Verbeult, verschlafen - durchgehalten

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Albert Damblon

verbeult verschlafen – durchgehalten

Wie ich als Pfarrer Kirche erlebe

Albert Damblon

verbeult

verschlafen –

durchgehalten

Wie ich als Pfarrer Kirche erlebe

echter

Allein die Erfahrung macht die Theologie (Martin Luther, Tischreden)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2017

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Peter Hellmund (Foto: gettyone)

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim (www.brocom.de)

ISBN

978-3-429-04394-0

978-3-429-04935-5 (PDF)

978-3-429-06355-9 (ePub)

Inhalt

Anstoß

Der verbeulte Gefährte

Päpstliches Bekenntnis

Kapellengeschichte I – Tränen

Kapellengeschichte II – Es geht!

20 Millionen erlassen

Kein Geschäft

Die brennende Kerze

Der Beistand

Martin und Mauer

Friede auf Erden …

Urlaubsgeschichte I – Altes und Neues

Der bewegte Mann

Ungleichzeitigkeit

Urlaubsgeschichte II – Die Grauhaarigen und die Gefärbten

Die Loser

Heilige des Wartens

Urlaubsgeschichte III – Kopflos

Der selbstbewusste Mensch

Urlaubsgeschichte IV – Menschentheater

Ich glaube gern …

Der Schluck Wasser

Rezept gegen Trockenheit

Der Silvestersegen

Das alltägliche Gottesreich

Schlaf gut oder wachet auf …

Der gesunde Kirchenschlaf

Die heilsame Pause

Schlaf gut mit Bruder Martinus …

Im ökumenischen Gestrüpp

Ich stehe auf …

Der Unterschied

Freistoß – ökumenisch

Eine ökumenische Litanei

Wozu brauchen wir Kirchen?

Die Geschichte vom barmherzigen Wirt I

Die Geschichte vom barmherzigen Wirt II

Alte, kluge Sätze …

Quellenverzeichnis

Anstoß

Ich werde 70 Jahre alt. Es ist ein runder Geburtstag, den ich anders als die Feste in den Jahren vorher feiern werde. Denn der Wunsch zurückzublicken ist viel stärker als zuvor. Die Zahl 70 lässt nicht mehr viel Zukunft. Sie birgt aber einen Schatz an Vergangenheit. Das Erinnern prägt die Gefühle, das Erhoffen hat sich ein wenig zurückgezogen. Vielleicht sollte ich wie viele andere meine Erinnerungen erzählen. Aber was ich erzählen würde, wäre nur für mich interessant. Wen würde die Geschichte eines gewöhnlichen Pfarrers beeindrucken? Ein bisschen Extravaganz müsste die Erzählung würzen. Mit Extravagantem kann ich nicht dienen, denn ich habe normal gelebt und gearbeitet, ohne Sensationen und Skandale. Über die Strafzettel des Ordnungsamtes lohnt sich kaum zu erzählen. Mein Leben kennt keine herausragenden Ereignisse. Ich habe keinen Gipfel bestiegen, genauso wenig habe ich einen Weltrekord aufgestellt. In meinem Beruf gründete ich kein Hilfswerk, und kirchliche Karriere habe ich nicht gemacht. Auf meinem Kopf passt kein Prälatenhut. Widerstand musste ich nicht leisten, und Weltreisen habe ich vermieden. Mein Buch wird auch dieses Mal kein Bestseller. Ich bin nie in den Rhein gesprungen, um einem Menschen das Leben zu retten. Bis vor Kurzem waren meine Freunde und ich gesund, und von meinem Gehalt konnte ich leben. Selbst vor tragischen Todesfällen wurde ich im Familienkreis bewahrt.

Über 40 Jahre arbeitete ich als Gemeindepfarrer. Ich stand morgens auf und ging abends zu Bett. Jedes Mal erlebte ich einen üblichen Tag. Ärger, Freude, Trauer. Über die Tage eines Normalen könnte ich berichten, doch wen interessieren Alltäglichkeiten? Trotzdem erzähle ich, weil es für mich wichtig ist. Hinter dem Einerlei stehen wunderbare Menschen, die ich kennengelernt habe. In vielen Gesprächen durfte ich in meiner Kirche trösten, ermutigen, bestärken, und ich habe Gottesdienste gefeiert, die die Freude am Evangelium spüren ließen. Sie eröffneten Wege zu gelingendem Leben. Nur so konnte ich den Niedergang volkskirchlicher Mentalität aushalten, ohne in eine Depression zu verfallen.

