Nur auf LitRes lesen

Das Buch kann nicht als Datei heruntergeladen werden, kann aber in unserer App oder online auf der Website gelesen werden.

Buch lesen: «Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4», Seite 29

Schriftart:

XLIV
Der Arzt des Leibes und der Arzt der Seèle

Man begreift, daß nach einem solchen Ereigniß die Abendgesellschaft natürlich unterbrochen war.

Obgleich sich Niemand die Ursachen erklären konnte, welche die Ohnmacht der Königin herbeigeführt hatten, bestand doch die Thatsache.

Als sie die durch den König verbesserte Zeichnung von Gilbert erblickt, hatte die Königin einen Schrei ausgestoßen und war in Ohnmacht gefallen.

So lautete das Gerücht, das in den Gruppen kreiste, und wer nicht zu der Familie oder wenigstens zu den Vertrauten gehörte, zog sich zurück.

Gilbert trug zuerst Sorge für die Königin.

Frau von Lamballe wollte sie nicht in ihre Wohnung bringen lassen. Das wäre auch schwierig gewesen; Frau von Lamballe wohnte im Pavillon de Flore, die Königin im Pavillon Marsan: man hätte also die ganze Länge des Schlosses zu durchschreiten gehabt.

Man legte daher die erhabene Kranke auf ein Canapé im Schlafzimmer der Prinzessin; mit der den Frauen eigenthümlichen inneren Anschauung hatte diese errathen, es sei ein düsteres Geheimniß hierunter verborgen, und sie entfernte Alle, selbst den König, stellte sich oben an das Canapé und wartete mit zart besorgtem Auge, bis die Königin durch die Bemühungen des Doctor Gilbert wieder zum Bewußtsein käme.

Nur von Zeit zu Zeit befragte sie mit einem Wort den Doctor. Doch selbst unvermögend, die Rückkehr des Lebens zu beschleunigen, konnte Gilbert die Prinzessin nur durch allgemeine Versicherungen beruhigen.

Der Schlag, der dem ganzen Nervensysteme der armen Frau beigebracht worden, war in der That so heftig, daß die Anwendung von Riechsalz unter der Nase und das Einreiben von Essig an den Schläfen nicht genügten; endlich zeigten jedoch leichte Zuckungen an den Extremitäten die Rückkehr des Empfindungsvermögens an. Die Königin bewegte matt den Kopf von rechts nach links, wie man es in einem peinlichen Traume thut, gab einen Seufzer von sich und öffnete die Augen.

Doch es war bei ihr offenbar das Leben vor der Vernunft erwacht; sie schaute auch einige Secunden lang im Zimmer umher mit dem unbestimmten Blicke, der eine Person bezeichnet, welche nicht weiß, wo sie sich befindet, noch was ihr widerfahren ist; bald aber durchlief ein leichtes Zittern ihren ganzen Körper, sie stieß einen schwachen Schrei aus und drückte ihre Hand auf ihre Augen, als wollte sie ihnen den Anblick eines erschrecklichen Gegenstandes entziehen.

Sie erinnerte sich.

Die Krise war indessen vorüber. Gilbert, der sich nicht verbarg, der Unfall habe eine ganze moralische Ursache, der auch wußte, wie gering die Wirksamkeit der Arzneiwissenschaft bei solchen Phänomenen ist, schickte sich an, wegzugehen; doch beim ersten Schritte, den er rückwärts machte, streckte die Königin, als hätte sie seine Absicht durch einen inneren Blick errathen, die Hand gegen ihn aus, ergriff ihn beim Arme und sagte mit einer Stimme, welche so nervös als die Geberde, die sie begleitete:

»Bleiben Sie!«

Gilbert blieb ganz erstaunt stehen. Es war ihm nicht unbekannt, wie wenig Sympathie die Königin für ihn hegte; andererseits jedoch hatte er den seltsamen und beinahe magnetischen Einfluß bemerkt, den er auf sie übte.

