Wir und die Anderen

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WIR UND DIE ANDEREN

oder

Eine Mentalgeschichte des Menschen und ein Schisma durch christliche Transzendenz.

Albert Helber

Impressum:

Text: Copyright Albert Helber

Umschlag: Copyright Anna Bejenke, info@sinn-sucht.com

Verlag: Albert Helber in Zusammenarbeit mit Neobooks

mailto: albert.p.helber@web.de

Druck: epubli fürNeobooks.com/Rowohlt

Buch 2 zur mentalen Evolution.

Für Helga,

für Heike und Tim

für Marc, Sylvie, Emile und

Lisette.

Inhaltsverzeichnis.

Einführung.

Teil I: Mentale Evolution und der frühe Weg

In menschliche Geschichte.

Kapitel 1: Mentale Evolution schafft

Menschliches Verhalten.

1. Von der materialen- zur mentalen Evolution.

2. Mentale Evolution: Vom nichtmenschlichen

Primaten zum Homo sapiens.

Das menschliche Erbe von nichtmenschlichen

Primaten.

Der Steinzeitmensch und seine Gefühle.

Der Homo sapiens denkt und plant.

Von der zivilisatorischen Wende zum

gedanklichen Aufbruch der „Achsenzeit“.

3. Emotionale- und kognitive Intelligenz:

Notwendiger Kompromiss oder Ursache

von Entfremdung.

Die Individualentwicklung des Menschen: Ein

Spiegel der Evolution und Kompromiss aus

emotionaler und kognitiver Intelligenz.

Zwei Seelen müssen zusammen finden.

Introspektion und Extrospektion.

Dialektik als Stimulans und Entfremdung als

Warnung.

Der Januskopf mentaler Erwerbungen.

Offene Fragen.

Kapitel 2: Vom Gedanken zur Idee.

Von der „zivilisatorischen Wende“ zu

Kosmogonien oder Theogonien.

Wie Magisches Denken eine erste

Ideengeschichte erfindet.

1 „Zivilisatorische Wende“

2 Magie und Mythen erklären die

Entstehung der Welt.

Entstehungsmythen: Eine Auswahl

Entstehungsmythen benutzen reale

menschliche Erfahrungen.

Von Magie zur Abstraktion oder von

Kosmogonie zur Theogonie.

Kapitel 3: Von der Idee zur humanen Ethik.

Von Magie und Religion zur

Philosophie und zum Humanismus

Der „Achsenzeit“.

1. Laotse und Konfuzius oder ein philosophischer

Weg in China. 117

2. Veden, Upanischaden und Buddha oder ein

indischer Weg zur Hindu-Kultur.

3. Von Mose zu Jesus oder die mosaische

Verpflichtung der Juden auf den einen Gott.

4. Die Philosophie der Frühzeit: Eine gleichartige

Reformbewegung in China, in Indien und in Palästina.

Teil II. Die Erfindung von Transzendenz

oder

Ein von der europäischen Moderne

unvollständig korrigiertes Schisma.

Kapitel 4: Transzendenz und ihre Folgen.

1. Der Weg in die Transzendenz.

2. Christliche Transzendenz und ihre Folgen.

a. Die Priorisierung des Geistes oder

Kognitive Dominanz.

b. Das Vergessen von Entwicklung und

Geschichte.

c. Die Institutionalisierung klerikaler

Herrschaft.

d. Der Teufel wird erfunden.

e. Selbstgerechtigkeit der Gotteskinder

und der Geistmenschen.

f. Das Entstehen religiöser- und ideologisch

ausgelöster Gewalt.

3. Das europäische Mittelalter: Ein Irrtum der

Geschichte.

Kapitel 5: Wegspuren in die europäische

Moderne

oder

Die Wiederentdeckung der

Immanenz.

1. Ein philosophischer Diskurs über die

Gottgläubigkeit und die Natur des Menschen.

2. Ein protestantischer Diskurs: Von Luthers

„sola fide“ zur Religiosität der Ethik.

3. Die Entdeckung von Kindheit und Familie

durch die europäische Moderne.

4. Gewalt und Strafe in Europa vom Mittelalter

zur Moderne.

Kapitel 6: Die europäische Moderne

oder

Der späte Vollzug einer frühen

Mentalgeschichte.