Anderseits staune ich, dass ich als Pfarrer trotz allem durchgehalten habe. Ich bin heute noch gern das, was ich einmal begonnen habe. Vielleicht hat sich die Beamtenseele meines Vaters durchgesetzt. Sie vermittelte mir auszuhalten. Wenn ich ehrlich zurückblicke, erkenne ich, dass meine Beständigkeit kein persönliches Verdienst ist. Es ist so gelaufen. Dabei hätte es auch anders kommen können. Manche Mitbrüder gerieten in Krisen, die sie bis ins Mark erschüttert haben. Sie wussten weder ein noch aus. Rettung bot nur, die Kirche zu verlassen. Ich selbst bin an mancher Klippe haarscharf vorbeigeschrammt und bin krumme Wege gegangen. Doch bekanntlich schreibt Gott auf krummen Zeilen gerade. Unabhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung hinterfrage ich einiges in der Kirche. Die innerkirchlichen Phänomene hat das II. Vatikanische Konzil besprochen, aber kaum bearbeitet. Theologen haben sich die Finger wundgeschrieben, um endlich zu einer Lösung zu kommen. Nichts hat sich bewegt. Das Zölibat, die Homosexualität, die Missbräuche, das Frauenpriestertum, eine synodale Ordnung, die unüberschaubare Gemeindegröße, die Ökumene, die Rechte von Laien – die Liste offener Fragen lässt sich fortführen. Es ist ein Lichtblick, wenn Papst Franziskus für die wiederverheiratet Geschiedenen barmherzig die Tür einen Spalt öffnet.

Insgesamt geht es nicht um Fragen, die mehr oder weniger leichtfertig zu beantworten sind. Dahinter stehen Schicksale, die Menschen zerstört haben. Das Zölibat ließ Priester zerbrechen. Ihre Frauen wurden mit ins Unglück gezerrt, und ihre Kinder leiden unter Umständen bis heute. Homosexuellen und wiederverheiratet Geschiedenen erging es in der Kirche ähnlich. Welcher Bischof zählt ihre Tränen, die sie geweint haben? Wer trocknet sie? Wer versucht in Zukunft zu verhindern, dass sie überhaupt weinen müssen? Vor meinen Augen spielten sich Katastrophen der Unbarmherzigkeit ab. Finanzielle Zuwendungen seitens der Generalvikariate halfen wenig, das Leid zu lindern. Hinter vorgehaltener Hand erzählen wir uns unter den Mitbrüdern diese Leidensgeschichten, und wir halten still. Letztlich ist alles gesagt oder geschrieben, was zu tun wäre, um die Schmerzen zu vermindern. Es tut sich wenig, im Gegenteil, gewisse Kreise versuchen die Kirche wieder abzuschotten und in die tridentinische Festung zurückzuführen.

Als alter Mitarbeiter weiß ich, was in unserer Kirche los ist, ohne dass ich je bei einer Dienstbesprechung des Bischofs mit seinem Generalvikar dabei war. Meine Kirche bietet manchmal ein trostloses Bild. Die Tatsache, dass kaum heute einer meinen Beruf ergreift, schlägt in meiner Seele Wunden. Trotz allem habe ich durchgehalten, und nach über 40 Jahren überlege ich: weshalb? Was hat mir in der Kirche die Kraft gegeben, in ihr und mit ihr auszuhalten?

