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Joseph Balsamo Denkwürdigkeiten eines Arztes 1

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CI.
Das Lit de justice

Es fand statt, dieses Lit de justice mit allem Gepränge, das einerseits der königliche Stolz und andererseits die Intriguen heischten, die den Herrn zu diesem Staatsstreich antrieben.

Die königlichen Haustruppen wurden unter die Waffen gestellt, eine Menge von Bogenschützen, Soldaten von der Scharwache und Polizeiagenten waren bestimmt, den Herrn Kanzler zu beschützen, der wie ein General an einem entscheidenden Tag seine geheiligte Person für den Erfolg des Unternehmens aussetzen sollte.

Der Herr Kanzler war sehr verhaßt; er wußte es, und wenn ihn seine Eitelkeit einen Mord befürchten ließ, so konnten ihm die über die Stimmung des Publicums besser unterrichteten Leute eine schöne und gute Beschimpfung oder wenigstens ein Auszischen prophezeien.

Dieselbe Einnahme war auch Herrn von Aiguillon gesichert, der auf eine dumpfe Weise den durch die Debatten des Parlaments etwas vervollkommten Volksinstinct zurückstieß. Der König heuchelte Heiterkeit; er war indessen nicht ruhig. Aber man sah ihn sich in seinem prachtvollen königlichen Gewand bewundern und unmittelbar die Betrachtung anstellen, nichts beschütze so sehr, als die Majestät.

Er hätte können beifügen: Und die Liebe der Völker; doch das war eine Phrase, die man ihm so oft in Metz während seiner Krankheit wiederholt hatte, daß er sie nicht, ohne des Plagiats beschuldigt zu werden, wiederholen zu können glaubte.

Die Dauphine, für die dieses Schauspiel neu war und die es im Grunde vielleicht zu sehen wünschte, nahm am Morgen ihre königliche Miene an, und diese behielt sie auch auf dem ganzen Weg zur Zeremonie, was die öffentliche Meinung sehr günstig für sie stimmte.

Madame Dubarry war muthig. Sie besaß das Vertrauen, das die Jugend und die Schönheit verleihen. Hatte man übrigens nicht Alles von ihr gesagt und was war noch beizufügen? Sie erschien strahlend, als ob ein Reflex des erhabenen Glanzes ihres Liebhabers auf sie überspränge.

Der Herr Herzog von Aiguillon marschirte kühn unter der Zahl der Pairs, die dem König vorangingen. Sein Gesicht voll Adel und Charakter offenbarte keine Spur von Kummer und Unzufriedenheit. Er trug den Kopf nicht als Triumphator. Wenn man ihn so erscheinen sah, hätte Niemand die Schlacht errathen, die sich der König und die Parlamente auf dem Boden seiner Persönlichkeit geliefert.

Man zeigte ihn sich im Volk mit dem Finger; man schleuderte ihm furchtbare Blicke aus den Reihen der Parlamentsmitglieder zu, und das war Alles.

Der Saal des Parlaments war zum Ueberströmen voll, Interessirte und Interessante bildeten eine Summe von mehr als dreitausend Personen.

Durch die Stäbe der Huissiers, durch die Stöcke und die Massen der Bogenschützen im Zaume gehalten, verrieth die Menge ihre Gegenwart nur durch das unübersetzbare Gesumme, das keine Stimme ist, das nichts articulirt, sich aber dennoch hörbar macht und richtig das Geräusch der Volkswogungen genannt werden könnte.

Dieselbe Stille in dem großen Saal, als das Geräusch der Tritte aufgehört, als Jeder seinen Platz genommen und der König majestätisch und düster seinem Kanzler das Wort zu ergreifen befohlen hatte.

Die Parlamentsmitglieder wußten zum Voraus, was ihnen das Lit de justice bringen sollte. Sie begriffen, warum man sie zusammenberufen hatte. Das geschah, um sie wenig gemäßigte Willensmeinungen hören zu lassen; aber sie kannten die Langmuth, um nicht zu sagen die Schüchternheit des Königs, und wenn sie bange hatten, so war es mehr vor den Folgen des Lit de justice, als vor der Sitzung selbst.

Der Kanzler nahm das Wort. Er war ein Schönredner. Der Eingang seiner Rede war geschickt, und die Liebhaber vom demonstrativen Styl fanden hier eine reichliche Weide.

Indessen artete die Rede in einen so scharfen Verweis aus, daß dem Adel das Lächeln auf die Lippen trat, und die Parlamentsmitglieder sich ziemlich unbehaglich zu fühlen anfingen.