1. Von der Religion zur europäischen Moderne

der Ideologien.

a. Rationale Ideologie der Aufklärung und

philosophischer Idealismus.

b. Nationalismus und europäischer

Kolonialismus.

c. Eine ökonomische Ideologie formt den

Kapitalismus.

d. Europas Ideologien vergiften die Welt.

2. Von der europäischen Moderne der

Ideologien zu den Widersprüchen

und Konflikten von heute.

a. Darwin und Freud korrigieren eine

idealistische Philosophie.

b. Soziologen beklagen eine gesellschaftliche

Entfremdung in der westlichen Moderne.

c. Die „ptolemäische“ Geschichtsverfälschung

idealistischer Historiker und Huntingtons „Kampf der Kulturen“.

Teil III: EPILOG:

MENTALGESCHICHTE oder KULTUR-

GESCHICHTE:

VON EINER GESPALTENEN EUROPÄISCHEN

MODERNE ZUR HUMANEN POSTMODERNE

UNTERSCHIEDLICHER ZIVILISATIONEN.

Kapitel 7: Mentalgeschichte ist Menschheits-

geschichte und humane- oder vom

menschlichen Verhalten

ausgehende Ethik ist ihr Ziel.

1. Der Wechsel von „heißen“ und „kalten“

Phasen der Menschheitsgeschichte.

2. Mentale Evolution formt die Individual-entwicklung des Menschen und auch

menschliche Geschichte.

3. Der Einfluss humanistischer Philosophie auf

Geschichte.

Kapitel 8: Die Überwindung eines Schismas

und die Verwandlung des

„christlichen Abendlandes“ in ein

Friedensprojekt.

1. Was ist zu tun?

Aus geschichtlichen Verirrungen

lernen (Konfuzius).

Destruktionskräfte des Begehrens

korrigieren. (Buddha).

Fremdheit und Exklusion überwinden

(Jesus).

2. Der Mensch muss sich entscheiden.

Benutzte Literatur

Autorenregister

Einführung.

Als unbekannter Autor fühle ich mich verpflichtet meinem eventuellen Leser zu begründen, warum ich es wage „Eine Mentalgeschichte des Menschen“ zu schreiben, diese von „Kulturgeschichten“ abgrenze und ein Schisma erkenne zwischen dem christlichen Abendland und dem Rest der Welt. Ein erster Grund waren Erfahrungen und Erlebnisse als Entwicklungshelfer in Afrika: Mehrere Jahre durfte ich an der Universität von Butare in Ruanda junge Ärzte ausbilden und Land und Leute kennen lernen. Wer in Afrika als Entwicklungshelfer auftaucht will mithelfen „Rückständigkeit“ zu beheben. „Rückständigkeit“ aber ist ein belasteter Begriff. Er moralisiert und wertet. Die Menschen in Ruanda sind arm, leben auf ihren Hügeln von ihrer kleinen Landwirtschaft und sind mit der Aufarbeitung einer Spaltung der Gesellschaft durch einen Genozid als kolonialem Erbe beschäftigt. Diese Menschen sind vielleicht ökonomisch noch nicht konkurrenzfähig, aber „rückständig“ sind sie nicht. Sie haben andere Prioritäten. Wo wir im Westen planen und spekulieren, mit Wissen argumentieren, Fortschritt und Wachstum fordern und die Zeit zum Kostenfaktor erklären, ist man in der ruandischen Gesellschaft geduldig. Wichtig ist, was jetzt geschieht. Man setzt auf Spontaneität und Improvisation. „On se débrouille“. Die Menschen gestikulieren, argumentieren gefühlsbetont und suchen mehr das Gegenüber als dessen Überzeugung. „Riez sainement, toujours sérieux n`est pas sérieux“ ist eine afrikanische Weisheit. Die in Ruanda erlebte Spontaneität und Improvisationslust, ihre Fähigkeit trotz Not und erlebter Geschichte das Lachen nicht zu verlieren, sind zutiefst menschliche Werte. Sie machen das Leben menschlich und liebenswert. Eine solche Gesellschaft als „rückständig“ oder „entwicklungsbedürftig“ einzuschätzen ist gemessen an ihren menschlichen Qualitäten eine unzulässige Beleidigung. Als Entwicklungshelfer kam ich ins Land und wollte Lehren. Als Lernender habe ich das Land verlassen.

