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Buch lesen: «Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4», Seite 117

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Epilog

I
Was am 15. Februar 1794 Ange Pitou und Catherine Billot thaten

Etwas über ein Jahr nach der Hinrichtung des Königs und der Abreise von Gilbert, Sebastian und Billot, an einem schönen, kalten Morgen des furchtbaren Winters von 1794, warteten drei bis vierhundert Personen, – das heißt ein Sechstel der Bevölkerung von Villers-Coterets, – auf dem Schloßplatze und im Hofe der Mairie auf den Abgang von zwei Verlobten, aus denen unser alter Bekannter, Herr von Longpré, eben ein Ehepaar machte.

Diese zwei Verlobten waren Ange Pitou und Catherine Billot.

Ach! es hatte ernster Ereignisse bedurft, um die frühere Geliebte des Vicomte von Charny, die Mutter des kleinen Isidor, dahin zu bringen, daß sie Frau Ange Pitou wurde.

Diese Ereignisse, Jeder erzählte und erklärte sie al seine Weise; doch auf welche Weise man sie auch er zählte und erklärte, es war nicht eine Erzählung in, Umlaufe auf dem Platze, die nicht der aufopfernden Ergebenheit von Ange Pitou und dem vernünftigen Benehmen von Catherine Billot zum größten Ruhme gereichte.

Nur je mehr die zukünftigen Gatten Theilnahme erregten, desto mehr beklagte man sie.

Vielleicht waren sie glücklicher als irgend eines von den diese Menge blendenden männlichen und weiblichen Individuen; doch die Menge ist so beschaffen: sie muß immer beklagen oder beneiden.

An diesem tage war sie dem Mitleiden zugewandt: sie beklagte.

Die von Cagliostro am Abend des 21. vorhergesehenen Ereignisse waren in der That mit einem entsetzlichen Gange fortgeschritten und hatten eine lange, unvertilgbare Blutspur zurückgelassen.

Am 1. Februar 1793 erließ der Nationalconvent ein Decret, daß den Befehl, eine Summe von achtdundert Millionen Assignate zu schöpfen, enthielt, was die Gesamtsumme der ausgegebenen Assignate auf drei Milliarden hundert Millionen erhöhte.

Am 28. März 1793 erließ der Convent, auf den Bericht von Treillard, ein Decret, das die Emigranten auf ewige Zeiten verbannte, sie für bürgerlich todt erklärte und ihre Güter zum Nutzen der Republik confiscirte.

Am 7. November erließ der Convent ein Decret, das den Ausschuß für den öffentlichen Unterricht beauftragte, einen Plan darauf abzielend, einen vernünftigen und bürgerlichen Cultus dem katholischen Cultus zu substituiren, dem Convente vorzulegen.

Wir sprechen nicht von der Aechtung und dem Tode der Girondisten. Wir sprechen nicht von der Hinrichtung des Herzogs von Orleans, der Königin, von Bailly, Danton, Camille Desmoulins und vielen Anderen, denn diese Ereignisse hatten ihren Wiederhall in Villers-Coterets gehabt, aber keinen Einfluß auf die Personen geübt, mit denen wir uns noch zu beschäftigen haben.

Das Resultat der Confiscation der Güter war, daß da man Gilbert und Billot als Emigranten betrachtete, ihre Güter confiscirt und verkauft wurden.

Ebenso war es mit den Gütern des am 10. August getödteten Grafen von Charny und der am 2. September geschlachteten Gräfin.

In Folge dieses Decrets wurde Catherine vor die Thüre des Pachthofes von Pisseleu gesetzt, den man als Nationaleigenthum ansah.

Pitou wollte im Namen von Catherine reklamieren; Pitou war aber ein Gemäßigter geworden, Pitou war ein wenig verdächtig, und die vernünftigen Personen gaben ihm den Rath, sich weder in der That, noch in Gedanken den Befehlen der Nation zu widersetzen.

Catherine und Pitou zogen sich also nach Haramont zurück.