Der König befahl durch den Mund des Kanzlers, alle Angelegenheiten der Bretagne, an denen er genug habe, kurz abzubrechen. Er befahl dem Parlament, sich mit dem Herrn Herzog von Aiguillon auszusöhnen, dessen Dienst ihm wohlgefalle; den Dienst des Gerichts nicht mehr zu unterbrechen, mittelst dessen Alles gehen würde, wie im glücklichen goldenen Zeitalter, wo die Bäche hinliefen, indem sie Reden in fünf Punkten murmelten, wo die Bäume mit Säcken voll von Prozeßakten im Bereiche der Herren Advocaten oder Anwälte beladen waren, welche sie als ihnen gehörige Früchte zu pflücken das Recht hatten.

Diese Leckerbissen söhnten das Parlament eben so wenig mit Herrn von Meaupeou, als mit dem Herrn Herzog von Aiguillon aus. Aber die Rede war gehalten und keine Antwort möglich.

Im höchsten Maße aufgebracht, nahmen alle Parlamentsmitglieder mit jener bewunderungswürdigen Gemeinschaftlichkeit, welche den constituirten Körpern so viel Stärke verleiht, eine ruhige und gleichgültige Haltung an, die Seiner Majestät und der aristokratischen Welt der Tribunen mißfiel.

Die Frau Dauphine erbleichte vor Zorn. Sie fand sich zum ersten Mal in Gegenwart des Volkswiderstands und berechnete kalt die Macht desselben.

Sie war in das Lit de justice mit der Absicht gekommen, dem Entschluß, den man hier fassen oder verkündigen würde, wenigstens dem Aeußeren nach, sehr entgegengesetzt zu sein, allmälig fühlte sie sich aber hingerissen, gemeinschaftliche Sache mit den Leuten ihrer Race und ihrer Kaste zu machen, so daß, wie der Kanzler immer tiefer in das parlamentäre Fleisch einbiß, dieser junge Stolz sich entrüstete, seine Zähne so wenig scharf zu sehen; es kam ihr vor, als würde sie Worte gefunden haben, welche diese Versammlung wie eine Herde Ochsen unter dem Treibstachel aufspringen gemacht hätten. Kurz, sie fand den Kanzler zu schwach und die Parlamentsmitglieder zu stark.

Ludwig XV. war Physiognom, wie es alle Selbstsüchtigen wären, wären sie nicht zugleich träge und selbstsüchtig. Er schaute umher, um die Wirkung seines Willens übertragen durch Worte, die ihm ziemlich beredt vorkamen, zu beobachten.

Die Blässe und die gekniffenen Lippen der Dauphine offenbarten ihm sogleich, was in dieser Seele vorging.

Als Gegengewicht beobachtete er das Gesicht von Madame Dubarry; statt des triumphirenden Lächelns, das er darauf zu finden erwartete, sah er nur eine heftige Begierde, die Blicke des Königs auf sich zu ziehen, als wollte sie beurtheilen, was er dächte.

Nichts schüchtert schwache Geister so sehr ein. als wenn sie durch den Geist und den Willen Anderer überflügelt werden. Sehen sie sich durch einen schon gefaßten Entschluß beobachtet, so schließen sie daraus, sie haben nicht genug gethan, sie werden lächerlich sein, oder seien es schon gewesen, man habe das Recht, mehr von ihnen zu verlangen, als sie gethan.

Dann gehen sie zu Extremen über, der Schüchterne wird brüllend, und eine plötzliche Kundgebung verräth die Wirkung dieser Reaction, hervorgebracht durch die Furcht auf eine minder starke Furcht.

Der König brauchte den Worten seines Kanzlers nicht ein Wort beizufügen, dies war nicht der Etiquette gemäß, es war nicht einmal nothwendig. Aber bei dieser Gelegenheit war er vom schwatzhaften Dämon besessen, er machte ein Zeichen mit der Hand und bedeutete dadurch, daß er sprechen wolle.

Plötzlich verwandelte sich die Aufmerksamkeit in ein tiefes Erstaunen. Man sah alle Köpfe der Parlamentäre sich mit der Präcision der Bewegung einer Reihe unterrichteter Soldaten gegen das Lit de justice umwenden.

Die Prinzen, die Pairs. die Militäre fühlten sich bewegt. Es war nicht anders möglich: nach so vielen guten Dingen, welche gesagt worden, mußte Seine allerchristlichste Majestät nothwendig eine gute Ueberflüßigkeit sprechen. Ihre Achtung verhinderte sie, auf eine andere Weise zu bezeichnen, was aus dem Mund des Königs kommen konnte.