»Ich bin zu den Befehlen der Königin,« erwiederte er; »aber ich glaube, daß es gut wäre, die Besorgnisse des Königs und der im Salon zurückgebliebenen Personen zu beschwichtigen, und wenn Eure Majestät es erlaubt . . .«

»Therese,« sagte die Königin zur Prinzessin von Lamballe, »melde dem König, daß ich wieder zu mir gekommen bin, und wache darüber, daß man mich nicht stört: ich habe mit dem Doctor zu sprechen.«

Die Prinzessin gehorchte mit jener passiven Sanftheit, welche der vorherrschende Zug ihres Charakters und sogar ihrer Physiognomie war.

Auf ihren Ellenbogen gestützt, folgte die Königin der Prinzessin mit den Augen; sie wartete, als wollte sie ihr Zeit lassen, sich ihres Auftrags zu entledigen, und als sie sah, daß dieser Auftrag wirklich vollzogen war, und daß sie durch die Wachsamkeit von Frau von Lamballe die Freiheit haben sollte, nach Belieben mit dem Doctor zu reden, wandte sie sich aus seine Seite um, heftete ihren Blick auf den seinigen und sagte zu ihm:

»Doctor, sind Sie nicht erstaunt über den Zufall, der Sie mir immer in den physischen und moralischen Krisen meines Lebens gegenüberstellt?«

»Ach! Madame,« erwiederte Gilbert, »ich weiß nicht, ob ich diesem Zufall danken, oder mich über ihn beklagen soll.«

»Warum, mein Herr?«

»Weil ich tief genug im Herzen lese, um wahrzunehmen, daß ich weder Ihrem Wunsche, noch Ihrem Willen diese ehrenvolle Berührung zu verdanken habe.«

»Ich sagte auch: Zufall  . . .Sie wissen, daß ich offenherzig bin. Und Sie haben mir gleichwohl bei den letzten Umständen, die uns im Einklange zu handeln veranlaßten, eine wahre Ergebenheit gezeigt; ich werde das nicht vergessen und danke Ihnen dafür.«

Gilbert verbeugte sich.

Die Königin folgte der Bewegung seines Leibes und seines Gesichtes.

»Ich bin auch Physiognomin,« sagte sie; »wissen Sie, was Sie mir so eben, ohne eine Silbe zu sprechen, geantwortet haben?«

»Madame« erwiederte Gilbert, »ich wäre in Verzweiflung, sollte mein Stillschweigen weniger ehrerbietig sein, als meine Worte!«

»Sie antworteten mir: »»Es ist gut, Sie haben mir gedankt, das ist eine abgemachte Sache; gehen wir zu etwas Anderem über!««

»Ich hegte wenigstens den Wunsch, Ihre Majestät möchte meine Ergebenheit auf eine Probe stellen, welche dieser erlaubte, sich aus eine wirksamere Art, als sie es bis jetzt gethan, zu offenbaren; davon mochte eine gewisse verlangende Ungeduld herrühren, welche die Königin in der That vielleicht in meinem Gesichte wahrgenommen hat.«

»Herr Gilbert,« sprich die Königin, den Doctor fest anschauend, »Sie sind in der That ein Mann von hohem Werthe, und ich thue Ihnen Abbitte; ich hatte Vorurtheile gegen Sie, diese Vorurtheile bestehen nicht mehr.«

»Erlaubt mir Eure Majestät, ihr aus tiefstem Herzen zu danken, nicht für das Compliment, das sie mir gemacht, sondern für die Versicherung, die sie mir zu geben die Gnade gehabt?«

»Doctor,« sprach die Königin, als verkette sich das, was sie sagen wollte, auf eine ganz natürliche Weise mit dem, was sie gesagt hatte, »was denken Sie von dem, was so eben vorgefallen ist?«

»Madame, ich bin ein positiver Mann, ein Mann der Wissenschaft; haben Sie die Güte, mich bestimmter zu fragen.«

»Ich frage Sie, mein Herr, ob Sie glauben, die Ohnmacht, aus der ich erwache, sei durch eine von jenen Nervenkrisen verursacht worden, denen die armen Weiber durch die Schwäche ihrer Organisation unterworfen sind, oder ob Sie vermuthen, dieser Unfall habe eine ernstere Ursache?«

