Baphomet

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HINTERGRUND – 1991/2008
Vom „Crowley-Tarot“ zum „Schöpfervirus“
1991-92

Nach Beendigung des Crowley-Tarots (© 1991 bei Hugendubel, München) fühlte ich mich erleichtert und frustriert: Erleichtert, ein so umfangreiches und gut recherchiertes Werk abgeschlossen zu haben, und unzufrieden, weil es sich, um ein gut verkaufbares Buch bleiben zu können, aus verlegerischen Gründen heraus nicht tief genug mit den Mechanismen der seelischen Abgründe auseinandersetzen durfte. Die ganze esoterisch vermarktete Selbsterkennungs-Schiene erschien mir plötzlich als ein Weg, der weniger zur Auseinandersetzung mit sich selbst als zu einer mehr oder weniger starken Identifikation mit kommerziellen Selbsterkennungs-Modellen führte. Das Schema blieb sich immer gleich: Böses wird verdrängt und auf andere projiziert, der eigene Schatten vor sich selbst versteckt und wo wir nicht dumm genug sind, das Dunkle, Schattenhafte in uns vollkommen zu leugnen, geben wir ihm wenigstens andere Namen. Andererseits konnte es auch kaum im kollektiven Interesse liegen, die letzten Fragen wirklich beantwortet zu bekommen und die Seele zu erlösen, denn ein erlöster Mensch würde kaum „Sinnfindungs-Modelle“ finanzieren, die ihn an sich binden, und damit wäre zumindest die wirtschaftliche Grundlage menschlicher Entwicklung in Frage gestellt.

Irgendwie wurde mir während der Arbeit am Crowley-Tarot auch klar, dass diese ganze Bindung an Modelle (in diesem Fall die Bindung an das Tarot-Modell) im Grunde nichts anderes als ein spirituelles Traumkino war, das sich in seinen eigenen Spiegelbildern bis zur Langeweile erschöpft. Da der Mensch sein Leben immer nur im Guten nachvollziehen will, entspricht das Streben nach Wahrheit dem kindlichen Wunsch, in allem, was er sieht, stets nur die eigenen Wünsche zu erkennen – und das ist nicht Wahrheit, sondern infantiles Wunschdenken. Deshalb fragte ich mich unverblümt, ob es nicht an der Zeit wäre, meinen eigenen Glaubensansatz zu hinterfragen. Mein „Strukturieren von Wissenshäppchen“, spürte ich, entsprach weniger dem Wunsch, Wissen zu erreichen, als vielmehr dem eigenen Unterfangen, das Leben in den Griff zu bekommen und der Flut der Bucherscheinungen meine „eigene Beschreibung“ hinzuzufügen und damit ein bisschen Geld zu verdienen. Irgendwie sagte mir eine innere Stimme, dies sei genau die Position eines jener lächerlichen Autoren, die nur darauf erpicht sind, ihr eigenes Nicht-Verstehen dank der Anerkennung der Leser vor sich selbst auf Distanz zu halten.