Nach den Jahren in der Entwicklungshilfe und beruflicher Entpflichtung werden schließlich unsere Enkelkinder zum Mittelpunkt meines Lebens. Was ich durch berufliches Engagement und Streben mit meinen Kindern verpasste durfte ich mit unseren Enkelkindern Tim, Emile und Lisette erleben. Tims Erlebnisse, Träume und Gedanken in der Pubertät und anschließender Adoleszenz frischten eigene Erinnerungen an diese Jahre auf. Zu einer neuen Beobachtung aber wird die frühe Kindheit von Emile und Lisette, zumal die physiologische Amnesie eigene Erinnerungen an diese Zeit verhindert. Jeder ihrer neuen Lernschritte wird von Gefühlen begleitet: Sie freuen sich, wenn das Vorhaben klappt und sind traurig wenn nicht. Kindheit ist die dichteste, aber nicht von Wissen, sondern von Gefühlen begleitete Lernzeit des Menschen. Aufrechtes Gehen, Greifen, Sprechen, Schreiben, Denken und soziales Zusammenleben wird in der Kindheit im überschaubaren Milieu von Familie, von Freunden und Nachbarschaft gelernt und Gefühle lenken das Lernen.

Kindheit, dann Pubertät und Adoleszenz sind Perioden einer menschlichen Entwicklung, die auf ein unter-schiedliches mentales Erbe zurückgreifen. Von Gefühlen begleitetes Lernen bestimmt die Kindheit, von Gedanken gelenktes Streben die Pubertät und die Adoleszenz. Ich begann mich zu fragen: Sind die ersten dreißig Jahre der geistig seelischen- oder mentalen Entwicklung des Menschen eine Wiederholung seiner mentalen Evolution? Wie sind Gefühl und Geist des Menschen in der mentalen Evolution entstanden? Wie bedeutsam ist ihr Zusammenspiel für das menschliche Verhalten und für menschliche Geschichte? Wenn ein doppeltes mentales Erbe, wenn emotionale- und kognitive Intelligenz gemeinsam das menschliche Verhalten und sogar die menschliche Geschichte bestimmen, wie kann dann erklärt werden, warum in unserem westlichen- oder christlich geprägten Kulturkreis Gefühlen eine viel geringere Bedeutung zugemessen wird als dem Denken und dem rationalen Verstand. Wo wir ganz überwiegend Ideen und Wissen betonen pflegt man in anderen Regionen unserer Erde und auch in unserer Kindheit das von Gefühlen geprägte Miteinander als ein wichtiges mentales Erbteil. Ich suche Erklärungen.

 

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Dieses Buch will dazu aufrufen den Menschen als ein Produkt der belebten Evolution zu begreifen und eine menschliche Mentalität aus Gefühlen und Verstand als ein von der biologischen Evolution entworfenes Geschenk zu erkennen. Wer mit den Sinnen wahr-nimmt und Gefühle entwickelt macht das Umfeld zum Mittelpunkt seines Erlebens. Er wird von einer blühenden Wiese oder einem singenden Vogel verzaubert, wird von seinen Kopf-schmerzen beherrscht oder fühlt sich von Gefahren bedroht. Gefühle erfahren wir und weil wir sie auch in Anderen erkennen, werden diese für uns zu glücklichen- oder leidenden-, zu sympathischen- oder traurigen-, zu geliebten und manchmal auch zu gehassten Menschen. Über seine Gefühle erst wird der Mitmensch zum Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Dies ändert sich wenn wir nachdenklich werden. Wir suchen nach Erklärungen, entwickeln Wünsche und beginnen zu planen. Wir ziehen uns in eine gedankliche Innenwelt zurück und entfernen uns aus einer Welt des zugehörenden Erfahrens in eine Innenwelt des Denkens, des Analysierens, des Alleinseins. Für ein gelingendes Miteinander brauchen wir Gefühle und Verstand: Treffen wir Fremde oder Fremdes so reagieren wir oft emotional und sind verunsichert, denken dann nach und finden keine Erklärung. Eine gedankliche Korrektur erst wird die Verunsicherung überwinden. Dann wieder werten wir Andere wegen ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer nationalen- oder religiösen Zugehörigkeit. Halt ruft dann eine innere Stimme oder Emotion und widerspricht. Im ersten Beispiel hat der Verstand eine unsinnige Emotion korrigiert. Im zweiten Beispiel korrigiert eine emotionale Erregung eine gedankliche Verirrung. Gefühle und Verstand, emotionale- und kognitive Intelligenz sind in uns jene Opponenten, die zusammen das menschliche Verhalten lenken.