»Ich antworte Eurer Majestät, daß die Tochter von Maria Theresia, die Frau, die ich so muthig in der Nacht vom fünften auf den sechsten October gesehen, keine gewöhnliche Frau ist, und folglich nicht von einem der Zufälle, welche Macht über die gewöhnlichen Frauen haben, erschüttert werden konnte.«

»Sie haben Recht, Doctor; glauben Sie an Ahnungen?«

»Die Wissenschaft verwirft alle diese Phänomene, welche den materiellen Lauf der Dinge über den Haufen werfen würden, und dennoch strafen die Thatsachen zuweilen die Wissenschaft Lügen.«

»Ich hätte sagen sollen: Glauben Sie an Prophezeiungen?«

»Ich glaube, daß die höchste Güte, für unser eigenes Glück, unsere Zukunft mit einem undurchdringlichen Schleier bedeckt. Einige Personen, welche von der Natur einen großen mathematischen Scharfsinn erhalten haben, können durch das tiefe Studium der Vergangenheit dazu gelangen, daß sie eine Ecke von diesem Schleier lüften und, wie durch einen Nebel, die zukünftigen Dinge erschauen; doch diese Ausnahmen sind selten, und seitdem die Religion das Verhängniß ausgehoben, seitdem die Philosophie dem Glauben Grenzen gesetzt hat, haben die Propheten drei Viertel von ihrem Zauber verloren. Und gleichwohl  . . .« fügte Gilbert bei.

»Und gleichwohl?« versetzte die Königin, als sie sah, daß Gilbert nachdenkend inne hielt.

»Und gleichwohl, Madame,« fuhr er fort, als machte er eine Anstrengung gegen sich selbst, um Fragen zu berühren, welche seine Vernunft aus das Gebiet des Zweifels verbannte, »und gleichwohl gibt es einen Mann  . . .«

»Einen Mann?« sagte die Königin, welche mit einem im höchsten Maße gesteigerten Interesse den Worten von Gilbert folgte.

»Es gibt einen Mann, der zuweilen alle Argumente meines Verstandes durch die unverwerflichsten Thatsachen zu Schanden gemacht hat.«

»Und dieser Mann ist?«

»Ich wage es nicht, ihn Eurer Majestät zu nennen.«

»Dieser Mann ist Ihr Lehrer, nicht wahr, Herr Gilbert? der allmächtige Mann, der unsterbliche Mann, der göttliche Cagliostro!«

»Madame, mein einziger, mein wahrer Lehrer ist die Natur. Cagliostro ist nur mein Retter. Von einer Kugel getroffen, welche meine Brust durchbohrte, verlor ich all mein Blut durch eine Wunde, welche ich, Arzt geworden und nach zwanzigjährigen Studien, für unheilbar hätte; er aber hat mich mittelst eines Balsams, dessen Zusammensetzung ich nicht kenne, geheilt; davon rührt meine Dankbarkeit, ich möchte beinahe sagen, meine Bewunderung her.«

»Und dieser Mann hat Ihnen Prophezeiungen gemacht, welche in Erfüllung gegangen sind?«

»Seltsame, unglaubliche, Madame! dieser Mann geht in der Gegenwart mit einer Sicherheit, welche an seine Kenntniß der Zukunft glauben machen sollte.«

»So daß Sie, wenn Ihnen dieser Mann etwas vorhergesagt hätte, an seine Prophezeiung glauben würden?«

»Ich würde wenigstens handeln, als müßte sie sich verwirklichen.«

»So daß Sie sich, wenn er Ihnen einen frühzeitigen, gräßlichen, entehrenden Tod geweissagt hätte, auf diesen Tod vorbereiten würden?«

»Ja, Madame,« erwiederte Gilbert, die Königin tief anschauend, »nachdem ich indessen alle mögliche Mittel, um ihm zu entkommen, aufgesucht hätte.«