Man sah Herrn von Richelieu, wie er, der sich augenscheinlich fern von seinem Neffen gehalten hatte, sich in diesem Augenblick den opponirendsten Parlamentsmitgliedern näherte, sich ihnen besonders durch den Blick und die geheimnißvolle Verwandtschaft des Einverständnisses näherte.

Aber sein Blick, der meuterisch zu werden anfing, begegnete dem klaren Blick von Madame Dubarry. Richelieu besaß mehr als irgend Jemand die kostbare Kunst der Uebergänge; er ging vom ironischen Ton zum bewundernden über und wählte die Gräfin zum Durchschnittspunkt zwischen den Diagonallinien der beiden Extreme.

Es war also ein Lächeln des Glückwunsches und der Artigkeit, was er im Vorübergehen an Madame Dubarry richtete; doch diese ließ sich nicht dadurch bethören, um so mehr, als der alte Marschall, der seine Correspondenz mit den Parlamentsmitgliedern und den Prinzen von der Opposition anzuspinnen begonnen hatte, diese fortzusetzen sich genöthigt sah, um nicht zu scheinen, was er in Wirklichkeit war.

Wie viel Perspectiven in einem Tropfen Wasser bietet dieser Ocean für den Beobachter! wie viel Jahrhunderte in einer Secunde bietet diese unumfaßbare Ewigkeit! Alles, was wir hier sagen, ging in der Zeit vor, welche Seine Majestät König Ludwig XV. brauchte, um sich zum Sprechen und zum Oeffnen des Mundes vorzubereiten.

»Sie haben gehört,« sprach er mit fester Stimme, »Sie haben gehört, was Ihnen mein Kanzler von meinen Willensmeinungen zu wissen gethan hat. Seien Sie darauf bedacht, dieselben zu vollziehen, denn dies sind meine Gesinnungen und ich werde nie eine Aenderung eintreten lassen.«

Ludwig XV. ließ diese letzten Worte mit dem Geräusch und der Stärke des Donners fallen.

Die ganze Versammlung war auch buchstäblich vom Donner gerührt.

Ein Schauer durchlief alle Parlamentsmitglieder, ein Schauer, der sich unmittelbar der Menge mittheilte, wie der elektrische Funke rasch bis an das Ende des Drahtes läuft. Derselbe Schauer berührte auch die Anhänger des Königs. Das Erstaunen und die Bewunderung waren auf allen Stirnen und in allen Herzen.

 

Elektrisirt, konnte sich Madame Dubarry nicht enthalten, aufzustehen, und sie würde in die Hände geklatscht haben, hätte sie nicht die natürliche Furcht abgehalten, beim Ausgang gesteinigt zu werden, oder am andern Tag hundert Lieder, das eine immer gehässiger als das andere, zu erhalten.

Ludwig XV. durfte sich von diesem Augenblick au seines Triumphes erfreuen.

Die Parlamentsmitglieder beugten ihre Stirne stets mit derselben Gemeinschaftlichkeit.

Der König erhob sich auf seinen mit Lilien gestickten Kissen.

Sogleich erhoben sich auch der Kapitän der Garden, der Commandant der Haustruppen und alle Edelleute.

Die Trommeln rasselten, die Trompeten schmetterten außen. Das beinahe schweigsame Beben des Volkes bei der Ankunft verwandelte sich in ein Tosen, welches in der Ferne, von den Soldaten und Bogenschützen unterdrückt, erlosch.

Der König durchschritt stolz den Saal, ohne auf seinem Wege etwas Anderes zu sehen, als gebeugte Stirnen.

Herr von Aiguillon schritt fortwährend Seiner Majestät voran, ohne seinen Triumph zu mißbrauchen.

Als der Kanzler vor die Thüre des Saales kam und in der Ferne dieses Volk sah, erschrak er über alle diese Blitze, welche trotz der Entfernung bis zu ihm gelangten; er sagte zu den Bogenschützen:

»Schließt Euch mir an.«

Herr von Richelieu, vor dem sich der Herzog von Aiguillon ehrfurchtsvoll verbeugte, sagte zu seinem Neffen:

»Das sind sehr tiefe Stirnen, Herzog, sie werden sich eines Tags teufelmäßig hoch erheben müssen. Nehmen Sie sich in Acht.«