In Wirklichkeit lenken viele Eigenschaften das menschliche Verhalten. Wer nur eine Eigenschaft oder eine Idee zur Charakterisierung des Menschen missbraucht macht aus dem Menschen ein Produkt der Spekulation und sich selbst zum Ideologen. Wer im Menschen nur ein egoistisches Wesen oder einen „homo homini lupus“1 sieht, wird aus dem Menschen eine Bestie machen. Wer beschreibt, dass „Selbstlosigkeit in der Evolution siegt“2, aus dem Menschen einen „homo empathicus“ macht und die „empathische Zivilisation“ besingt, wird eine „Geschichte, die nie erzählt wurde“3 erzählen. Auch diese Geschichte konnte nicht stimmig sein, weil Empathie zwar eine wichtige Eigenschaft des Menschen, aber nicht die allein ihn charakterisierende Eigenschaft ist. Der Mensch ist altruistisch und egoistisch und wird von vielen Eigenschaften gelenkt. Menschliche Geschichte wird zum Objekt von Spekulation und Interpretation wenn ein Gedanke oder eine Vorstellung deren Analyse leitet. Natur und Geschichte werden zu einem religiösen-, zu einem philosophischen-, zu einem „reflexiven Produkt“4. Für den sich an der biblischen Schöpfungsgeschichte orientierenden Christen beginnt dann die Menschheitsgeschichte vor 6000 Jahren. Wer allein in menschlichem Verstand und in menschlicher Rationalität den Motor der Geschichte sieht wird vom menschlichen Geist entwickelte Events in eine Kulturgeschichte verwandeln. Er lässt diese vor 70 000 Jahren beginnen5 und wird, Spekulationen folgend, mit einer „Geschichte von Morgen“6 enden. Menschlicher Geist und Verstand sind ein wichtiger Teil menschlicher Mentalität und schaffen menschliche Kultur. Menschliches Verhalten aber wird von einem mentalen Erbe, von menschlicher Mentalität gesteuert, die mehr ist als Geist und Verstand. Mentale Vielfalt kontrolliert den menschlichen Verstand, korrigiert gedankliche Irrtümer oder „Verrücktheiten“, wie auch der Verstand Emotionen korrigiert. Mentalität ist das Produkt einer langen mentalen Evolution und steuert das menschliche Verhalten. Eine Mentalgeschichte wird sich deshalb von einer Kulturgeschichte des Menschen unterscheiden müssen, wird menschliches Verhalten analysieren und wird eine andere Geschichte des Menschen beschreiben. Diese Mentalgeschichte zu beschreiben ist Ziel dieses Buches.

Tatsächlich beginnt die Mentalgeschichte des Menschen vor zwei bis drei Millionen Jahren mit seiner „mentalen Evolution“7. Sie ist die Basis, von der alles ausging. In Stufen ist uns ein die Primatenintelligenz ergänzendes Erbe aus „emotionaler Intelligenz“ und schließlich „kognitiver Intelligenz“ zugewachsen, deren unterschiedliche Betonung in der Geschichte zu Magie und Mythos, zu Religionen und Ideologien, dann zu Wissen und Theorien führt und schließlich ein menschenmögliches Verhalten oder eine humane Ethik zum Ziel der Geschichte erklärt. Ein kontinuierlich wachsender Zugewinn an Freiheitsgraden des Menschen ist das evolutionäre Ergebnis. Doch wird das freie Entscheiden des Menschen auch wieder kontrolliert von Trieben und Instinkten, von natürlichen- und erworbenen Bedürfnissen, von unbewussten- und geäußerten Wünschen, von erreichbaren- oder neurotisch verfehlten Zielen, schließlich von Gefühlen und Verstand oder einer emotionalen- und kognitiven Intelligenz. Evolutionär entstandene Mentalität wird die gewonnene Entscheidungsfreiheit des Menschen vor gedanklichen Irrtümern bewahren und die Zugehörigkeit des Menschen zu seinem irdischen Umfeld durch unsere Sinne und unsere Gefühle absichern.