»Ihm entkommen? nein, Doctor, nein! Ich sehe wohl, daß ich verurtheilt bin,« sprach die Königin;«diese Revolution ist ein Abgrund, der den Thron verschlingen muß; dieses Volk ist ein Löwe, der mich auffressen wird.«

»Ah! Madame,« erwiederte Gilbert, »der Löwe, der Sie erschreckt, – es hängt von Ihnen ab, ihn sich zu Ihren Füßen wie ein Lamm niederlegen zu sehen.«

»Haben Sie ihn nicht in Versailles gesehen?«

»Haben Sie ihn nicht in den Tuilerien gesehen? Das ist das Meer, Madame, das unablässig, bis es ihn entwurzelt, an den Felsen schlägt, der sich seinem Lause widersetzt, und wie eine Amme die Barke liebkost, die sich ihm anvertraut.«

»Doctor, Alles ist längst zwischen diesen, Wolke und mir zerrissen: es haßt mich, und ich verachte es.«

»Weil Sie das Volk nicht kennen und das Volk Sie nicht kennt! Hören Sie auf, für dasselbe eine Königin zu sein, werden Sie eine Mutter; vergessen Sie, daß Sie die Tochter von Maria Theresia, unserer alten Feindin, die Schwester von Joseph II., unserem falschen Freunde, sind; seien Sie Französin, und Sie werden die Stimmen dieses Volkes sich zu Ihnen erheben hören, um Sie zu segnen, und Sie werden die Arme dieses Volkes sich gegen Sie ausstrecken sehen, um Sie zu streicheln.«

Marie Antoinette zuckle die Achseln.

»Ja, ich weiß das  . . .es segnet gestern, es streichelt heute, und morgen erstickt es diejenigen, welche es gesegnet und gestreichelt hat.«

»Weil es fühlt, daß in diesen ein Widerstand gegen seinen Willen, ein Haß ist, der in Opposition gegen seine Liebe.«

»Und weiß es selbst, was es liebt oder haßt, dieses Volk, dieses zerstörendes Element? zerstörend, wie der Wind, das Wasser und das Feuer, mit den Launen eines Weibes?«

»Weil Sie es vom Ufer aus sehen, Madame, wie derjenige, welcher die Gestade besucht, den Ocean sieht; weil es, ohne scheinbaren Grund vorrückend und sich zurückziehend, zu Ihren Füßen brandet und Sie mit seinen Klagen umhüllt, die Sie für Gebrülle halten; doch nicht so muß man es sehen; man muß es sehen getragen vom Geiste des Herrn, der über den großen Wassern schwebt; man muß es sehen, wie es Gott sieht, in Einheit fortschreitend und Alles brechend, was ein Hinderniß ist, um zu diesem Ziele zu gelangen. Sie sind Königin der Franzosen, Madame, und Sie wissen nicht, was in diesem Augenblick in Frankreich vorgeht. Heben Sie Ihren Schleier auf, Madame, statt ihn niederzulassen, und Sie werden bewundern, statt zu fürchten.«

»Was werde ich denn so Schönes, so Herrliches, so Glänzendes sehen?«

»Sie werden die neue Welt mitten unter den Trümmern der alten sich verschließen sehen; Sie werden die Wiege des zukünftigen Frankreichs auf einem Flusse schwimmen sehen, der breiter ist, als der Nil, als das Mittelländische Meer, als der Ocean  . . .Gott beschütze dich, o Wiege! Gott behüte dich, o Frankreich!«

Und so wenig enthusiastisch Gilbert war, – er erhob die Arme und die Augen zum Himmel.

Die Königin schaute ihn mit Verwunderung an: sie begriff ihn nicht.