Gerade zu meinem Geburtstag frage ich mich, warum ich noch in der Kirche mitmache. Für einige war Rückzug oder sogar Austritt eine Lösung. Nach langer Dienstzeit könnte ich mich aus dem kirchlichen Betrieb elegant zurückziehen. Für das tägliche Brot ist gesorgt, ich habe es mir erarbeitet. Aber so würde ich meine Kirche von außen erleben. Während ich darüber nachdenke, merke ich, dass es für mich keine Lösung ist. Es ist meine Kirche, und was mein ist, gehört zu meinem Leben. Daran hänge ich, und ich will es so lange wie möglich behalten. Die Kirche ist die Ursache von Leid und Unsinn. Gleichzeitig verkündet sie Heil und Sinn. Zu dieser Kirche gehöre ich, und sie hat mein Leben geformt. Sie hat mir geholfen, vieles zu bewältigen. Ja, ich würde sie vermissen. Es gilt, kritisch die Augen aufzuhalten, warnend die Stimme zu erheben und dem nachzuspüren, was Jesus mit Kirche gewollt hat. Ich habe versucht zu finden, was meine Beziehung zur Kirche gestärkt hat. Dabei fand ich meine persönlichen Kirchengeschichten. Winzige Ereignisse erzählen von meiner Kirche. Kleinigkeiten sind meine alltäglichen Bekenntnisse. Trotzdem antworten sie am besten auf die Frage, weshalb ich in der Kirche bin. Die Antwort ist nicht umfassend und nicht zwingend, manche Leserin und mancher Leser wird eine Gegengeschichte finden. Dogmatisch gibt es sowieso bessere Antworten. Man braucht nur die Dogmatische Konstitution des II. Vatikanischen Konzils zu lesen. Mir helfen die Geschichten, meinen 70. Geburtstag in meiner Kirche zu feiern.

 

Ich friere wenn ich an meine Kirche

und ihre Aufseher denke

Traurig blicke ich denen nach

die gehen oder schon gegangen sind

Doch ich bleibe weil ich Freunde habe

die mit mir die Träume nicht vergessen

die uns verändert haben

in der Kirche

(Wilhelm Bruners)

Der verbeulte Gefährte

Als junger Student fieberte ich einem eigenen Auto entgegen. Klimawandel und CO2 waren damals für mich keine Themen. Ich plante meinen Studienort zu wechseln. Die Stadt Salzburg faszinierte mich. Sie bot nicht nur eine traditionsreiche Hochschule, sondern sie versprach auch einen hohen Freizeitwert. Zumindest konnte ich den Autokauf mit der Entfernung legitimieren.

Mein Vater galt in der Familie als Autoexperte, ohne sich jemals handwerklich mit einem Wagen beschäftigt zu haben. Er hatte sich die Autos nur gekauft, so dass ich seinen Rat schätzte, als er die Kleinanzeigen durchblätterte. Die meisten Angebote kamen nicht in Frage. Sie waren zu teuer und für einen Studenten unbezahlbar. Außerdem hatte mein Vater mir beigebracht, dass die laufenden Kosten beim Kauf mit eingeplant werden mussten. Was nützte ein billiger Kaufpreis, wenn Steuer, Versicherung und Reparaturen zu viel Geld verschlangen. Eines Tages entdeckten wir die Anzeige, auf die ich lange gewartet hatte. „DKW Junior, 8 Jahre alt, 70 000 km gelaufen, kleiner Unfallschaden, für 450 DM von privat zu verkaufen.“ Ich kannte die Fahrzeuge von der Straße. Mit ihren verkürzten Heckflossen täuschten sie amerikanisches Design vor, obwohl die Karosserie auf deutsche Weise zurechtgestutzt war. Wir riefen die angegebene Telefonnummer an. Eine verkaterte Stimme meldete sich. Er habe gerade an der Uni sein Diplom abgelegt, erzählte er, und wolle zurück in seine Heimat, um dort in seinen neuen Beruf einzusteigen. Der alte DKW hindere ihn daran. Deshalb wolle er ihn loswerden.