Deshalb begann ich mir 1991 Gedanken über einen Tarot zu machen, der ein bisschen tiefer in die Mechanismen der menschlichen Erwartungen eindringt und den Menschen einen Spiegel ihrer unbewussten Bilder und Vorstellungen vorhält. Tarot ist, das war mir klar, eine Landkarte, um die tieferen Seelenlandschaften in uns mit Hilfe von Symbolen von außen zu betrachten. Solange wir uns diesen Modellen nicht ausliefern, also die Landkarte nicht zur Wirklichkeit machen, ist dagegen auch nichts einzuwenden. Wenn wir aber das Modell zur erkannten Wahrheit machen, liefern wir uns der Gewalt unserer Erwartungen aus; denn da wir die Welt nur so sehen, wie wir sie im Denken erleben, benutzen wir Modelle, die uns von unseren Erwartungen überzeugen. Dieser Mechanismus wiederum zwingt die Autoren, sich innerhalb dieser von den Lesern erwarteten Einschätzungen zu profilieren, damit ein Tarot-Buch erfolgreich sein kann. Alles muss aus der esoterischen Perspektive geschildert werden, die selbst im Negativsten noch „spirituelle“ Ansätze zu erkennen glaubt und schöngefärbte Kommentare zum Besten gibt. Nicht, dass dieses Verhalten ungeschickt wäre, nur die Voraussetzung, diesen im Prinzip kreativen Kunstgriff letztlich dazu zu benutzen, die dunkleren Sphären unserer Instinktwerte, die Teil des Ganzen und damit Teil der menschlichen Entwicklung sind, einfach auszublenden, fiel mir negativ auf. Obwohl wir wissen, dass das kollektive Ungleichgewicht eine Voraussetzung der dynamischen Entwicklung ist, die sich, damit sie sich ständig ausbalancieren kann, stets in einem fluktuierenden „Unruhe-Zustand“ verbleiben muss, damit sich Entwicklung überhaupt vollziehen kann, wehren wir uns ständig gegen diesen „unerlösten“ Zustand, ohne zu merken, dass dieses Wehren ja gerade die Grundlage und damit unser schöpferischer Beitrag zur Weiterentwicklung ist, der, auch wenn wir daran „leiden“, nicht als negativ betrachtet werden darf. Solange wir solche Einsichten aber nicht in die von uns benutzten Modelle einfließen lassen, dürfen wir von ihnen nicht nur keine Wahrheit erwarten, sondern geradezu ein Verdrängen dieser Wahrheit. Denn wenn wir die Erwartungen, die sich selbst nicht durchschauen, in die Modelle mit einbeziehen, dann führen uns die Modelle von der Wahrheit weg. Mit einem Wort: In unseren Modellen spiegeln sich immer nur die blinden Erwartungen ... – diese aber vermitteln uns wiederum die Modelle!

Von solchen kritischen Impulsen durchdrungen, nahm ich meine Gedanken über ein Tarot wieder auf. Wenn sich das Denken, das sich erkennt, in das Modell miteinbezieht, so überlegte ich mir, dann könnte ich das Modell dazu benutzen, um den inneren Sinn zu ertasten, der die Menschen generell zur Errichtung ihrer Sinnfindungsmodelle einlädt. Nicht indem ich die Wahrheit im Buch finde, sondern – ganz im Gegenteil – indem ich sie in mir entdecke, wenn ich mich frage, warum ich sie überhaupt im Buch suchen muss. Wenn ein kritisches Buch solche Überlegungen „ins Licht rücken“ würde, dann müsste doch – so dachte ich mir – der Funke der Inspiration auf den Leser überspringen, so dass er seine eigenen Denk- und Vorstellungsmuster erkennen kann. Die entscheidende Frage, die sich mir stellte, war, wie sich dieses Konzept eines „Schattentarots“ bildlich verwirklichen ließe. Welcher Künstler wäre überhaupt bereit und in der Lage, ein so anspruchsvolles Projekt zu realisieren?

Genau in dieser Zeit fiel mir H. R. Gigers großer Bildband Necronomicon in die Hände, dessen Titelbild ein faszinierendes Monster zeigte: Baphomet, das Symbol der Verbindung von rationaler und irrationaler Welt. Beim Betrachten von Gigers Gesamtwerk fiel mir auf, dass es kaum den Schimmer einer seelischen Aufhellung zu zeigen schien. Jedes Bild verkapselte in sich Verzahnungen menschlichen Leidens in einer geradezu grotesk-selbstquälerischen Perfektion. Diese eruptiven, filigran gestalteten und sehr verschachtelten Visionen verdichteten und überlagerten sich zu einem bizarren Panoptikum von Eros und Thanatos, Traum und Realität, und ich fragte mich, ob er mit seiner Kunst nicht etwas sehr Wichtiges mitzuteilen hatte? Enthüllten all die monströsen und zerfressenen, verkrüppelten und verstümmelten Gestalten angesichts des alltäglichen Grauens nicht Ängste, die sehr real sind? Ängste, die wir nicht zulassen wollen und die deshalb nicht ihre natürliche Aufgabe erfüllen können, nämlich uns mit den Auswirkungen unseres eigenen Handelns zu konfrontieren? Auch wenn viele meinten, Gigers Seele wäre in der Faszination seiner von ihm selbst evozierten Dämonen gefangen, schien er mir alles andere als ein skurriler Anbeter dunkler Kräfte zu sein, der kein Empfinden mehr für die Harmonie, Schönheit und Vollkommenheit der Schöpfung hat. Eher ein Wanderer in den Grenzbereichen menschlicher Erfahrungswelten, der eine direkte Verbindung zum Unbewussten hat und dessen künstlerisches Können es ihm ermöglicht, aus seinen inneren Visionen in Form von Bildern, Skulpturen und Design äußere Realitäten zu schaffen. Mit anderen Worten: ein moderner Aufklärer, der den Finger auf die wunden Stellen unserer Lebensweise legt. Wenn er dies nicht auf klassisch-aufklärerische Art und Weise tat – nämlich mit Hilfe der Logik, der kritischen Vernunft und des rationalen Arguments –, sondern in irrationalen, mystischen Visionen, dann deshalb, weil auch die Bedrohung unserer Welt in ihrem innersten Kern zutiefst irrationale Züge aufweist. Damit reiht er sich nahtlos ein in die Galerie großer Künstler, denen es nicht möglich scheint, sich mit der öffentlich sanktionierten Konstruktion der Wirklichkeit in einem faulen Kompromiss zu arrangieren – denken wir nur an Poe, Baudelaire, Böcklin, Rimbaud, Wilde, Meyrink, Kubin, Lovecraft, Dali, Fellini, Pasolini und viele andere. Diese Menschen sind es, die in inspirierten Augenblicken jene innere Form des Geistes erspüren, dem sich unsere kollektiven Vorstellungen nachbilden. Sie fühlen einen unwiderstehlichen Schöpfungsimpuls in sich, der sie aus den alltäglichen Empfindungsmustern herausreißt und sie in jenes Panorama innerer Bilder versetzt, aus dem heraus sie dank ihrer besonderen Fähigkeiten das schaffen, was wir große Kunst nennen.