»Und wo wird diese Wiege landen?« fragte die Königin. »Bei der Nationalversammlung, dieser Versammlung von Streitern, Zerstörern, Nivellirern? Soll das alte Frankreich das neue führen? Eine traurige Mutter für ein so schönes Kind, Herr Gilbert!«

»Nein, Madame; wo diese Wiege früher oder später, heute, morgen vielleicht, landen soll, das ist an einem bis zu dieser Stunde unbekannten Lande, welches man das Vaterland nennt. Dort wird sie die kräftige Amme finden, welche die Völker stark macht: die Freiheit.«

»Ah! große Worte,« sagte die Königin; »ich glaubte, der Mißbrauch habe sie gethödtet.«

»Nein, Madame, große Dinge!« erwiederte Gilbert. »Sehen Sie Frankreich in dem Augenblick, wo Alles schon eingerissen und nichts wieder aufgebaut ist, wo es keine regelmäßige Municipalitäten, keine Departements hat, wo es keine Gesetze hat, sich aber selbst sein Gesetz macht; sehen Sie es mit festem Auge und sicherem Gange über die über einen Abgrund geworfene schmale Brücke schreiten, die es von einer Welt zur andern führt; sehen Sie diese Brücke, welche so schmal wie die von Mahomet, es geht darüber, ohne zu straucheln  . . .Wohin geht es, dieses alte Frankreich? Zur Einheit des Vaterlands. Alles, was es bis jetzt für schwierig, mühevoll, unmöglich gehalten hat, ist ihm nicht nur möglich, sondern sogar leicht geworden. Unsere Provinzen waren ein Bündel von verschiedenen Vorurtheilen, von entgegengesetzten Interessen, von individuellen Erinnerungen; nichts, glaubte man, würde die Oberhand behalten gegen diese fünfundzwanzig bis dreißig Nationalitäten, welche die allgemeine Nationalität zurückstießen. Werden das alte Toulouse, das alte Languedoc, die alte Bretagne einwilligen, Normandie, Burgund oder Dauphiné zu werden? Nein, Madame, doch Alle werden sich zu Frankreich machen. Warum waren sie so halsstarrig in Betreff ihrer Rechte, ihrer Privilegien, ihrer Gesetzgebung? Weil sie kein Vaterland hatten! Ich habe Ihnen aber gesagt, Madame, das Vaterland ist denselben erschienen, doch sehr fern in der Zukunft vielleicht; doch sie haben es gesehen, sie haben sie gesehen, diese Patria, eine unsterbliche, fruchtbare Mutter, welche sie, die vereinzelten, verlorenen Kinder, zu sich in ihre Arme ruft; diejenige, welche sie zu sich ruft, ist die gemeinschaftliche Mutter; sie hatten die Demuth, sich für Languedocker, Provenzalen, Bretannier, Normannen, Burgunder, Dauphinois zu halten; nein, sie täuschten sich Alle: sie waren Franzosen!«

»Aber wenn man Sie hört,« sagte die Königin mit einem spöttischen Ausdruck, »sollte man glauben, Frankreich, das alte Frankreich, diese älteste Tochter vor Kirche, wie es die Päpste mit dem 9. Jahrhundert nennen, bestehe erst seit gestern?«

»Und das ist gerade das Wunder, Madame, daß es ein Frankreich gab und daß es heute Franzosen gibt; nicht nur Franzosen, sondern sogar Brüder; Brüder, welche sich alle bei der Hand halten. Ei! mein Gott, Madame, die Menschen sind weniger schlimm, als man sagt; sie streben darnach, sich zu socialisiren; um sie zu entzweien, um sie zu verhindern, sich einander zu nähern, brauchte es eine ganze Welt von naturwidrigen Erfindungen: innere Zollstätten, Abgaben aller Art, Barrièren auf den Straßen, Fähren aus den Flüssen, Verschiedenheiten der Gesetze, der Verordnungen, des Maaßes, des Gewichts, Rivalitäten von den Provinzen, vom Lande, von den Städten, von den Dörfern. An einem schönen Tag kommt ein Erdbeben, stürzt alle diese alten Mauern um und zerstört alle diese Hindernisse. Da schauen sich die Menschen an im Angesichte des Himmels, bei dem sanften, guten Sonnenlichte, das nicht nur die Erde, sondern auch die Herzen befruchtet; die Bruderschaft wächst empor wie ein frommes Saatfeld, und erstaunt über den Haß, der sie so lange angetrieben hat, rücken die Feinde nicht gegen einander, sondern zu einander vor, – nicht mit bewaffneten, sondern mit offenen Armen; – nichts Officielles, nichts Befohlenes! Unter dieser steigenden Fluth verschwinden Flüsse und Berge, die Geographie ist getödtet, die Accente sind verschieden, doch die Sprache ist dieselbe, und die Universalhymne, welche dreißig Millionen Franzosen singen, besteht aus den paar Worten:

»Gelobt sei Gott, der uns ein Vaterland gemacht!«

»Nun, woraus zielen Sie ab, Doctor? Glauben Sie mich durch den Anblick dieses Universalbundes von dreißig Millionen Rebellen gegen ihre Königin und ihren König zu beruhigen?«

»Ei! Madame, enttäuschen Sie sich!« rief Gilbert; »nicht das Volk ist rebellisch gegen seine Königin und seinen König, der König und die Königin sind rebellisch gegen ihr Volk; sie sprechen fortwährend die Sprache der Privilegien und des Königthums, während man um sie her die Sprache der Brüderlichkeit und der Hingebung spricht! Werfen Sie die Blicke auf eines von den improvisirten Festen, Madame, und Sie werden beinahe immer mitten aus einer weiten Ebene oder auf dem Gipfel eines Berges einen Altar sehen, einen Altar so rein wie der von Abel, und aus diesem Altar ein kleines Kind, das Alle adoptiren, und das ausgestattet mit den Wünschen, den Gaben, den Thränen Aller das Kind Aller wird. Nun, Madame, Frankreich, das gestern geborene Frankreich, von dem ich spreche, ist das Kind auf dem Altar; nur sind es nicht mehr die Städte und die Dörfer, die sich um diesen Altar gruppiren, es sind die Völker, es sind die Nationen. Frankreich ist der Christus, der in einer Krippe unter Niedrigen für das Heil der Welt geboren worden, und die Völker freuen sich über seine Geburt, bis die Könige die Kniee vor ihm beugen und ihm ihren Tribut bringen. Italien, Polen, Irland, Spanien schauen dieses Kind an, das ihre Zukunft in sich trägt, und, die Augen in Thränen, strecken sie die Hände aus und rufen: »»Frankreich! Frankreich! wir sind frei in dir!«« Madame, Madame!« fügte Gilbert bei, »es ist noch Zeit, nehmen Sie das Kind vom Altar und werden Sie seine Mutter!«

»Doctor,« erwiederte die Königin, »Sie vergessen, daß ich noch andere Kinder habe, die Kinder meines Leibes, und daß ich, wenn ich thue, was sie sagen, sie um eines fremden Kindes willen enterbe.«

»Wenn es so ist, Madame,« sprach Gilbert mit einer tiefen Traurigkeit, »hüllen Sie diese Kinder in Ihren königlichen Mantel, in den Kriegsmantel von Marin Theresia, und tragen Sie sie mit sich aus Frankreich hinaus, denn Sie haben wahr gesprochen, das Volk wird Sie verschlingen und Ihre Kinder mit Ihnen. Nur ist keine Zeit zu verlieren: eilen Sie, Madame, eilen Sie!«

»Und Sie werden sich dieser Abreise nicht widersetzen, mein Herr?«

»Weit entfernt. Nun, da ich Ihre wahren Intentionen kenne, werde ich Ihnen beistehen, Madame.«

»Oh! das kommt vortrefflich,« sagte die Königin, »denn es ist ein Edelmann bereit, zu handeln, sich aufzuopfern, zu sterben!«

»Ah! Madame,« versetzte Gilbert erschrocken, »sprechen Sie nicht von Herrn von Favras?«

»Wer hat Ihnen seinen Namen genannt? wer hat Ihnen seinen Plan enthüllt?«

»Oh! Madame, sehen Sie wohl zu! diesen verfolgt auch eine unglückliche Wahrsagung?«

»Auch wieder von demselben Propheten?«

»Immer, Madame!«

»Und welches Schicksal harrt des Marquis nach der Meinung des Propheten?«

»Ein frühzeitiger, gräßlicher, entehrender Tod, wie der, von welchem Sie vorhin sprachen.«