Madame Dubarry, welche in diesem Augenblick mit ihrem Schwager, mit der Marschallin von Mirepoir und mehreren Damen durch den Gang kam, hörte die Worte des alten Marschalls, und da sie im Ganzen weniger Groll, als Lust zu einer raschen Erwiederung hatte, so sprach sie:

»Oh! es ist nichts zu befürchten, Marschall, haben Sie die Worte Seiner Majestät nicht gehört? Der König sagte, wie mir scheint, er würde nie eine Aenderung eintreten lassen.«

»In der That furchtbare Worte, Madame,« entgegnete der alte Herzog mit einem Lächeln; »doch diese armen Parlamentsmitglieder haben zum Glück für Sie nicht gesehen, daß der König, als er sagte, er würde nie eine Aenderung eintreten lassen, Sie anschaute.«

Und er endigte dieses Madrigal mit einer jener unnachahmlichen Verbeugungen, welche man heut zu Tage nicht einmal mehr auf dem Theater zu machen weiß.

Madame Dubarry war Frau, und keines Wegs politisch, sie sah nur das Compliment, da wo Herr von Aiguillon vollkommen den scharfen Witz und die Drohung fühlte.

Sie antwortete auch mit einem Lächeln, während sich ihr Verbündeter auf die Lippen biß und erbleichte, als er den Groll des Marschalls fortdauern sah.

Die Wirkung des Lit de justice war unmittelbar günstig für die königliche Sache. Aber häufig betäubt ein großer Schlag nur, und es ist zu bemerken, daß nach den Betäubungen das Blut mit mehr Stärke und Reinheit fließt.

Dies war wenigstens die Betrachtung, welche, als sie den König mit seinem prunkhaften Gefolge abgehen sah, eine kleine Gruppe einfach gekleideter und als Beobachter an der Ecke des Quai aux fleurs und der Rue de la Barillerie aufgepflanzter Leute anstellte.

Diese Leute waren ihrer drei. Der Zufall hatte sie an dieser Ecke zusammengeführt, und von hier aus schienen sie mit großer Theilnahme die Eindrücke der Menge verfolgt zu haben, und ohne sich zu kennen, hatten sie sich, sobald sie durch einige ausgetauschte Worte mit einander in Berührung gebracht waren, Rechenschaft von der Sitzung gegeben, ehe diese ihr Ende erreichte.

»Die Leidenschaften sind sehr gereift,« sprach einer von ihnen, ein Greis mit glänzenden Augen und sanftem, ehrlichem Gesicht  . . . »Ein Lit de justice ist ein großes Werk.«

»Ja,« erwiederte voll Bitterkeit lächelnd ein junger Mann, »ja, wenn das Werk streng die Worte verwirklicht.«

»Mein Herr,« sagte der Greis sich umwendend, »mir scheint, ich kenne Sie. Ich habe Sie, glaube ich, schon gesehen?«

»In der Nacht vom 31. Mai. Sie täuschen sich nicht, Herr Rousseau.«

»Ah! Sie sind jener junge Wundarzt, mein Landsmann, Herr Marat.«

»Ja, mein Herr, Ihnen zu dienen.«

Die zwei Männer verbeugten sich gegenseitig.

Der Dritte hatte noch nicht das Wort genommen. Es war auch ein junger Mann von edlem Antlitz, der während dieser ganzen Ceremonie nur die Haltung der Menge beobachtete.

Der junge Wundarzt ging zuerst weg; er wagte sich kühn mitten unter das Volk, das ihn, weniger dankbar als Rousseau, schon vergessen hatte, in dessen Andenken er sich jedoch eines Tags zurückzurufen gedachte.

Der andere junge Mann wartete, bis er weggegangen war, und sagte dann, sich an Rousseau wendend:

»Sie gehen nicht, mein Herr?«

»Oh! ich bin zu alt, um mich in das Gedränge zu wagen.«

»Dann,« sagte der Unbekannte, die Stimme dämpfend, »dann diesen Abend in der Rue Plastrière, Herr Rousseau; fehlen Sie nicht!«

Der Philosoph bebte, als ob sich ein Gespenst vor ihm erhoben hätte. Sein gewöhnlich bleiches Gesicht wurde leichenfarbig; er wollte diesem Mann, antworten, aber er war schon verschwunden.

CII.
Vom Einfluß der Worte des Unbekannten auf J. J. Rousseau

Nachdem er diese seltsamen, von einem Mann, den er nicht kannte, ausgesprochenen Worte gehört hatte, durchschritt Rousseau zitternd und unglücklich die Gruppen und machte sich Raum, ohne daß er sich erinnerte, daß er alt war und die Menge fürchtete. Bald hatte er den Pont Notre-Dame erreicht; dann durchschritt er, immer träumend und sich selbst befragend, das Quartier der Grève, durch das er mehr unmittelbar zu dem seinigen gelangte.