Catherine hatte Anfangs den Gedanken, wie früher, in der Hütte des Vaters Clouis zu wohnen; als sie aber an der Thüre des Exwaldhüters vom Herzog von Orleans erschien, legte dieser seinen Finger auf den Mund zum Zeichen des Stillschweigens und schüttelte seinen Kopf zum Zeichen der Unmöglichkeit.

Diese Unmöglichkeit rührte davon her, daß der Platz schon eingenommen war.

Das Gesetz über die Verbannung der nicht beeidigten Priester war mit ganzer Kraft in Anwendung gebracht und daher der Abbé Fortier, der den Eid nicht hatte leisten wollen, verbannt worden, oder er hatte sich vielmehr selbst verbannt.

Doch er hatte es nicht für zweckdienlich erachtet, über die Grenze zu gehen, und seine Verbannung beschränkte sich darauf, daß er sein Haus in Villers-Coterets verließ, wo Mademoiselle Alexandrine zurückblieb, um über sein Mobiliar zu wachen, und den Vater Clouis um ein Asyl bat, das dieser ihm zu gewähren sich beeiferte.

Die Hütte von Vater Clouis war, wie man sich erinnert, nur eine einfache unter der Erde ausgegrabene Grotte, in der eine einzige Person schon ziemlich unbequem wohnte: es war also schwierig, dem Abbé Fortier Catherine Billot und den kleinen Isidor beizufügen.

Sodann erinnert man sich auch des unduldsamen Benehmens vom Abbé Fortier bei der Beerdigung von Frau Billot; Catherine war nicht genug gute Christin, um dem Abbé Fortier die ihrer Mutter geschehene Begräbnisverweigerung zu verzeihen, und wäre sie auch genug gute Christin gewesen, um zu verzeihen, so war doch der Abbé Fortier zu guter Katholik, um zu verzeihen.

Sie mußte also darauf verzichten, in der Hütte von Valer Clouis zu wohnen.

Es blieben das Haus der Tante Angélique auf dem Pleux und die kleine Hütte von Pitou in Haramont.

Man durfte nicht einmal an das Haus von Tante Angélique denken. Tante Angélique wurde, sowie die Revolution ihren Lauf verfolgte, immer zänkischer, was unglaublich schien, und immer magerer, was unmöglich schien.

Diese Veränderung in ihrem Moralischen und in ihrem Physischen rührte davon her, daß man in Villers-Coterets, wie anderswo, die Kirchen geschlossen hatte, bis ein vernünftiger und bürgerlicher Cultus vom Ausschusse für den öffentlichen Unterricht erfunden wäre.

Da man aber die Kirchen geschlossen hatte, so war die Veimiethung der Stühle, die das Haupteinkommen der Tante Angéliqne bildete, zu Nichts geworden.

Es war das Versiegen dieser Hilfsquellen, was die Tante Angélique magerer und zänkischer als je machte.

Fügen wir bei, daß sie so oft die Einnahme der Pastille von Billot und Ange Pitou hatte erzählen hören, daß sie so oft zur zeit der großen Pariser Ereignisse den Pächter und ihren Neffen plötzlich nach der Hauptstadt hatte abgehen sehen, daß sie durchaus nicht bezweifelte, die französische Revolution werde geleitet von Ange Pitou und Billot, und die Bürger Danton, Marat, Robespierre und Andere seien nur secundäre Agenten dieser Hauptführer.

Mademoiselle Alexandrine bestärkte sie, wie man leicht begreift, in diesen ein wenig irrigen Ideen, denen die königsmörderische Abstimmung von Billot die ganze gehässige Exaltation des Fanatismus gegeben hatte.

Man durfte also nicht daran denken, Catherine zu Tante Angélique zu bringen.

Es blieb die kleine Hütte von Pitou in Haramont.

Doch wie zu zwei oder gar zu drei in dieser kleinen Hütte wohnen, ohne zu den schlimmsten Nachreden Anlaß zu geben?