»Dann sagten Sie die Wahrheit; es ist keine Zeit zu verlieren, um diesen Propheten Lügen zu strafen.«

»Sie wollen Herrn von Favras erklären, daß Sie seinen Beistand annehmen?«

»Man ist zu dieser Stunde bei ihm, Herr Gilbert, und ich erwarte seine Antwort.«

In diesem Augenblick und als Gilbert, selbst erschrocken über die Umstände, in die er sich verwickelt sah, mit seiner Hand über seine Stirne strich, um Licht dahin zu ziehen, trat Frau von Lamballe ein und sagte der Königin leise ein paar Worte in’s Ohr.

»Er trete ein!« rief die Königin, »der Doctor weiß Alles. Doctor,« fuhr sie fort, »es ist Herr Isidor von Charny, der mir die Antwort des Marquis von Favras bringt. Morgen wird die Königin Paris verlassen haben, übermorgen werden wir außerhalb Frankreich sein. Kommen Sie, Baron, kommen Sie  . . .Großer Gott! was haben Sie? und warum sind Sie so bleich?«

»Die Frau Prinzessin von Lamballe hat mir gesagt; ich könne vor dem Doctor Gilbert reden?« fragte Isidor.

»Und sie hat wahr gesprochen; ja, ja, reden Sie, Sie haben den Marquis von Favras gesehen?  . . .Der Marquis ist bereit?  . . .wir nehmen sein Anerbieten an, wir werden Paris verlassen, Frankreich verlassen!  . . .«

»Der Marquis von Favras ist vor einer Stunde in der Rue Beaurepaire verhaftet und nach dem Chatelet geführt worden,« antwortete Isidor.

Der Blick der Königin begegnete, leuchtend, verzweiflungsvoll, von Zorn entbrannt, dem von Gilbert.

Die ganze Stärke von Marie Antoinette schien sich jedoch in diesem Blitze erschöpft zu haben.

Gilbert trat auf sie zu und sprach mit einem Ausdrucke tiefen Mitleids: »Madame, kann ich Ihnen zu etwas nützen, so verfügen Sie über mich; meinen Verstand, meine Ergebenheit, mein Leben, Alles lege ich zu Ihren Füßen.«

Die Königin schlug die Augen zu Gilbert auf und sagte langsam, im Tone tiefer Resignation:

»Herr Gilbert, Sie, der Sie so gelehrt sind und heute Morgen dem Versuche beigewohnt haben, sind Sie der Ansicht, daß der Tod, den diese abscheuliche Maschine gibt, so sanft ist, als es ihr Erfinder behauptet?«

Gilbert seufzte und bedeckte seine Augen mit seinen Händen.

*                   *
*

In diesem Augenblick verlangte Monsieur, der Alles wußte, was er wissen wollte, denn das Gerücht von der Verhaftung des Marquis von Favras hatte sich in ein paar Secunden im ganzen Palaste verbreitet, in aller Hast seinen Wagen und entfernte sich, ohne sich um die Gesundheit der Königin zu bekümmern, und beinahe ohne Abschied zu nehmen. Ludwig XVI. aber versperrte ihm den Weg.

»Mein Bruder,« sagte er, »ich denke, Sie haben keine so große Eile, nach dem Luxembourg zurückzukehren, daß Ihnen nicht Zeit bliebe, mir einen Rath zu ertheilen. Was soll ich nach Ihrer Ansicht thun?«

»Sie wollen mich fragen, was ich an Ihrer Stelle thun würde?«

»Ja.«

»Ich würde Herrn von Favras preisgeben und der Constitution Treue schwören.«

»Wie soll ich einer Constitution, die nicht vollendet ist, Treue schwören?«

»Ein Grund mehr,« erwiederte Monsieur mit dem falschen, schielenden Blicke, der aus den tiefsten Krümmungen seines Herzens kam, »ein Grund mehr, daß Sie sich nicht verpflichtet glauben, Ihren Eid zu halten.«