»So ist denn,« sagte er zu sich selbst, »dieses Geheimniß, das jeder Eingeweihte mit Gefahr seines Lebens bewahrt, im Besitz des Ersten des Besten. Dies gewinnen die geheimnißvollen Verbindungen, wenn sie durch das Siebtuch des Volkes gehen. Ein Mensch kennt mich, er weiß, daß ich sein Verbündeter und vielleicht sein Mitschuldiger dort sein werde  . . . Ein solcher Zustand der Dinge ist albern und unerträglich.«

Während Rousseau diese Worte sprach, ging er sehr schnell, er, der sich gewöhnlich so vorsichtig benahm, besonders seit seinem Unfall in der Rue Ménil-Montant.

»So,« fuhr der Philosoph fort. »so hätte ich gern aus dem Grunde die Pläne menschlicher Wiedergeburt kennen mögen, welche gewisse Geister beabsichtigen, die sich mit dem Titel Illuminaten schmücken; ich hätte die Thorheit begangen, zu glauben, es können gute Gedanken aus Deutschland, aus diesem Lande des Biers und der Nebel, kommen; ich werde meinen Namen mit dem einiger Thoren oder einiger Ränkeschmiede, denen er als Mantel, um ihre Dummheiten zu bedecken, dienen wird, compromittirt haben. Oh! nein, das soll nicht so sein: nein, ein Blitz hat mir den Abgrund gezeigt; ich werde mich nicht mit heiterem Herzen hineinwerfen.«

Und er stand einen Augenblick stille und unbeweglich mitten in der Straße und schöpfte, auf seinen Stock gestützt, Athem.

»Es war indessen,« fuhr der Philosoph fort, »eine schöne Chimäre: die Freiheit in der Sklaverei, die Zukunft ohne Erschütterung und ohne Geräusch erobert; das geheimnißvolle Garn aufgespannt, während des Schlafes der Tyrannen der Erde … ; das war zu schön und ich bin ein Thor gewesen, daß ich daran glaubte.«

»Ich will keine Befürchtungen, keinen Verdacht, keinen Argwohn, das ist eines freien Geistes und eines unabhängigen Körpers unwürdig.«

Er war bei diesen Worten und hatte seinen Lauf wieder fortgesetzt, als der Anblick von einigen Agenten von Herrn von Sartines, welche mit ihren aufgesperrten Augen umherschweiften, den freien Geist erschreckte und dem unabhängigen Körper einen solchen Impuls gab, daß er sich in der tiefsten Tiefe des Schattens der Pfeiler, unter denen er fortschritt, verlor.

Von hier aus bis nach der Rue Plastrière war es nicht mehr weit; Rousseau durchmaß den Raum mit großer Schnelligkeit, eilte seine Stockwerke hinauf, athmend wie ein Hirsch, den man forcirt, und fiel auf einen Stuhl in seinem Zimmer, ohne daß er ein Wort auf alle Fragen von Therese antworten konnte.

Endlich gab er sich Rechenschaft von seiner Erschütterung: es war der Lauf, die Wärme, die Nachricht vom Zorn des Königs im Lit de justice, ein Anstoß des Schreckens im Volk, ein Gegenschlag von dem, was vorgefallen war.

Therese erwiederte knurrend, dies sei kein Grund, um das Essen kalt werden zu lassen, und überdies dürfe ein Mann nicht ein nasses Huhn sein, das beim geringsten Lärmen scheu werde.

Rousseau hatte auf letzteres Argument, das er so oft mit anderen Ausdrücken laut ausgesprochen, nichts zu erwiedern.

Therese fügte bei, diese Philosophen, diese Leute der Einbildungskraft seien wohl alle dieselben  . . .; in ihren Schriften stoßen sie unablässig mit aller Gewalt ins Horn; sie verkündigen, daß sie vor nichts Furcht haben, Gott und die Menschen seien ihnen wenig; aber bei dem geringsten Bellen des kleinsten Hündchens rufen sie um Hülfe, bei dem unbedeutendsten Fieberanfall schreien sie: »Mein Gott! ich bin todt!«

Es war dies eines von den Lieblingsthematen von Therese, dasjenige, welches ihre Beredtsamkeit am meisten glänzen machte, das, worauf Rousseau, von Natur schüchtern, die schlechtesten Antworten fand. Rousseau ließ mich bei den Tönen dieser scharfen Musik seinen Gedanken, der gewiß so viel werth war, als der von Therese, verstummen trotz aller Schmähungen, welche diese Frau an ihn verschwendete.