Dies war noch viel mehr unmöglich, als beim Vater Clouis zu wohnen.

Pitou entschloß sich also, Gastfreundschaft von seinem Freunde Désiré Maniquet zu verlangen, – eine Gastfreundschaft, welche ihm der würdige Haramonter bewilligte, und die Pitou in Industrien aller Art bezahlte.

Alles dies machte indessen der armen Catherine keine Stellung.

Pitou hatte für sie alle Aufmerksamkeiten eines Freundes, alle Zärtlichkeiten eines Bruders; Catherine fühlte aber wohl, daß sie Pitou weder wie ein Bruder, noch wie ein Freund liebte.

Der kleine Isidor fühlte das auch wohl, der arme Knabe, der, da er nie das Glück gehabt hatte, seinen Vater zu kennen, Pitou liebte, wie er den Grafen von Charny geliebt hätte, besser vielleicht; denn man muß sagen, Pitou war der Anbeter der Mutter, aber er war der Sklave des Kindes.

Man hätte glauben sollen, er begreife, der geschickte Stratege, es gebe nur ein Mittel, in das Herz der Mutter hinein zu kommen: dies sei, im Gefolge von Isidor einzudringen. Aber Pitou war zu ehrlich, seine Gefühle waren zu rein, als daß er selbstsüchtige Zwecke hätte verfolgen können. Er war derselbe arglose, treue, gutmüthige Mensch geblieben, den wir in den ersten Capiteln unseres Buches kennen gelernt haben, ja er war vielleicht noch offener, treuherziger, hingebender geworden.

Alle diese Beweise treuer Hingebung rührten Catherine bis zu Thränen; Sie fühlte, daß Pitou sie glühend liebte, vergötterte, und zuweilen dachte sie, daß sie diese treue, aufopfernde Liebe wohl durch ein zärtlicheres Gefühl als die Freundschaft belohnen möchte.

Die arme Catherine, wurde dabei an ihre Verlassenheit erinnert, sie stand ganz allein in der Welt, und Pitou war ihre einzige Stütze, auch drängte sich ihr der Gedanke auf, daß sich Niemand als Pitou ihres Kindes annehmen würde, wenn der kleine Isidor das Unglück hätte, seine Mutter zu verlieren. So kam sie nach und nach zu dem Entschlusse, Pitou die einzige Belohnung zu geben, die in ihrer Macht stand, ihm ihre ganze Freundschaft und ihre Hand zu schenken.

Ach! Ihre Liebe, diese zarte, duftige Jugendblüthe war jetzt im Himmel!

Es vergingen fast sechs Monate, bis sich Carherine mit diesem Gedanken ganz vertraut machte. Pitou wurde während dieser Zeit jeden Morgen mit freundlichem Lächeln begrüßt, jeden Abend mit zärtlichem Händedruck entlassen; aber er hatte von Catherines Absicht nicht die leiseste Ahnung.

Das würde bis zu dem Tode Catherines und Pitous so gedauert haben, wenn auch Pitou so alt wie Philemon und Catherine so alt wie Baucis geworden wäre, ohne daß in dem Benehmen des Nationalgardecapitäns die mindeste Veränderung stattfand. Catherine mußte ihm daher entgegenkommen.

Eines Abends, statt ihm die Hand zu reichen, bot sie ihm die Stirne.

Pitou glaubte, das sei eine Zerstreuung von Catherine: er war ein zu redlicher Mensch, um eine Zerstreuung zu benützen.

Er wich einen Schritt zurück.

Catherine hatte aber seine Hand nicht losgelassen; sie zog ihn an sich und bot ihm nicht mehr die Stirne, sondern die Wange.

Pitou zögerte noch viel mehr.

Als der kleine Isidor dies sah, sagte er:

»Ei! küsse doch Mama Catherine.«

»Oh mein Gott!« murmelte Pitou erbleichend, als ob er sterben sollte.