Von diesem Moment an war es mir klar: Giger – und kein anderer musste der Schöpfer dieses Werkes sein. An Auswahlmöglichkeiten für einen künstlerischen und esoterisch gleichermaßen gehaltvollen Tarotzyklus bestand wahrhaftig kein Mangel. Viele seiner Gemälde erschienen in ihrer archetypischen, symbolreichen Bildsprache geradezu prädestiniert dafür. Wir kamen ins Gespräch miteinander, und nach einem ersten gegenseitigen Beschnuppern fassten wir den Entschluss, aus seinem Gesamtwerk 22 Bilder auszuwählen und diese im Sinne einer Unterweltreise gedanklich miteinander zu vernetzen. Nur das Bild für die Karte VIII Die Kraft gestaltete er neu. So wuchs in den nächsten beiden Jahren dann so etwas wie eine gedankliche Symbiose meines alle gesellschaftlichen Werte hinterfragenden Konzepts und seiner Kunst heran. Da es sich bei seinen Bildern um eigenständige Zeitdokumente handelt, eine Hommage an den Tarot als eine Quelle seiner eigener spirituellen Inspiration, bestand eine andere Beziehung zwischen Karten und Philosophie als sonst üblich. Die Karten wurden nicht im üblichen Sinne „erklärt“, sondern ihre Bedeutung kristallisierte sich in einer Art „Modern Talk“ zwischen dem philosophischen Infragestellen kollektiver Inhalte und der schöpferischen Bebilderung kreativer Tiefenängste heraus. Die Erklärungen wurden also gleichsam in das ausgewählte Bildmaterial „hineinmythologisiert“, um die alchimistische Symbiose zwischen beidem zu ermöglichen. Darüber hinaus schuf er auf meinen Wunsch noch eigens 22 Zeichnungen, die als lllustrationszyklus zum Orakel der Unterwelt erstmals veröffentlicht wurden, denn ich wollte seiner Kunst am Ende jeder Karte ein „literarisches“ Gegenstück zur Seite stellen, das die Motiv- und Symbolverschachtelungen der Bilder mit sprachlichen Mitteln nachvollzieht. Um die orakelnde Wirkung zu steigern und einen alttestamentarisch-prophetischen, hymnusartigen Ton zu erreichen, hielt ich es für eine gute Idee, eine große Anzahl von betonten Silben pro Zeile zu verwenden, um einen schwingenden, schreitenden Rhythmus, eine Art gesteigerter Prosa zu erzielen, die jedem Wort erhabene Bedeutung beimaß. Im assoziativen Empfinden des Lesers sollte sich eine „kombinatorische Inspiration“ entzünden, die jenseits der semantischen Ebene aus der Sprache ihr Feuer empfing – ein Vorgang, der mir aus späterer Sicht weit weniger gefiel. Das Werk wurde unter dem Titel Baphomet – Tarot der Unterwelt als Set mit 500seitigem Buch, Karten und Poster 1992 bei Urania publiziert.

