?«

»Ah! Du wirst abermals ohnmächtig.«

»Oh! ja, ja, mein Gott!  . . . es ist aber auch  . . .«

Und die Lippen von Andrée erbleichten und ihre Stimme stockte.

»Das ist seltsam,« murmelte Philipp.

Andrée strengte sich an und sprach:

»Nein, es ist nichts; merke nicht auf alle diese Blendungen, auf diese Nebel, Du siehst, ich bin wieder auf meinen Beinen, Philipp; wenn Du mir glauben willst, machen wir einen Gang mit einander, und in zehn Minuten bin ich genesen.«

»Ich glaube, Du täuschest Dich über Deine eigenen Kräfte, Andrée?«

»Nein, die Rückkehr von Philipp würde mir die Gesundheit geben, und wäre ich auch sterbend; wollen wir ausgehen, Philipp?«

»Sogleich, liebe Andrée,« sprach Philipp, der seine Schwester sachte zurückhielt; »Du hast mich noch nicht völlig beruhigt  . . . setze Dich.«

»Es sei.«

Andrée sank wieder auf den Sopha und zog Philipp, den sie an der Hand hielt, zu sich.

 

»Und warum,« fuhr sie fort, »warum sieht man Dich so plötzlich, ohne daß Du eine Nachricht von Dir gegeben?«

»Antworte mir zuerst, liebe Andrée, warum Du mir zu schreiben aufgehört hast?«

»Ja, es ist wahr; doch erst seit einigen Tagen.«

»Seit vierzehn Tagen, Andrée.«

Andrée neigte das Haupt.

»Nachläßige!« sagte Philipp mit einem sanften Vorwurf.

»Nein, aber Leidende, Philipp, Du hast Recht, mein Unwohlsein geht auf den Tag zurück, wo Du Nachricht von mir zu erhalten aufgehört hast; seit jenem Tag haben mir die liebsten Dinge eine Anstrengung, einen Widerwillen bereitet.«

»Nun, ich bin mitten unter dem Allem sehr erfreut über das Wort, das Du vorhin gesagt hast.«

»Welches Wort?«

»Du hast gesagt, Du seist sehr glücklich; desto besser, denn wenn man hier an Dich denkt und Dich liebt, ist doch nicht dasselbe für mich der Fall.«

»Für Dich?«

»Ja, für mich, der ich hier völlig, selbst sogar von meiner Schwester, vergessen wurde.«

»Oh! Philipp.«

»Solltest Du es glauben, meine liebe Andrée, daß ich seit meiner Abreise, die man mir als so dringend bezeichnet hatte, keine Nachricht von dem angeblichen Regiment habe, von dem ich Besitz ergreifen sollte, und das mir der König durch Herrn von Richelieu und selbst durch meinen Vater versprechen ließ?«

»Oh! das wundert mich nicht,« sagte Andrée.

»Wie, das wundert Dich nicht?«

»Nein. Wenn Du wüßtest, Philipp  . . . Herr von Richelieu und mein Vater sind ganz verwirrt, sie scheinen zwei Körper ohne Seele zu sein. Ich kann das Leben von allen diesen Leuten nicht begreifen. Am Morgen läuft mein Vater seinem alten Freund, wie er ihn nennt, nach; er treibt ihn nach Versailles zum König, dann kommt er zurück, um ihn hier zu erwarten, wo er seine Zeit damit hinbringt, daß er Fragen an mich richtet, die ich nicht verstehe. Der Tag vergeht, keine Nachricht. Da geräth Herr von Taverney in seinen großen Zorn. Der Herzog hintertreibt, der Herzog verräth, sagt er. Was hintertreibt der Herzog? wen verräth er? das frage ich Dich, denn ich weiß nichts davon, und ich gestehe, es liegt mir auch nichts daran, es zu erfahren. Herr von Taverney lebt so wie ein Verdammter in seinem Fegefeuer, indem er immer Etwas, was man ihm nicht bringt, Einen, der nie kommt, erwartet.«

»Doch der König, Andrée, der König?«

»Wie, der König?«

»Ja, der König, der uns so geneigt war?«

Andrée schaute furchtsam umher.