»Das Glück besteht aus Wohlgerüchen und aus Gesumme,« sagte er; »das Geräusch und der Geruch sind aber conventionelle Dinge  . . . Wer kann mit Bestimmtheit behaupten, daß die Zwiebel minder gut riecht als die Rose und daß der Pfau minder schön singt als die Nachtigall?«

Nach diesem Axiom, das eben so wohl als ein Paradoxon gelten konnte, begab man sich zu Tisch und speiste.

Rousseau setzte sich nach seinem Mittagsbrode nicht, wie gewöhnlich, an sein Clavier. Er ging zwanzigmal in seinem Zimmer auf und ab und schaute hundertmal durch das Fenster, um das Antlitz der Rue Plastrière zu studiren.

Therese wurde sodann von einem jener Eifersuchtsanfälle erfaßt, wie sie aus Widerspruchsgeist die eigensinnigen Leute, nämlich diejenigen Leute haben, welche die am wenigsten eifersüchtigen auf der Erde sind.

Denn wenn es eine Affectation gibt, welche unangenehm ist, so ist es die eines Fehlers; für die guten Eigenschaften mag es noch hingehen.

Therese, welche die Mannheit, die Leibesbeschaffenheit, den Geist und die Gewohnheiten von Rousseau tief verachtete, Therese, die ihn alt, häßlich und leidend fand, befürchtete nicht, man könnte ihr ihren Mann entführen; sie dachte nicht, die Frauen dürften ihn mit anderen Augen anschauen, als sie selbst. Doch da es eine der leckersten Martern für eine Frau ist, die Marter durch die Eifersucht, so bereitete sie sich zuweilen dieses Vergnügen.

Als sie sah, daß sich Rousseau häufig dem Fenster näherte, träumte und nicht an einem Platz zu bleiben vermochte, sagte sie:

»Gut! ich begreife Ihre ganze Aufregung; Sie haben so eben Jemand verlassen.«

Rousseau schaute sie mit erschrockener Miene an, was ein Anzeichen mehr für sie war.

»Jemand, den Sie wiederzusehen suchen,« fuhr sie fort.

»Wie beliebt?« sagte Rousseau.

»Wir haben Rendez-vous, wie es scheint?«

»Oh!« rief Rousseau, der nun begriff, daß von Eifersucht die Rede war, »Rendez-vous, Sie sind toll, Therese!«

»Ich weiß wohl, daß dies eine Thorheit wäre,« erwiderte sie; »gehen Sie, gehen Sie mit Ihrer Pappendeckelgesichtsfarbe, mit Ihrem trockenen Husten, mit Ihrem Herzklopfen, machen Sie Eroberungen: das ist ein gutes Mittel, sich weiter zu bringen.«

»Therese, Sie wissen wohl, daß dem nicht so ist,« sprach Rousseau ärgerlich; »lassen Sie mich doch ruhig träumen.«

»Sie sind ein Leichtfertiger,« sagte Therese mit dem größten Ernste der Welt.

Rousseau erröthete, als ob man ihm eine Wahrheit oder ein Compliment gesagt hätte.

Therese glaubte sich nun berechtigt, ein furchtbares Gesicht zu zeigen, die Wirthschaft umzukehren, die Thüren klappern zu lassen und mit der Ruhe von Rousseau zu spielen, wie die Kinder mit. den metallenen Ringen spielen, die sie in Schachteln schließen und dann mit gewaltigem Geräusch schütteln.

Rousseau flüchtete sich in sein Cabinet. Dieser Lärmen hatte seine Ideen etwas geschwächt.

Er bedachte, daß es ohne Zweifel gefährlich wäre, der geheimnißvollen Zeremonie, von der der Fremde an der Ecke des Quai gesprochen, nicht beizuwohnen. »Gibt es Strafen gegen die Ausplauderer, so muß es auch gegen die Lauen oder gegen die Nachlässigen geben,« dachte er.

 

»Ich habe noch immer bemerkt, daß die großen Gefahren eben so wenig sind, als die großen Drohungen; die Fälle der Strafanwendung oder der Vollziehung sind bei solchen Umständen höchst selten; aber vor den kleinen Rachehandlungen, vor den duckmäuserischen Streichen, vor den Mystficationen und anderer kleiner Münze muß man sich hüten.