 

1993-1998

Wir geben es zu: Baphomet ist nicht lieb. Er ist kein spiritueller Softie. Baphomet wühlt auf und schockiert. Weil er gnadenlos ehrlich in seiner Meinung über die menschliche Natur ist. Indem er uns in unbekannte Tiefenschichten unseres Innern führt. Mit Visionen, die unter die Haut gehen, titelte die Presse.

Das 1992 erschienene Set wurde in magischen Kreisen zum Kultobjekt, und im Herbst 1995 rief mich der Verlag zu einer geschäftlichen Unterredung an den Rheinfall. Es ging darum, wie wir dieses Produkt noch besser vermarkten konnten. Fred, der alte Direktor, der dieses Unternehmen maßgeblich mitinitiierte, war gerade gefeuert worden, und die seinerzeitige Idee, dem Ganzen nach Taschenbuch (1993), Zweitauflage (1994) und CD-Set (eine Höllenreise nach Baphomet-Texten von der Technogroup Epilepsy, 1995) eine Fortsetzung anzuhängen, wurde von der neuen Geschäftsleitung wieder aufgenommen. Eine Weiterführung des Themas schien mir aus künstlerischer Sicht zwar durchaus interessant – aber was sollte man eines großen Malers Kartenset jetzt folgen lassen? Ich sah da keine Lösung und nach einigem Hin und Her schlug ich der Verlagsführung statt einer Baphomet-Fortsetzung eine Reise durch die Unterwelt nach Dantes Divina Commedia vor, eine Idee, die anfänglich große Begeisterung auslöste. Leider hielt dieses Gefühl nicht sehr lange an; während ich mich an die Arbeit machte, drehte sich in den nächsten Monaten der Wind. War es, dass wir hinter unserem Rücken diffamiert wurden, oder wurde die damalige Konzernspitze, die Biella Neher AG, für die der Verlag nur ein mehr oder weniger rentables Anhängsel bedeutete, plötzlich mit unserem Schaffen oder unserer Medienpräsenz konfrontiert – es blieb mir bis zum heutigen Tag verschlossen. Anfänglich wegen der „pornografischen“ Darstellungen meines neuen Zeichners, des Mythenmalers Thomas Vömel alias Voenix, verfemt, waren auch meine Texte bald nicht mehr erwünscht, und zu allem Unglück wurde die Schweiz im Herbst 1998 – also just zu der Zeit, als sich der Verlag darum bemühte, aus dem Dante-Vertrag wieder auszusteigen – auch noch von einem Mord im satanistischen Umfeld aufgescheucht, wobei die Täter bei der Befragung durch den Gerichtspsychiater neben anderen auch den Baphomet als Inspirationsquelle aufführten. Das war natürlich Gift auf die Mühle dieses Projektes. Der Verlag schmiss mir die Rechte sozusagen in einem Aufwasch mit dem Dante vor die Füße, und wir einigten uns so, dass sie uns die ganzen übrig gebliebenen Bücher überließen, wenn wir als Gegenleistung unsere gesamten Geschäftsverbindungen auflösten.

1999-2001

1999 trat der Benedikt Taschen-Verlag mit der Absicht an uns heran, eine verkürzte Taschenbuchausgabe im Niederpreissegment produzieren zu wollen. Einerseits schien mir die Reduktion des Original-Werkes weder einleuchtend noch besonders originell, andererseits war das Angebot von Taschen schon sehr verlockend, eine einmalige Großauflage in deutsch und englisch produzieren und die Giger-Karten damit weltweit einem interessierten Publikum zugänglich machen zu können. Wir einigten uns auf einen Deal: Ich schraubte die philosophischen Gedankenspiele hinsichtlich eines normalen Deutungsbuches von 500 auf 200 Seiten zurück; dafür konnten wir die Rechte am Titel und am Originalwerk behalten und weiterhin vertreiben.