Und er drückte seine kalte, zitternde Lippe auf die Wange von Catherine.

Da nahm Catherine ihr Kind, legte es Pitou in die Arme und sprach:

»Ich gebe Ihnen das Kind, Pitou; wollen Sie mit ihm die Mutter?«

Es ward Pitou schwindelig, er schloß die Augen und während er das Kind an seine Brust preßte, fiel auf einen Stuhl und rief mit jener Zartheit des Herzens, die nur das Herz allein zu schätzen vermag:

»Oh! Herr Isidor! oh! mein theurer Herr Isidor, wie liebe ich Sie!«

Isidor nannte Pitou Papa Pitou; Pitou aber nannte den Sohn des Vicomte von Charny Herr Isidor.

Und dann, da er fühlte, daß Catherine hauptsächlich aus Liebe für ihren Sohn ihn lieben wollte, sagte er nicht zu Catherine:

»Oh! wie liebe ich Sie, Mademoiselle Catherine!«

Sondern er sagte zu Isidor:

»Ob! wie liebe ich Sie, Herr Isidor!«

Nachdem der Punkt festgestellt war, daß Pitou Isidor noch mehr liebte, als Catherine, sprach man von der Hochzeit.

Pitou sagte zu Catherine:

»Ich bedränge Sie nicht, Mademoiselle Catherine; nehmen Sie Ihre ganze Zeit: wollen Sie mich jedoch sehr glücklich machen, so nehmen Sie sie nicht zu lang.«

Catherine nahm einen Monat.

Nach drei Wochen machte Pitou ehrerbietig, in großer Uniform, seinen Besuch bei Tante Angélique, in der Absicht, ihr seine nahe Verheirathung mit Mademoiselle Catherine mitzutheilen.

Tante Angélique sah von fern ihren Neffen kommen und beeilte sich, ihre Thüre zu schließen.

Pitou aber ging nichtsdestoweniger weiter gegen die ungastfreundliche Thüre und klopfte sachte an.

»Wer ist da?« fragte die Tante Angéliqne mit ihrem trotzigsten Tone.

»Ich, Ihr Neffe, Tante Angélique.«

»Geh Deines Weges, Septembermann!« rief die alte Jungfer.

»Meine Tante,« fuhr Pitou fort, »ich wollte Ihnen eine Neuigkeit mittheilen, die Ihnen unfehlbar angenehm sein muß, da sie mein Glück betrifft.«

»Was für eine Neuigkeit ist das, Jacobiner?«

»Oeffnen Sie mir die Thüre, und ich werde sie Ihnen sagen.«

»Sage sie durch die Thüre: ich öffne meine Thüre nicht einem Sansculotte Deiner Art.«

»Ist das Ihr letztes Wort, meine Tante?«

»Es ist mein letztes Wort.«

»Nun wohl, meine liebe Tante, ich heirathe.«

Die Thüre öffnete sich wie durch einen Zauber.

»Wen, Unglücklicher?« fragte Tante Angélique.

»Mademoiselle Catherine Billot,« antwortete Pitou.

»Ha! der Elende! ha! der Schändliche! ha! der Brisotiner!« rief Tante Angélique, »er heirathet ein ruinirtes Mädchen! . . . Geh, Unglücklicher, ich verfluche Dich!«

Und mit einer Geberde voll Adel streckte die Tante Angélique ihre beiden, gelben dürren Hände gegen ihren Neffen aus.

»Meine Tante,« sprach Pitou, »ich bin zu sehr gewöhnt an Ihre Verfluchungen, als daß diese mich mehr betrüben sollte, als es die anderen gethan haben. Ich war Ihnen nur die Höflichkeit schuldig, Ihnen meine Heirath anzukündigen; ich habe sie Ihnen angekündigt, die Höflichkeit ist abgethan: Gott besohlen, Tante Angélique!«

Und militärisch seine Hand an seinen dreieckigen Hut legend, machte Pitou der Tante Angélique seine Reverenz und schlug wieder den Weg über den Pleux ein.