Aus der Integration von emotionaler- und kognitiver Intelligenz wird in der Individualentwicklung des Menschen ein von Emotionen geleitetes, aber auch manipulatives Spielkind, daraus ein magische Helden schaffender Träumer, dann ein Ideen produzierender Streber und schließlich ein selbstbewusster Kritiker, der neben seinem gedanklichen Schaffen auch seine Gefühle entdeckt. Diese Individualentwicklung des Menschen liefert schließlich die Matrize für eine Mentalgeschichte des Menschen, in welcher ein von emotionaler- und kognitiver Intelligenz bestimmtes menschliches Verhalten die Geschichte lenkt und nach „zivilisatorischer Wende“, nach einer Epoche von Magie und Mythen, von Religion und Welterklärung noch vor der Zeitenwende in einer von Konfuzius, von Buddha und von Jesus vorgelegten Analyse des menschlichen Verhaltens, in einer humanen Ethik endet. Dieser frühe Weg in die Menschheits-geschichte ist Thema des ersten Teils dieses Buches.

Nach der Zeitenwende wird der bisherige Kompromiss des Menschen aus emotionaler und kognitiver Intelligenz im christlichen Abendland aufgekündigt. Der Sprung in die Transzendenz durch die christliche Religion und eine Ideologisierung von Vernunft und Geist durch die europäische Aufklärung macht aus einer Mentalgeschichte menschlichen Verhaltens eine Kulturgeschichte des menschlichen Geistes. Im christlichen Abendland entsteht eine Kulturgeschichte, in welcher der Rest der Welt nur allzu oft vergessen- oder vernachlässigt wird. Dies wird uns im 2. Teil des Buches beschäftigen.

Spät erst beginnt die europäische Moderne sich einem transzendenten Denken zu verweigern, sich auf ein doppeltes evolutionäres mentales Erbe zu besinnen. Es wird uns helfen zu bewahren, was wir haben und zu korrigieren, was an Risiken geschaffen wurde. Evolutionäres Wissen wird eine Unheil stiftende gedankliche Selbstüberhöhung oder Selbstgerechtigkeit des Menschen korrigieren, die über fast zwei Tausend Jahre die Menschen des christlichen Abendlandes verführte und noch immer verführt.

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Anthropologie ist eine multidisziplinäre Wissenschaft, ist Archäologie, ist Genetik, Verhaltensforschung, Hirnforschung, Psychologie und Geschichte. Wer menschliche Entwicklung und menschliche Geschichte zu beschreiben versucht braucht die Hilfe von Wissenschaftlern und Publizisten, die über ihre Disziplin berichten. Die von mir beschriebene Reise durch zwei Millionen Jahre mentaler Evolution7 und die jetzige Reise durch eine Mentalgeschichte des Menschen fasst zusammen was Viele erarbeitet haben. Unter ihnen treffe ich eine persönliche Auswahl. Ihnen fühle ich mich verpflichtet und dankbar und entschuldige mich bei Jenen, die wichtige Ergebnisse erarbeitet haben und nicht genannt sind.

Teil I

MENTALE EVOLUTION

und

Der Weg in die frühe menschliche

Geschichte.

„Wir sollten keine Scham empfinden, die Wahrheit anzuerkennen und sie zu verarbeiten, von welcher Quelle sie kommt, selbst wenn sie uns von frühen Gesellschaften und Völkern gebracht wird.

Al-Kindl (800-873 n. Chr.)

Arabisch-irakischer Philosoph.

Kapitel 1

MENTALE EVOLUTION UND DER WEG ZU

MENSCHLICHEM VERHALTEN.

1. Von der materialen- zur mentalen Evolution.

Evolution beginnt mit der Verwandlung von Masse in Energie und ist eine materiale Evolution. Aus Masse wird Energie und der Physiker Einstein wird dafür seine Äquivalenzformel E = m x c2 finden. Ein Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren macht den Anfang und verwandelt Masse in Energie: Expansion und Retraktion, Fliehkraft und Anziehung entstehen. Zwei äquivalente Qualitäten Masse und Energie schaffen eine neue Ordnung: Ein immerwährendes Gesetz der Kausalität entsteht. Energie ist Masse und Masse ist Energie und beide bilden eine Struktur. Im Atom expandieren die Elektronen und werden durch die Anziehung des Atomkerns in eine Umlaufbahn gezwungen. Expansion und Retraktion bilden ein Atom und begründen das Gesetz der Kausalität. Was im Mikrokosmos passiert setzt sich im Weltraum fort. Die Sonne schleudert Teile ins All die als Planeten in eine Umlaufbahn gezwungen werden. Wärme verwandelt Eis zu Wasser und macht daraus bei 100 Grad Celsius Wasserdampf. Feste, flüssige und verdampfende Materialien entstehen. Im flüssigen Erdkern wird das Zusammenwirken von Wärme und Druck das Erdgestein formen. Aus einem Erdkern aus Nickel und Eisen wird bei nachlassendem Druck eine flüssige Schicht, aus welcher wiederum festes Gestein aus Silikat hervorgeht. Dieses verflüchtigt sich in eine Erdatmosphäre und neue Abhängigkeiten entstehen. Aus zwei Qualitäten wie Masse und Energie sind Wärme und Druck, dann Erdgesteine und Materialien mit unterschiedlichen Funktionen geworden. Aus der Interaktion von Masse und Energie wird die materiale Vielfalt des Alls schließlich vor etwa fünf Milliarden Jahren eine neue Form von Evolution, eine biologische Evolution möglich machen.