Als mein Vater und ich vor dem Studentenwohnheim standen, erblickten wir ihn zum ersten Mal. Ungeputzt parkte er am Straßenrand. Die Scheinwerfer ragten aus den überbetonten Kotflügeln heraus, die Schlussleuchten schlossen die rückwärtigen Flossen ab. Über dem Kühlergrill waren die vier Ringe von DKW angebracht. Die lichtgrüne Farbe gefiel mir sofort. Irgendwie sah der Wagen fröhlich aus. Ich drängte darauf, bei dem Studenten zu klingeln. Ein junger Mann öffnete verschlafen die Tür. „Entschuldigung. Habe mein Examen zu stark gefeiert, meine Bude ist nicht aufgeräumt. Schauen wir uns den Wagen sofort an“, so stellte er sich vor und winkte mit dem Autoschlüssel. Zunächst umkreisten wir den Wagen. Seine Rundungen sagten mir zu, die Ecken übersah ich. Eine Delle am hinteren Kotflügel stach dagegen in die Augen. Das Blech war in der Mitte ganz eingedrückt, und die Beule zog sich vom Griff der Fahrertür bis nach hinten zum Schlusslicht. Der Lack war überall abgeblättert und hatte Rost angesetzt. Fragend blickten wir den frisch gebackenen Ingenieur an. „Ja, ja“, stotterte er, „sieht wüst aus, aber ist bis auf das demolierte Metall völlig harmlos. Ich habe einen Pfosten gestreift, so langsam und so behutsam, dass ich es fast überhört habe.“ Er lachte, wir zweifelten. „Ich versichere Ihnen, das ist der einzige Unfallschaden.“ Vor mir parkte ein verbeultes Auto, welches trotzdem liebenswert aussah. Der Besitzer merkte, wie ich mich in den DKW verguckt hatte. Erste Liebe erkennt man in den Augen. Trotzdem ließ mich die Beule nachdenken. „Noch einmal. Es ist der einzige Unfallschaden. Ich habe als Student kein Geld, um sie ausbeulen zu lassen.“ Der junge Mann klang glaubwürdig. „Ich schlage vor, ich zünde einmal den Motor. Dann hören Sie, wie zufrieden er tuckert.“ Der junge Mann öffnete die Fahrertür und setzte sich hinein. Der Motor startete sofort. Er tuckerte wirklich, nicht so laut wie ein Traktor, jedoch mit einer ähnlichen Melodie. Vielleicht hörte es sich an wie ein zu großes Moped. Tack, tack, tack, tack – der Motor lief rund. „Sie kennen doch Zweitaktmotoren.“ Mein Vater nickte, ich hatte schon einmal davon gehört, ohne zu wissen, wie solch eine Maschine funktioniert. „Sie tanken Normal. Dazu müssen sie nur regelmäßig Öl einfüllen. Das ist alles!“ Jetzt erst wurde ich auf die blaue Wolke aufmerksam, die der Auspuff in die Luft pustete. Wahrscheinlich pflegten Zweitakter eine überholte Technik.

Meinem Vater fiel sofort etwas anderes auf, nachdem er die TÜV-Plakette gelesen hatte. „Der TÜV ist überfällig!“, sagte er fast streng. „Bitte überlegen Sie“, antwortete der Verkäufer, „ich war im Examen. Da hatte ich keine Zeit für die TÜV-Untersuchung, und nun ziehe ich um. Ich weiß nicht, wie ich alles machen soll. Der Wagen muss weg.“ Ein Auto vor der anstehenden TÜV-Untersuchung zu kaufen ist ein Risiko. Mir wurde es mulmig. War der Traum vom eigenen DKW Junior bereits ausgeträumt? Aus diesem Grund war ich überrascht, als mein Vater mich beiseitenahm und mir leise ins Ohr flüsterte: „Der Blechschaden ist nicht so schlimm, der TÜV sorgt mich mehr. Trotzdem, er muss verkaufen. Nach dem Gesetz haben wir zwei Monate Zeit bis zur endgültigen TÜV-Untersuchung. Die Zeit kannst du ausnutzen und meinetwegen mit dem Wagen spazieren fahren. Sollte er dann nicht mehr durch den TÜV kommen, was soll es. Du hast deinen Spaß gehabt.“ Um Spaß ging es, von giftigen Auspuffgasen wusste ich nichts. Ich verstand die Strategie meines Vaters. „Zwei Monate Fahrfreude, dein erstes Auto. Wenn wir uns darauf einlassen, muss er mit dem Preis herunter. 450 Mark sind für die kurze Zeit zu teuer.“ Sofort fing er an zu verhandeln. Die beiden Geschäftspartner zogen sich vor meinen Augen zurück. Es ging hin und her. Ich konnte und wollte nicht mithalten. Nach kurzer Zeit erlebte ich den Handschlag. Mein Vater kaufte für mich. Für 150 Deutsche Mark wurde der verbeulte DKW Junior Baujahr 1960 mein erstes Auto.

Schon ein paar Tage später fuhr ich zu einem Klassenkameraden aus der Volksschule. Er war KFZ-Mechaniker geworden. Mit prüfendem Blick schaute er sich meinen DKW an und gratulierte mir spontan. Die Einbuchtung an der Fahrerseite interessierte ihn kaum, da er mit dem technischen Zustand des Wagens zufrieden war. Mit billigen Ersatzteilen machte er ihn TÜV-fertig. Nachdem ich ihn in der Halle vorgefahren hatte, untersuchte der Techniker gründlich, ohne zu kritisieren. Selbst die Beule übersah er. Der Wagen bestand mit Bravour die Hauptuntersuchung.