»Eines Tags werden sich die Brüder Maurer dadurch für meine Verachtung bezahlt machen, daß sie einen Strick auf meiner Treppe ausspannen; ich werde ein Bein und die acht bis zehn Zähne brechen, die mir bleiben; oder sie halten einen Bruchstein bereit, den sie mir auf den Kopf fallen lassen, wenn ich an einem Gerüste hingehe; besser noch, es wird in ihrer Maurerei einen Pamphletisten geben, der ganz in meiner Nähe lebt, auf meinem Ruheplatz vielleicht, und durch seine Fenster in mein Zimmer schaut. Das ist nicht unmöglich, da die Versammlungen in der Rue Plastrière selbst stattfinden  . . . Dieser Schelm wird nun Plattheiten über mich schreiben, die mich in ganz Paris lächerlich machen  . . . Habe ich nicht überall Feinde?«

Einen Augenblick nachher änderte Rousseau seinen Gedanken.

»Nun,« sagte er zu sich selbst, »wo ist der Muth. wo ist die Ehre? Ich werde vor mir selbst Angst haben. Ich werde in meinem Spiegel das Gesicht eines Feiglings und eines Schelms sehen  . . . Nein, dem soll nicht so sein  . . . Sollte sich das Weltall zu meinem Unglück verbinden, sollte das Gewölbe dieser Straße über mir einstürzen, ich gehe . . . Schöne Betrachtungen übrigens, welche die Furcht erzeugt. Seit meiner Rückkehr drehe ich mich, wie ich bemerke, wegen des Zusammentreffens mit jenem Menschen, beständig in einem Kreise von Ungereimtheiten. Ich zweifle an Allen und an mir selbst! Das ist nicht logisch  . . . Ich kenne mich, ich bin kein Enthusiast: wenn ich Wunder in der beabsichtigten Verbindung zu sehen glaubte, so war dies der Fall, weil es dabei Wunder gibt  . . . Wer sagt mir, ich werde nicht der Regenerator des Menschengeschlechts sein, ich, den man aufgesucht, ich, den die geheimnißvollen Agenten einer unbegränzten Gewalt auf den Glauben an meine Schriften um Rath gefragt haben! ich sollte zurückweichen, wenn es sich darum handelt, mein eigenes Werk zu vollenden und die Anwendung an die Stelle der Theorie zu setzen!«

Rousseau belebte sich.

»Was kann es Schöneres geben! Die Zeitalter schreiten voran  . . . die Völker treten aus ihrer Verdumpfung hervor, der Schritt folgt dem Schritt in der Dunkelheit, die Hand folgt der Hand im Schatten; es erhebt sich die ungeheure Pyramide, auf welche als Kranz die zukünftigen Jahrhunderte die Büste von Rousseau, dem Bürger von Genf, setzen werden, der, um zu thun, wie er es gesagt, seine Freiheit, sein Leben eingesetzt hat, und seinem Wahlspruch: Vitam impendere vero, treu gewesen ist.

Hienach setzte sich Rousseau entzückt an sein Clavier und steigerte sich vollends seine Pantasie mit den hochtrabendsten, breitesten und kriegerischsten Melodien, die er den Saiten seines sonoren Instrumentes entreißen konnte. Es wurde Nacht. Müde, ihren Gefangenen gemartert zu haben, schlief Therese auf ihrem Stuhl; Rousseau, dessen Herz gewaltig schlug, nahm seinen neuen Rock, als wollte er auf Liebesabenteuer ausgehen; er studirte einen Augenblick im Spiegel das Spiel seiner schwarzen Augen, die er lebhaft und sprechend fand, was ihm äußerst erfreulich war.

Er stützte sich auf seinen Rohrstock und verließ das Zimmer, ohne Therese geweckt zu haben.

Als Rousseau aber unten an die Treppe kam und mit seiner Hand das Schloß der Thüre, die sich nach der Straße öffnete, hatte spielen lassen, fing er damit an, daß er hinausschaute, um sich über den Zustand der Oertlichkeit zu versichern.

Es fuhr kein Wagen vorbei; die Straße war wie gewöhnlich voll von Müßiggängern, die einander anschauten, wie dies noch der Brauch ist, während viele vor den Scheiben der Buden stehen blieben, um die hübschen Ladenmädchen zu beäugeln.

Ein Mensch mehr blieb also in diesem Strudel völlig unbemerkt. Rousseau stürzte sich hinein; er hatte keinen langen Weg zu machen.