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Auch die biologische Evolution wird vom Gesetz der Kausalität bestimmt. Was immer an neuen Strukturen, Formen und Funktionen entsteht hat eine Ursache, schafft eine neue Abhängigkeit und bringt schließlich jene biologische Vielfalt hervor, die wir bewundern und bestaunen. Wie Vielfalt im evolutionären Prozess der Biologie möglich wird hat erstmals Charles Darwin beschrieben: In „Origin of Species“ formuliert er 1859, dass Organismen eine gemeinsame Abstammung haben, dass Evolution die Aufspaltung einer vorbestehenden Art in zwei neue Arten bedeutet, dass dieser Prozess langsam und kontinuierlich abläuft und vom Umfeld kontrolliert wird7, 8, 9, 10,. Das dem Umfeld angepasste biologische Wesen überlebt und pflanzt sich fort. Was Darwin noch nicht wissen konnte war, wer oder was die Aufspaltung zu unterschiedlichen Arten einleitet. Dazu brauchte es das in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erarbeitete Wissen einer genetischen Steuerung aller biologischen Strukturen, Formen und Funktionen. Aus Darwins Abstammungs-lehre wurde eine genetisch gesteuerte biologische Evolution.

Die biologische Vielfalt einer genetisch gesteuerten Evolution hat wiederum zwei Gründe, die Evolution möglich machen: Eine genetische Mutation lässt eine neue Art entstehen und das Umfeld entscheidet, ob diese überleben und sich fortpflanzen kann. Wem die Einpassung nicht gelingt wird zugrunde gehen und ver-schwinden. Drei Phänomene charakterisieren das ziellose Spiel der Evolution:

 

° In der belebten Natur gilt das Prinzip von Zugehörigkeit. Jedes Lebewesen entsteht als Reproduktion des vorher Bestehenden und pflanzt sich wiederum durch Selbstreproduktion fort. Das Junge entsteht, das Alte stirbt. In einer „Wiederkehr des Gleichen“ existiert das jugendlich Kraftvolle neben schon Verbrauchtem und Abgängigem. Kinder und Greise leben zusammen, aber auch Geschöpfe aus Milliarden Jahren der Evolution. Alt und Jung, Jahrmillionen alte Geschöpfe der Evolution existieren neben Mutanten aus jüngster Zeit. Alle sind Glieder einer Art und reproduzieren sich selbst. Reproduktion gewährleistet den Erhalt der Art und auch des Lebens.

° Neben einer Wiederkehr des Gleichen wird die Evolution durch Abgrenzung, durch Distanzierung und durch Veränderung bestimmt. Zufällig ausgelöste genetische Mutationen schaffen Neues und bewirken Veränderung. Differenzierung und Spezialisierung eröffnen neue Wege. Distanzierung und Veränderung werden zum Motor des Wandels in der Evolution und schaffen die Vielfalt des Lebendigen.

° Allerdings nur dann, wenn die „Einpassung“ gelingt und sich eine ökologische Nische für das Neue findet oder das Neue die Überlebens-sicherung verbessert. Überlebensvorteile in einem gegebenen Umfeld sorgen für die Fortentwicklung des Neuen. Was bisher Bestand hatte wird vom Besseren ersetzt. Der Fortpflanzungsvorteil entscheidet über die Geschwindigkeit des evolutionären Prozesses.