Daraufhin gründeten wir 2001 eine eigene Firma, die die vorhandenen Ressourcen nutzte und das ursprüngliche Set samt seinen mehrsprachigen Taschenbuchausgaben in die esoterischen Vertriebskanäle einspeiste; gleichzeitig wurde das verkürzte Taschen-Produkt über eine andere Verteilerschiene, die verschiedene Galerien und eigene Läden in der ganzen Welt bediente, lanciert und in wenigen Monaten in einer beachtlichen Auflage von 40‘000 Stück verkauft. Wir nannten es schlicht und treffend H. R. Giger-Tarot.

2003-2008

In den Jahren 2003-2007 habe ich mich noch einmal mit den Geheimnissen der hohen Priesterinnen in den tiefen Brunnenstuben der Seele beschäftigt und zwei umfangreiche Arbeiten zu diesem Thema geschrieben. Zuerst den Akron-Tarot mit den Bildern von S. O. Hüttengrund, in dem wir auch zwei neue Archetypen entwickelten, die Schwarze Göttin bzw. Scharlachrote Anima, die den Schatten der Frau beleuchten, und das Dunkle Kind, ein Verhaltensmuster, das eine Reaktion auf die Ohnmacht und die Sprachlosigkeit darstellt, denen die meisten Menschen in ihrer Kindheit oder im Zusammenspiel mit autoritären Systemen ausgesetzt sind, und das bei manchen als abgespaltener Teil ins Leben tritt und dort das ganze kommunikative Zusammenspiel zwischen den Individuen untergraben und zusammenbrechen lassen kann. Nach dessen Beendigung im Sommer 2004 machte ich mich in den Jahren 2005-07 dann zum zweiten Mal an Crowleys Tarotkarten heran und veröffentlichte meine Überlegungen unter dem Titel Akrons Crowley Tarot Führer, eine Vertiefung des schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnten Titels, der 1991 bei Hugendubel publiziert worden war, und der mich das Thema in allen Belangen erschöpfend ausloten ließ. Dieses Werk erschien Ende 2007.

Das war die Ausgangslage. Ich hatte meinen eigenen Tarot und einen ausführlichen Kommentar über das Crowley-Deck zusammen – fehlte also nur noch das Baphomet-Set. Wie auf ein Stichwort gingen anfangs 2008 die seit dem Rauswurf aus dem Urania-Verlag gebunkerten Baphomet-Bestände zu Ende, und da lag es auf der Hand, diese frühe Arbeit noch einmal in die Finger zu nehmen. Sie hatte mir bei ihrem Erscheinen 1992 viel Freude bereitet, war es doch ein erster Schritt, mich vom esoterischen Mainstream zu befreien; und auch aus heutiger Sicht finde ich das Buch immer noch sehr mutig. Es war ein späthippiehafter, aber durchaus ernst gemeinter Versuch, die Lesegewohnheiten der Leserschaft zu irritieren und mit Themen zu konfrontieren, die tiefer in die globalen Zusammenhänge unserer sozialen Netzwerke hineinstrahlten. Auf der anderen Seite hatte ich aber auch ziemlich viel Salz in diese ganze okkulte Suppe miteingestreut, was mir aus meiner heutigen Sicht ziemlich revisionsbedürftig erschien. Besonders die mephistophelischen und hirnrissigen Geschichten, die ich zu den Skizzen Gigers beisteuerte und die mich 1991 noch begeisterten, gingen mir inzwischen gehörig auf den Geist. Es sind die Gedanken und Vorstellungen, die dem erzählenden Ich, dem Narren aus der ersten Karte der Bilderfolge, durch den Kopf gehen, in denen sich bewusste Beobachtungen und Bilder aus dem Unbewussten gegenseitig durchdringen und befruchten, und in deren steter Wandlung und Umbildung die unausgesprochenen Assoziationen und die unterbewussten Zusammenhänge als Quelle visionären Erlebens deutlich werden. Da sie andererseits das Gefüge bildeten, das Gigers wertvolle Entwürfe zusammenhielt, konnte ich sie aber auch nicht einfach entfernen. Deshalb verkürzte ich sie zu einem kleinen Leitfaden durch das Labyrinth der Karten, Die 24 Stufen zum Throne Gottes, eine eigenständige Rahmenhandlung, die das schillernd-vielschichtige Kaleidoskop der Seele in einer Verbindung orgiastischer Eruptionen und psychedelischer Gedankenkaskaden nachzeichnete. Im Weiteren galt es, die im Original-Werk bewusst vernachlässigten Deutungstexte esoterikerfreundlicher zu machen, also etwas aufzupeppen und psychologisch zu vertiefen, ohne aber den in großen Teilen ironisch hinterfragenden Denkansatz der Vorgabe zu verschieben.