Ein Sänger mit einer schrillen Geige stand vor der Thüre, die man Rousseau bezeichnet hatte. Diese Musik, für welche die Ohren jedes wahren Parisers empfänglich sind, erfüllte die Straße mit Echos, die die letzten Noten des Refrain wiederholten, der von der Violine oder von dem Sänger selbst vorgetragen wurde. Nichts konnte also ungünstiger für die Circulation sein, als die Verstopfung, welche an diesem Ort der Kreis der Zuschauer bildete. Alle Vorübergehende mußten sich nothwendig rechts oder links um die Gruppe wenden; diejenigen, welche sich links wandten, schlugen den Weg durch die Straße ein, die, welche sich rechts wandten, zogen sich längs dem bezeichneten Hause hin et vice versa.

Rousseau bemerkte, daß mehrere von diesen Vorübergehenden sich auf dem Wege verloren, als ob sie durch irgend eine Fallthüre versunken wären. Er dachte, diese Leute wären in derselben Absicht gekommen wie er, und beschloß, ihr Manoeuvre nachzuahmen: das war leicht!

Nachdem er hinter die Gruppe der Zuhörer, als wollte er ebenfalls hier stehen bleiben, gegangen war, lauerte er auf die erste Person, die er in den offenen Gang eintreten sah. Furchtsamer als diese, weil er ohne Zweifel mehr zu wagen hatte, wartete er, bis sich die Gelegenheit zehnmal gut zeigte.

Er wartete nicht lange. Ein Cabriolet, das vom Ende der Straße herbeifuhr, schnitt den Kreis entzwei und bewerkstelligte ein Zurückdrängen der zwei Hemisphären nach den Häusern. Rousseau befand sich auf der Schwelle des Ganges selbst; er brauchte nur weiter zu gehen  . . . Unser Philosoph beobachtete, daß alle Neugierige, mit dem Cabriolet beschäftigt, dem Hause den Rücken zuwandten; er benützte seine Vereinzelung und verschwand in der Tiefe des schwarzen Ganges.

Nach einigen Secunden erblickte er ein Licht, unter welchem ein Mensch friedlich sitzend, wie ein Kaufmann, nachdem er den Tag hindurch Waaren verkauft, eine Zeitung las, oder zu lesen sich anstellte.

Bei dem Geräusch der Tritte von Rousseau, schaute dieser Mensch empor und legte sichtbar seinen Finger auf seine ganz durch die Lampe beleuchtete Brust.

Rousseau erwiederte diese symbolische Geberde dadurch, daß er einen Finger auf seine Lippen legte.

Sogleich stand dieser Mensch auf, öffnete eine Thüre zu seiner Rechten, eine unsichtbare Thüre, so künstlich war sie in dem Täfelwerk angebracht, und zeigte Rousseau eine sehr steile Treppe, die sich unter die Erde versenkte.

Rousseau trat ein; die Thüre schloß sich geräuschlos, aber rasch.

Rousseau stieg mit Hülfe seines Stockes die Stufen hinab. Er fand es schlimm, daß ihm die Verbündeten als erste Probe die Gefahr, sich den Hals und die Beine zu brechen, auferlegten.

Doch die Treppe war, wenn auch steil, darum doch nicht lang. Rousseau zählte siebzehn Stufen. und sogleich wurde er von einer großen Wärme überströmt, die ihm in die Augen und ins Gesicht kam.

Diese feuchte Wärme war der Hauch einer gewissen Anzahl im Gewölbe versammelter Menschen.

Rousseau bemerkte die mit roth und weißer Leinwand tapezierten Wände, auf denen mehrere, ohne Zweifel mehr symbolische als wirkliche, Arbeitsinstrumente abgebildet waren. Eine einzige Lampe hing vom Gewölbe herab und warf einen finstern Schimmer auf die ziemlich ehrlichen Gestalten, welche auf hölzernen Bänken sitzend mit leiser Stimme unter sich plauderten.

Er sah weder Erde, noch einen getäfelten Boden, noch einen Teppich, sondern nur eine dichte Binsenmatte, welche den Ton der Tritte dumpfer machte.

Rousseau brachte bei seinem Eintritt durchaus keine Wirkung hervor.

Niemand schien seine Ankunft zu bemerken.

Fünf Minuten vorher wünschte sich Rousseau nichts Anderes, als einen solchen Eintritt, und als dieser stattgefunden halte, war er ärgerlich, daß es ihm so gut gelungen.

Er sah einen Platz leer auf einer der letzten Bänke; er setzte sich darauf so bescheiden, als er konnte, hinter alle Anderen.