II
Ueber die Wirkung, welche auf Tante Angélique die Ankündigung der Heirath ihres Neffen mit Catherine Billot hervorbrachte

Pitou hatte seine Heirath Herrn von Longpré mitzutheilen, der in der Rue de l’Ormet wohnte. Weniger als Tante Angéliqne gegen die Familie Billot eingenommen, wünschte Herr von Longpré Pitou Glück zu der guten Handlung, die er vollbringe.

Pitou hörte ganz erstaunt; er begriff nicht, daß es, wenn man sein Glück machte, zugleich eine gute Handlung war.

Pitou, ein reiner Republikaner, war übrigens der Republik mehr als je dankbar, da sie alle Weitschweifigkeiten durch das Factum der Aufhebung der Trauungen in der Kirche beseitigt hatte.

Es wurde also zwischen Herrn von Longpré und Pitou verabredet, daß am folgenden Sonnabend Catherine Billot und Ange Pitou auf der Mairie getraut werden sollten.

Am Tage nachher, am Sonntag, sollte durch gerichtliche Zuerkennung der Verkauf des Pachthofes Pisseleu und des Schlosses Boursonne stattfinden.

Der Pachthof war zu viermal hunderttausend Franken und das Schloß zu sechsmal hunderttausend Franken in Assignaten angeschlagen.

Die Assignate fingen an entsetzlich zu verlieren: der Louis d’or galt neun hundert zwanzig Franken in Assignaten.

Es hatte aber Niemand mehr Louis d’or.

Pitou kehrte in aller Eile zurück, um Catherine die gute Kunde zu überbringen. Er halte sich erlaubt, den, für die Hochzeit bestimmten Termin um zwei Tage vorzurücken, und er befürchtete sehr, dieses Vorrücken werde Catherine zuwider sein, Catherine schien aber nicht ärgerlich hierüber, und Pitou schwebte im siebenten Himmel.

Nur verlangte Catherine, daß Pitou einen zweiten Besuch bei Tante Angélique mache, um ihr genau den Tag der Hochzeit anzuzeigen und sie einzuladen, der Feier beizuwohnen.

Das war die einzige Verwandte von Pitou, und obgleich es keine sehr zärtliche Verwandte war, mußte Pitou doch seinerseits ein artiges Benehmen beobachten.

Dem zu Folge begab sich Pitou am Donnerstag Morgen nach Villers-Coterets, um der Tante einen zweiten Besuch zu machen.

Es schlug nenn Uhr, als er vor dem Hause ankam.

Diesmal war Tante Angélique nicht vor der Thüre, und die Thüre war sogar, als ob Tante Angéliqne Pitou erwartet hätte, geschlossen.

Pitou dachte, sie sei ausgegangen, und war entzückt von diesem Umstande. Der Besuch war gemacht, und ein zärtlicher, ehrfurchtsvoller Brief würde die Rede, die er an sie zu halten im Sinne gehabt, ersetzen.

Da Pitou aber vor Allem ein gewissenhafter Junge, so klopfte er an die Thüre, so gut sie geschlossen war, und da Niemand auf sein Klopfen antwortete, so rief er.

Bei dem doppelten Lärmen, den Pitou rufend und m klopfend machte, erschien eine Nachbarin.

»Ah! Mutter Fagot,« fragte Pitou; »wissen Sie nicht, ob meine Tante ausgegangen ist?«

»Antwortet sie nicht?« sagte die Mutter Fagot.

»Nein, wie Sie sehen ohne Zweifel ist sie auswärts.«

Die Mutter Fagot schüttelte den Kopf und erwiederte:

»Ich hätte sie müssen ausgehen sehen: meine Thüre öffnet sich gegen die Ihrige, und es ist selten, daß sie nicht beim erwachen ein wenig Asche bei uns holt; damit erwärmt sich die arme Frau den ganzen Tag; nicht wahr, Nachbar Farolet?«

Dies Anrufung war an einen neuen Schauspieler gerichtet, der, seine Thüre bei dem Geräusche ebenfalls öffnend, sich ins Gespräch mischte.