Biologisch-genetisch veranlasste Entwicklungsschritte entstehen aus einer Abfolge von Distinktion und Integration, von Unter-scheidung und Akzeptanz. Das Neue muss integriert werden, wenn es nachhaltig sein soll. Biologische Evolution ist ein dialektischer Prozess zwischen Distanzierung und Reproduktion, zwischen Andersartigkeit und Gleichheit. Nur was Überleben möglich macht wird akzeptiert und durch Reproduktion weiter gereicht. Weil das Umfeld sich laufend verändert muss auch der Anpassungsprozess sich kontinuierlich fortsetzen. Genetische Mutationen biologischer Individuen und Veränderungen in ihrem Lebensumfeld sind schließlich die Determinanten einer fort-währenden biologischen Evolution. Beide Veränderungen sind nicht geplant. Die biologische Evolution ist ein Prozess ohne Ziel.

Darwins Theorie beschreibt einen Prozess der Evolution, der in Individuen beginnt: Ein Vorteil im Überlebenskampf wird deren Reproduktionsfähigkeit verbessern. Darwins Theorie formuliert, wie dieser Prozess abläuft. Obwohl er die Mendel-Gesetze der Vererbung noch nicht kannte und genetisches Wissen noch fern war hat sein vergleichendes Genie erschlossen: Vergangenes ist stets die Ausgangsbasis für das, was wir heute vorfinden. Die Evolution kennt zwar keine Ziele, doch baut sie auf Geschichte. Sie lässt Vergangenes nicht verschwinden. Das Vergangene ist in der Embryogenese erkennbar. Sie dokumentiert, wo wir herkommen. Aus Fischen werden Landtiere, aus Fischflossen werden Extremitäten oder die Flügel der Vögel. Im biologischen Phänomen der Metamorphose wird Embryogenese sichtbar. Sie demonstriert, wie Neues aus Vorbestehendem hervorgeht. In der Metamorphose von Tieren ist der Ausgang bereits eine biologische Art. Unter unseren Augen vollzieht sich Evolution: Eine „Lebenszeituhr“ lässt Arten nicht nur wachsen. Sie verwandelt diese in zwei ungleiche Wesen. Aus einer im Wasser lebenden Kaulquappe wird ein Frosch als Landbewohner. Aus einer am Boden kriechenden Larve wird ein fliegender Schmetterling. Nicht nur Größe und Gestalt, auch Funktionen verändern sich und verbessern die Lebenschancen. Aus Jahrmillionen als Larven existierenden Tieren werden schließlich Larven, die sich in Schmetterlinge verwandeln. Tatsächlich ist die in der Metamorphose von Tieren erkennbare Evolution eine Sonderform der Evolution an sich: Was sich in der Embryogenese verbirgt entfaltet sich in der Meta-morphose vor unseren Augen. Die Vielfalt des Lebens, wo Jahrmillionen alte Geschöpfe neben im Evolutionsprozess jungen Geschöpfen existieren, die Entdeckungen der Embryogenese und schließlich das Phänomen der Metamorphose dokumentieren die biologische Evolution, wie sie Darwin beschreibt: Alle Organismen haben einen gemeinsamen Ursprung.

In der materialen- oder vorbiologischen Evolution sind Masse und Energie die unbelebten Akteure. Energie verändert Masse und diese wiederum die Energie. Ein Gleichgewicht bleibt erhalten und bestimmt die Welt, in der wir leben. Auch die biologische Evolution kennt zwei Akteure. Das Veränderungen unterworfene Umfeld legt fest, welche Organismen überleben. Die biologische Welt der Pflanzen und Tiere muss durch Wandlung Überleben ermöglichen. Wird die materiale Welt von physikalischen Gesetzen gesteuert, so unterliegt die biologische Welt einer genetischen Steuerung. Ein im Zeitablauf regel-mäßiges Aufkommen von genetischen Veränderungen oder Mutationen schafft neue Pflanzen und Tiere die ihren Platz im Umfeld finden müssen oder untergehen. Die biologische Vielfalt demonstriert, wie eine genetische Steuerung sehr unterschiedliche Verfahren der Lebens-sicherung im Umfeld findet. Die Genetik entwirft einen Überschuss oder ein zu Viel an Möglichkeiten der Entfaltung, die vom zweiten Akteur Umfeld zum Teil verworfen oder akzeptiert werden.