»Was hast Du?«

»Höre, der König, – laß uns leise sprechen, – ich halte den König für launenhaft, Philipp. Seine Majestät bezeigte mir Anfangs viel Theilnahme, wie Dir, wie unserem Vater, wie der Familie; doch plötzlich erkaltete diese Theilnahme, ohne daß ich errathen konnte, wie oder warum. Es ist eine Thatsache, daß mich Seine Majestät nicht mehr anschaut, daß sie mir sogar den Rücken zuwendet, und daß sie noch gestern, als ich beim Blumenbeet ohnmächtig wurde  . . .«

»Ah! Du siehst, Gilbert hatte Recht, Du bist ohnmächtig geworden, Andrée?«

»Dieser elende kleine Herr Gilbert hatte in der That nöthig, Dir das zu sagen, es vielleicht aller Welt zu sagen. Was geht es ihn an, ob ich ohnmächtig werde, oder nicht werde. Ich weiß wohl, lieber Philipp,« fügte Andrée lachend bei, »es ist nicht schicklich, in einem königlichen Haus in Ohnmacht zu fallen, doch man wird nicht zu seinem Vergnügen ohnmächtig, und ich habe es nicht absichtlich gethan.«

»Ei! wer tadelt Dich denn deshalb?«

»Der König.«

»Der König?«

»Ja, Seine Majestät kam gerade aus Großtrianon durch den Obstgarten im unglückseligen Augenblick hervor. Ich lag ganz albern, ganz einfältig auf einer Bank in den Armen des guten Herrn von Jussieu ausgestreckt, der mir nach Kräften beistand, als mich der König erblickte. Du weißt, Philipp, die Ohnmacht raubt nicht jede Vorstellung, jedes Bewußtsein von dem, was um uns her vorgeht. Als mich der König erblickte, glaubte ich, so unempfindlich ich scheinbar war, ein Runzeln der Stirne, einen Blick des Zorns und einige sehr unverbindliche Worte, die der König zwischen den Zähnen brummelte, zu bemerken; dann entfernte sich Seine Majestät in aller Eile, sehr geärgert, wie ich glauben muß, darüber, daß ich mir in seinen Gärten unwohl zu werden erlaubt hatte. Doch in der That, Philipp, ich war nicht daran Schuld.«

»Armes Mädchen,« rief Philipp, liebevoll seiner Schwester die Hände drückend, »ich glaube wohl, daß Du nicht daran Schuld warst; doch hernach?«

»Das ist das Ganze, mein Freund; und Herr Gilbert hätte mich mit seinen Erläuterungen verschonen müssen.«

»Ah! nun schmähst Du abermals das arme Kind.«

»Ja wohl, übernimm Du doch die Vertheidigung von diesem reizenden Jungen.«

»Andrée, ich bitte Dich, sei nicht so hart gegen Gilbert, Du verletzt ihn auf das Empfindlichste, Du gehst mit einer schmerzlichen Heftigkeit gegen ihn zu Werk, wie ich selbst gesehen habe  . . . Oh! mein Gott, mein Gott! Andrée, was hast Du wieder?«

Diesmal fiel Andrée rückwärts auf die Kissen des Sopha, ohne ein Wort von sich zu geben; diesmal konnte sie der Flacon nicht zu sich bringen; man mußte warten, bis die Blendung vorüber und der Kreislauf wiederhergestellt war.

»Offenbar,« flüsterte Philipp, »offenbar, meine Schwester, leidest Du so, daß Du Menschen erschreckst, welche muthiger sind, als ich, wenn es sich um Deine Schmerzen handelt; Du magst sagen, was Du willst, diese Unpäßlichkeit scheint mir nicht so leicht behandelt werden zu dürfen, als Du vorgibst.«

»Aber Philipp, da der Doctor erklärt hat  . . .«

»Der Doctor überzeugt mich nicht und wird mich nie überzeugen, wenn ich ihn nicht selbst gesprochen habe. Wo sieht man diesen Doctor?«

»Er kommt jeden Tag nach Trianon.«

»Zu welcher Stunde? etwa am Morgen?«

»Morgens und Abends, wenn er den Dienst hat.«

»Hat er gegenwärtig den Dienst?«

»Ja, mein Freund, und auf den Schlag sieben Uhr, denn er ist sehr pünktlich, wird er die Freitreppe hinaufgehen, die nach der Wohnung der Frau Dauphine führt.«

»Gut,« sagte Philipp ruhiger, »ich werde bei Dir warten.«