»Was sagen Sie, Madame Fagot?«

»Ich sage, die Tante Angélique sei nicht ausgegangen. Haben Sie sie gesehen?«

»Nein, und ich möchte sogar behaupten, sie sei noch zu Hause, in Betracht, daß, wenn sie aufgestanden und ausgegangen wäre, die Läden offen sein müßten.«

»Das ist wahr,« sprach Pitou, »Ah! Mein Gott? sollte meiner armen Tante ein Unglück widerfahren sein?«

»Das ist möglich,« antwortete die Mutter Fagot.

»Es ist mehr als möglich, es ist wahrscheinlich,« bemerkte sententiös Herr Farolet.

»Ah! bei meiner Treue, sie war nicht sehr zärtlich gegen mich,« sagte Pitou; »doch gleichviel, das würde mir weh thun . . . Wie kann man sich hierüber Sicherheit verschaffen?«

»Gut!« sprach ein dritter Nachbar; »das ist keine große Schwierigkeit; man braucht nur Herrn Rigolet, den Schlosser, holen zu lassen.«

»Soll das geschehen, um die Thüre zu öffnen, so ist es unnöthig,« versetzte Pitou; »ich pflegte sie mit meinem Messer zu öffnen.«

»Nun wohl, so öffne, mein Junge,« sprach Herr Farolet; »wir werden da sein, um zu bekräftigen, daß Du nicht in einer schlimmen Absicht geöffnet hast.«

Pitou zog sein Messer aus der Tasche; dann näherte er sich in Gegenwart von einem Dutzend durch das Ereigniß herbeigezogener Personen der Thüre mit einer Geschicklichkeit, welche bewies, daß er mehr als einmal dieses Mittel gebraucht hatte, um in das Domicil seiner Jugend zurückzukehren, und ließ den Riegel in der Schließkappe gleiten.

Die Thüre öffnete sich.

Die Stube war vollkommen finster.

Sobald aber die Thüre geöffnet, drang die Helle allmälig ein, – die traurige, unheimliche Helle eines Wintermorgens, – und bei diesem Tageslichte, so düster es war, fing man an Tante Angéliqne, welche auf ihrem Bette lag, zu unterscheiden.

Pitou rief zweimal:

»Tante Angélique! Tante Angélique!«

Die alte Jungfer blieb unbeweglich und antwortete nicht.

Pitou näherte sich und befühlte den Körper.

»Oh!« sagte er, »sie ist kalt und starr!«

Man öffnete das Fenster.

Tante Angélique war todt!

»Das ist ein Unglück!« rief Pitou.

»Gut,« bemerkte Farolet; »kein so großes: sie liebte Dich nicht sehr, mein Junge, die Tante Angélique.«

»Es ist möglich,« erwiederte Pitou; »doch ich, ich liebte sie sehr.«

Zwei große Thränen flossen über die Backen des würdigen Jungen.

»Ach! meine arme Tante Angélique!« murmelte er.

Und er fiel vor dem Bette auf die Kniee.

»Sagen Sie doch, Herr Pitou,« sprach die Mutter Fagot, »wenn Sie etwas brauchen: wir sind zu Ihrer Verfügung. Ei! man hat Nachbarn oder man hat keine.

»Ich danke, Mutter Fagot. Ist Ihr Knabe da?«

»Ja . . . He! Fagotin!« rief die gute Frau.

Ein Bursche von vierzehn Jahren erschien auf der Thürschwelle.

»Da bin ich Mutter!« sagte er.

»Schicken Sie ihn nach Haramont,« fuhr Pitou fort; »Catherine soll nicht unruhig sein, wenn ich lange ausbleibe . . . er soll ihr sagen, daß die Tante Angélique todt ist.«

»Hast Du es gehört, Fagotin?« fragte die Nachbarin.