Umfeld und Genetik entscheiden, welche biologischen Geschöpfe überleben. Alle müssen sich ernähren, um leben oder wachsen zu können. Dafür ersinnt die biologische Evolution zwei Möglichkeiten. Verortung und Wurzeln lassen Pflanzen und Bäume überleben. Ortsverlagerung oder Beweglichkeit erlauben den Tieren jene Nahrung zu suchen, die sie mögen oder brauchen. Auf diese Weise entstehen nach den Pflanzen auch Tiere. Unter den Pflanzen unterscheidet man wiederum die langsam wachsenden, tief verwurzelten, stämmigen und großen Bäume von Blumen oder Gräsern, die schnell wachsend und flexibel, aber auch dem jahreszeitlichen Wechsel unterworfen und verletzlich sind. Jagende Tiere sind klein, sind schnell und zum Springen ausgerüstet. Der Pflanzen fressende Elefant bewegt sich langsam und gemächlich. Er hat Zeit seine Pflanzen zu finden. Weil er auch kräftig ist, muss er Feinde nicht fürchten. In der belebten Natur sind Verwurzelung, langsames Wachstum, Standfestigkeit, Ausdauer und Kraft eine Möglichkeit des Überlebens. Ortsverlagerung, Wendigkeit, Flexibilität und rasches Wachstum sind das Kontrastprogramm. Beide Muster einer Überlebenssicherung sind in der Vielfalt des Lebendigen auf Kompromisse angewiesen. Sie werden in der Evolution vielfach entwickelt. Auch der Kompromiss ist eine Erfindung der Evolution.

Wer in der biologischen Welt überleben will muss reagieren können. Er muss auf Gefahren adäquat und angepasst antworten. In etwas mehr als fünf Milliarden Jahren entwickelt die biologische Evolution eine unbegrenzte Zahl von angepassten Reaktionen, die ein Individuum oder eine Art so lange zum Überlebenden macht, bis neue Formen des Reagierens einen besser Angepassten hervorbringen. In der biologischen Evolution sind die eine Art schützenden Reaktionen festgelegt oder, wie intelligentere Wesen später definierten, „instinktiv“ verankert. Auch Instinkte enthalten im Fortgang der Evolution bereits ein Verhaltensmuster aus Warnung vor Gefahr, aus Rückzug oder Angriff, aus individueller- oder Rudelstrategie. Noch immer aber sind instinktgeleitete Verhaltensweisen biologisch festgelegte Algorithmen und sind angeboren. Über das angelegte Muster der Instinkthandlung hinaus sind Variationen im Umgang mit Bedrohung oder eine Strategiewahl nicht möglich.

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Dies ändert sich mit der mentalen Evolution, die mit der Entwicklungsstufe der Primaten vor allem beginnt und schließlich die Entwicklung der Hominiden lenkt. Mentalität beschreibt, wie ich als Subjekt auf ein Geschehen blicke, auf mein Umfeld reagiere und dieses zum Objekt meines Handelns mache. An der Mentalität sind Sensorik, sind Neugier und Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Erinnerung, sind Fühlen und Denken und unbewusst gewordene- oder bewusste Erfahrungen beteiligt. Die Zusammenarbeit dieser unterschiedlichen Funktionen bestimmt das Verhalten eines Individuums in der Auseinandersetzung mit seinem Umfeld und wird im Begriff „Mentalität“ zusammengefasst. Mentalität beschreibt eine bewusste und auch unbewusste Steuerung des Primatenverhaltens. Sie orientiert sich an subjektiv festgelegten Zielen, führt zu ausgewählten Entscheidungen und variablen Intentionen. Wo Tiere von unbewussten Instinkthandlungen geleitet werden, lenkt Mentalität das Verhalten der nicht-menschlichen Primaten und schließlich der Hominiden. Wo in der biologischen Evolution der Übergang zwischen Instinkt-handlungen oder mental gesteuertem Verhalten anzusetzen ist oder wo und wie dieser Übergang zu definieren ist, wird in der Verhaltensforschung mit Primaten noch immer diskutiert. Evolution ist ein langsamer-, aber kontinuierlicher Prozess, dessen Ergebnis sich erst in der Rückschau als neue Art oder neue Gruppe zu erkennen gibt. In der Entwicklung vom Instinkt zur bewusst gesteuerten Mentalität sind sehr komplexe Funktionen beteiligt. Eine naturwissenschaftlich begründbare Unterscheidung wo Instinkte enden und Mentalität beginnt wird kaum gelingen. Wird diese Unterscheidung trotzdem versucht, so gelingt dies nur mit abstrakter Definition.