Zwei Jahre lang begleitete mich der verbeulte Junior. Mit der Einbuchtung und mit vielem Studentengepäck fuhr ich mehr als einmal nach Salzburg. Die lange Strecke bewältigte er mit leisem, rhythmischem Knattern. Die ersten Fahrgemeinschaften wurden gegründet, denn meistens waren Kommilitonen mit mir unterwegs. Der DKW Junior hatte bald seinen Spitznamen weg. Weil er mehr Spaß machte als Ärger, hieß er nur das „Kirmeswägelchen“. In ihm fuhr ich wie in einem Autoscooter auf der Kirmes. So gesehen war er ein treuer Gefährte, halt ein wenig verbeult. Jahrzehnte später begriff ich, was Papst Franziskus unter der verbeulten Kirche verstand.

Brechen wir auf, gehen wir hinaus, um allen das Leben Jesu Christi anzubieten! Ich wiederhole hier für die ganze Kirche, was ich viele Male den Priestern und Laien von Buenos Aires gesagt habe: Mir ist eine „verbeulte“ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist.

(Evangelii gaudium)

Päpstliches Bekenntnis

Als Simon Petrus das sah, fiel er Jesus zu Füßen und sagte: Geh weg von mir; denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr! Denn Schrecken hatte ihn und alle seine Begleiter ergriffen über den Fang der Fische, den sie gemacht hatten; ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, die mit Simon zusammenarbeiteten. Da sagte Jesus zu Simon: Fürchte dich nicht! Von jetzt an wirst du Menschen fangen. (Lk 5,8–10)

Die meisten Pfarrer kennen die grauen Briefumschläge, deren Absender das zuständige Amtsgericht ist. Sie enthalten die Austrittserklärungen von Kirchenmitgliedern. Nach wie vor öffne ich die Briefe mit Unbehagen.

Vor einigen Jahren bekam ich neben dem grauen Papier ein persönliches Schreiben. Ein Mann schilderte ausführlich, warum er aus der Kirche ausgetreten sei. Es schienen keine Glaubensgründe zu sein, sondern er hatte sich über den Papst und die Bischöfe geärgert. Er schrieb sich seine Enttäuschung über deren Amtsführung von der Seele. Meiner Meinung nach waren es die üblichen Vorwürfe. Papst und Bischöfe hätten kein Verständnis für die wiederverheiratet Geschiedenen, und sie würden nach wie vor Schwule und Lesben diskriminieren. Dabei hätten sie in ihrem „eigenen Laden“ sexuellen Missbrauch geduldet. Ich las den Brief unserem Seelsorgeteam vor, um mich beraten zu lassen. Eine Pastoral über den Umgang mit Austrittserklärungen gibt es noch nicht. Ich wollte dem Mann in einem Brief sachlich, ernsthaft und freundlich antworten. Dabei wollte ich Verständnis für Papst und Bischöfe wecken. Um meine Antwort habe ich lange gerungen. Die Reaktion kam schnell. Einige Wochen später schickte mir das Amtsgericht die Austrittserklärung seiner Frau. Klar war ich menschlich enttäuscht. So viel Mühe hatte ich mir gemacht. Wahrscheinlich wird meine Antwort noch den Austritt der Frau provoziert haben.

Als ich den Briefwechsel noch einmal durchlas, fiel mir auf, dass auch Verteidigung wie Angriff wirken kann. Das bekannte Sprichwort „Angriff ist die beste Verteidigung“ lässt sich umdrehen. „Verteidigung ist der beste Angriff.“ Vielleicht wäre es besser gewesen, zu päpstlichem und bischöflichem Fehlverhalten zu stehen. Ich hätte einfach zugeben sollen, dass Papst und Bischöfe Fehler machen. Die Kirchenleitung wurde im Lauf der Geschichte schuldig. Zugeben statt abblocken hätte dem Briefschreiber vielleicht mehr geholfen.