»Ja.«

»Nun, so lauf!«

Geh’ durch die Rue-de-Soissons,« setzte der Nachbar Farolet hinzu, »und sage dem Doctor Raynal, die Tante Angélique sei plötzlich gestorben.«

»Hörst Du?«

»Ja, Mutter,« sagte der Straßenjunge und lief in der vorgeschriebenen Richtung fort.

Die Versammlung hatte immer mehr zugenommen; es standen über hundert Personen vor der Thüre, und jede gab ihre Meinung über den Tod von Tante Angélique zum Besten, wobei die Einen sich auf die Seite eines Schlagflusses, die Anderen auf die eines zerreißens am Gefäße des Herzen, wieder andere auf einer zu ihrem letzten Grade gelangten Auszehrung neigten.

Alle murmelten leise:

»Ist Pitou nicht ungeschickt, so wird er einen guten Schatz auf dem höchsten Brette eines Schrankes, in einem Butterhafen, im Grunde eines Strohsackes oder in einem wollenen Strumpfe finden.«

Mittlerweile kam Herr Raynal an, dem der Generaleinnehmer vorausschritt.

Man wollte wissen, an was Tante Angélique gestorben war.

Herr Raynal trat ein, näherte sich dem Bette, untersuchte die Todte, drückte mit seiner Hand auf den Oberbauch und auf den Unterleib, und erklärte, zum großen Erstaunen der ganzen Gesellschaft, Tante Angélique sei ganz einfach vor Kälte und, wahrscheinlich, vor Hunger gestorben.

Die Thränen von Pitou verdoppelten sich bei dieser Erklärung.

»Oh! arme Tante! arme Tante!« rief er; »und ich hielt sie für reich! Ich bin ein Unglücklicher, daß ich sie verlassen habe! . . . Oh! wenn ich das gewußt hätte! . . . Nicht möglich, Herr Raynal, nicht möglich.«

»Suchen Sie im Brodkasten, und Sie werden sehen, ob Brod da ist; suchen Sie im Holzschuppen, und Sie werden sehen, ob Holz da ist. Ich habe ihr immer prophezeit, sie werde so sterben, die alte Geizige!«

Man suchte: es war nicht ein Büschel Reisig im Holzschuppen, nicht ein Krümchen Brod im Brotkasten.

»Oh! warum, sagte sie das nicht!« rief Pitou; »ich wäre in den Wald gegangen, um sie zu erwärmen; ich hätte gewildert, um sie zu ernähren. Das ist auch Eure Schuld,« fuhr der arme Junge diejenigen, welche gerade da waren, anklagend fort; »warum sagtet Ihr mir nicht, sie sei arm?«

»Wir sagten Ihnen nicht, Herr Pitou, sie sei arm,« antwortete Farolet, »aus dem einfachen Grunde, weil sie Jedermann für reich hielt.«

Herr Raynal hatte das Bettuch der Tante Angéliqne über den Kopf geworfen und ging auf die Thüre.

Pitou lief ihm nach.

»Sie gehen Herr Raynal?« sagte er.

»Und was soll ich noch hier machen, mein Junge?«

»Sie ist also entschieden todt?«

Der Doctor zuckte die Achseln.

»Oh! Mein Gott! mein Gott!« rief Pitou; »und vor Kälte gestorben! Vor Hunger gestorben.

Raynal winkte dem jungen Manne, und dieser näherte sich ihm.

»Junge,« sprach er, »ich rathe Dir nichtdestoweniger, oben und unten zu suchen: Du begreifst?«

»Aber, Herr Raynal, da Sie sagen, sie sei vor Hunger und Kälte gestorben . . . «

»Man hat Geizige gesehen, die, auf ihrem Schatze liegend, vor Hunger und Kälte starben,« erwiederte Herr Raynal.

Sodann, den Finger auf den Finger auf den Mund legend:

»St!«

Und er ging.