So weit – so gut. Ich versuchte, meinen Hang zum Zynismus ein bisschen zu zügeln und dem unvoreingenommenen Leser nicht länger gegen die Gehirnzellen zu treten, wenn ich meinem alten Drang, die Denkgewohnheiten und Verhaltensnormen in den Köpfen der Menschen durcheinander zu wirbeln, frönte. Aber war es das wirklich – oder doch nicht ganz? Fehlte da nicht noch etwas, oder war ich am Ziel? Gewiss, im Nachhinein betrachtet fehlte noch die Krönung, das Highlight, das eine Neuauflage zwingend machte: sozusagen der entscheidende Kick – aber das war mir damals überhaupt nicht bewusst. Deshalb kam mir der Schöpfergeist in seiner Lieblingsrolle als „Freund Zufall“ zu Hilfe. Beim Redigieren dieses Buches bemerkte ich plötzlich, wie der Blick einer Bekannten, die mich gerade besuchte und namentlich nicht erwähnt werden möchte, über Gigers Baphomet1 streifte, dessen Titelbild neben meiner Tastatur lag. Da ich wusste, dass sie beruflich mit Mikroben zu tun hatte, meinte ich schmunzelnd zu ihr, dass dieses Monster auf dem Cover doch eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren Lieblingsgeschöpfen hätte. Es entspann sich spontan eine angeregte Konversation und plötzlich war uns klar: Es schien, als wollte den vorhandenen Karten noch eine neue, zusätzliche Dimension hinzugefügt werden: Das Schöpfervirus. Zur selben Zeit nächtigte auch Patricia bei mir im Schlösschen, die junge Künstlerin aus Augsburg, die schon für meinen Crowley-Führer2 2007 einige wunderbare Illustrationen anfertigte, und war sofort bereit, ein paar Zeichnungen zu diesem schier unerschöpflichen Thema beizusteuern. Damit war die Sache beschlossen. Natürlich dauerte es noch ein paar Wochen, bis der zusätzliche Trumpf nahtlos in die vorhandene Kartenreihe eingefügt war – aber der erste Schritt war getan.

Das war der „Missing Link“, der diesem Buch noch fehlte, das Herzstück, in dem sich spirituelles Ergründen, künstlerisches Empfinden und wissenschaftliches Erkennen die Hand reichten. Deshalb möchte ich Patricia und dem unergründlichen Geist in der Maske des Zufalls eine große violette Rose schenken als Ausdruck meiner Liebe für den kreativen Umstand und schöpferischen Akt, ganz entscheidend dazu beigetragen zu haben, was dieser Neuauflage aus meiner aktuellen Sicht überhaupt erst zur Legitimation verhilft: dem Einbringen neuer Einsichten in einem neuen Archetypus – einer neuen Karte.

St. Gallen, am Ruhberg, November 2008, C. F. Frey

1 H. R. Giger’s Necronomicon, Bd. 1

2 Akrons Crowley Tarot Führer, 2007 AGM AGMüller Urania, Neuhausen/Schweiz


H. R. Gigers „Baphomet“

The Spell IV, 1977, Werk-Nr. 331, 2,40m x 4,20m

Nach Art eines Triptychons gestaltet, besitzt das Bildwerk drei Flügel, die verschiedene Sphären der Schöpfung darstellen. Zur Rechten Baphomets (links vom Betrachter) befindet sich das „Paradies“, dessen lichtvolle Sphären durch das helle, aufrechte Pentagramm verkörpert werden. Zur Linken ist die „Hölle“, symbolisiert durch das dunkle, inverse Pentagramm. Baphomet selbst in der Mitte vertritt die Daseins-Ebene des Menschen, die „Realität“, in der die Polaritäten sich gegenseitig durchdringen, bekämpfen oder ausgleichen (dargestellt durch die beiden ineinander verflochtenen Pentagramme, die die Verbindung von Mikrokosmos und Makrokosmos zum Ausdruck bringen). Die symbolischen und allegorischen Bezüge der figürlichen Darstellungen verweisen auf den Bereich des Stirb und Werde – des Todes und der Wiedergeburt.