Dazu fällt mir ein, dass nicht nur die Kirchenleitung das Bild der Kirche verdunkelt. Ich als Priester bin beteiligt. Wenn ich ehrlich bin, erkenne ich mein Versagen. Dabei sollte mein Eingeständnis keine Floskel sein. Letztlich geht es um mein ehrliches Schuldbekenntnis. Auch die Gemeinde ist angesprochen. Sie macht Fehler, und manche Kirchenaustritte sind eine Reaktion auf das Fehlverhalten einer Gemeinde. Damals habt ihr meinem Sohn einen Kindergartenplatz verweigert, obwohl genug Plätze vorhanden waren. Aus Prinzip seid ihr nicht auf die Terminwünsche für meine Hochzeit eingegangen, so lauten die Vorwürfe, und vielleicht stimmen sie sogar. Dann geht es nicht um den Papst, sondern um den Pfarrer und das Kirchenvorstandsmitglied aus einer fehlbaren Gemeinde.

Die Gemeinde, die ihre Schuld bedenkt und bekennt, ist in guter Gesellschaft. Der Vorgänger von Papst Franziskus, der erste Papst, Petrus, beginnt seine Laufbahn mit einem klaren Schuldbekenntnis. „Herr, geh weg von mir; ich bin ein Sünder.“ Simon, der hier im Lukasevangelium zum ersten Mal den Papstnamen trägt, bekennt sich zu seiner Schuld, die auch im Verlauf der weiteren Jesusgeschichte offensichtlich wird. Vom Schluss des Evangeliums her gelesen verstehen wir, was gemeint ist. Der Hahn wird erst noch krähen. Nachdem der erste Papst seine Schuld bekannt hat, erhält er den Auftrag, Menschen zu fangen. Vielleicht scheitert unsere Kirche am Menschenfang, weil ihr ein öffentliches Schuldbekenntnis fehlt. Von einer falschen Sicherheit, alles in der Kirche sei richtig und gut, lassen sich die Zeitgenossen nicht mehr täuschen. Sie ahnen genau, wo in Kirche und Gemeinde etwas schiefläuft.

 

Es war schon eine kleine Sensation, als der Nachfolger Petri Johannes Paul II. im Heiligen Jahr 2000 um Vergebung für seine Kirche bat. In einer Erklärung benannte der Papst die Irrtümer, Gewalttaten und Verbrechen im Namen des katholischen Glaubens. Er bekannte die Sünde gegen die Einheit der Kirchen, er erinnerte an die Gewalt, die dem Volk Israel durch die Kirche angetan worden ist, er bat um Verzeihung für die Missachtung anderer Religionen und für die Schuld gegenüber den Frauen. Mit der Vergebungsbitte schloss Johannes Paul II. sein Bekenntnis ab. Die Presse entdeckte in dem Ereignis „wahrhaft historische Dimensionen“. Bischöfe in aller Welt folgten dem Papst, indem sie die Verfehlungen ihrer Ortskirche öffentlich bekannten. Zum ersten Mal sprachen Bischöfe und Papst wie sündige Menschen. Denn sie hatten die Schuld ihrer Kirche eingesehen, bereut und bekannt. So gesehen war es ein wichtiger Schritt von Johannes Paul II. Der Papst hatte die Strategie der Verteidigung aufgegeben. Fehler der Kirche brauchen nicht unter den Teppich gekehrt werden und vor Menschen, die aus der Kirche ausgetreten sind, verteidigt werden. Inzwischen hat auch Papst Franziskus eine Schuld der Kirche öffentlich eingestanden. Auf seiner Reise in Lateinamerika hat er bekannt, dass die Kirche bei der Kolonialisierung des Kontinents schuldig geworden ist.

Es wäre ein notwendiger Schritt, den drei Päpsten nachzueifern. Auch unsere Gemeinde mit ihren Pfarrern hat ihre schuldhafte Geschichte, und es geht nicht nur um Kindergartenplätze und Termine. Hier vor Ort könnten wir um Vergebung bitten.

Auf diese Weise lädt das Geständnis des Petrus zu einer Bekenntniskultur ein, die in unserer Kirche eigentlich zu Hause ist. Allen Kirchenmitgliedern tut ein Bekenntnis gut, wenn es an der Zeit ist. Selbst den Ausgetretenen würde es helfen, ehrlichen und offenen Sündern in der Kirche zu begegnen. Mit dem Bekenntnis fängt die Menschenfischerei an.

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