Briefe an einen toten DIchter

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Briefe an einen toten DIchter
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Briefe an einen toten Dichter

Impressum

Alle Rechte vorbehalten

(c) 2017 AQ-Verlag und Brûlepourpoint

2. Auflage 2019, 3. überarbeitete Auflage 2021

Übersetzung: Erwin Stegentritt

Titelblatt unter Verwendung eines Bildes von Till Neu aus der Serie "Sieben Bilder für Agnès Rouzier".

Französische Originalausgaben:

(c) 1981 Furor

(c) 1985 Éditions Seghers/Laffont

(c) 2016 Brûlepourpoint

Druck: MaroDruck, Augsburg

Printed in Germany

Print: ISBN 978-3-942701-49-5 (3. Auflage)

Print: ISBN 978-3-942701-33-4 (2. Auflage)

E-Book: ISBN 978-3-942701-52-5 (3. Auflage)

E-Book: ISBN 978-3-942701-34-1 (2. Auflage)

Weitere bibliografische Angaben bei der Deutschen Nationalbibliothek http://dnb.dnb.de

AQ-Verlag

Weinbergweg 16

6119 Saarbrücken

Germany

www.aq-verlag.de

Agnès Rouzier
Briefe an einen toten Dichter
An Rilke


1

Wie prächtig ist es jetzt bei mir geworden. Bedenken Sie, liebe Paula Becker, ich hatte auf meinem Schreibtisch einen Kupferkrug, darin Dahlien in der Farbe alten Elfenbeins, leise gilbende Dahlien, standen, gerade so, daß die phantastischen, wunderbaren Blätter des Kohls nur dazu gesteckt werden mußten, damit ein Wunder geschähe. Es ist geschehen und wirkt. - Auf der zu dem Bücherregal gebauten Bank war ein hohes schlankes Glase mit einigen Hagebuttenzweigen aufgestellt, dort fügten sich die schweren Dolden der Vogelbeeren ein, und zu Föhrenzweigen reimten die großen gelben und goldenen Blätter sich, diese großen Kastanienblätter, die wie ausgespannte Hände des Herbstes sind, welche Sonnenstrahlen ergreifen wollten. Aber jetzt, wo die Sonnenstrahlen nicht mehr gehen, sondern Flügel haben, fängt kein Kastanienblatt einen Sonnenstrahl. Alles bei mir (will ich mit dieser Aufzählung sagen) war vorbereitet, den Herbst zu empfangen, mit dem Sie mich überrascht und beschenkt haben. (...)

Diese ersten Novembertage sind für mich immer katholische Tage. Der zweite Novembertag ist der Tag von Allerseelen, den ich bis zu meinem 16. oder 17. Jahr immer, wo ich auch gerade gewohnt haben mag, auf Kirchhöfen verbrachte, an fremden Gräbern oft und oft an den Gräbern von Verwandten und Vorfahren, an Gräbern, die ich mir nicht erklären konnte und über die ich nachdenken mußte in den wachsenden Winternächten. Damals kam mir wohl zuerst der Gedanke, daß jede Stunde, die wir leben, eine Sterbestunde ist für irgendwen und daß es wohl sogar mehr Sterbestunden als Stunden des Lebendigen gibt. Der Tod hat ein Zifferblatt mit unendlich viel Zahlen... Jetzt besuche ich seit Jahren keine Gräber mehr zu Allerseelen. Nur zu Heinrich von Kleist pflege ich in diesen Tagen hinauszufahren nach Wannsee. Spät im November ist er da draußen gestorben; in einer Zeit, wo viele Schüsse fallen im leeren Walde, fielen auch die zwei schweren Schüsse aus seiner Waffe. Sie unterschieden sich kaum von den anderen, vielleicht daß sie etwas heftiger waren, kürzer, atemloser... Aber in der lastenden Luft werden die Geräusche alle ähnlich und stumpfen sich ab an den vielen weichen Blättern, die überall im Sinken sind.

Aber ich merke, das ist kein Brief für Sie und eigentlich auch für mich keiner.

Brief an Paula Becker (5. November 1900)

Mein lieber Rilke!

Dein Brief ist in der größten Unruhe der Wörter die Ruhe selbst. Und zutiefst in deinem Innern weißt du, dass das Schreiben eine unendliche Sehnsucht enthält, der man nicht entkommt - die Sehnsucht nach dem Schreiben.

Die Vision eines vertrauten und zugleich fremden Doppels.

Wie die Engel keine Engel waren, waren die Rosen keine Rosen.

Hier bildet sich, hier bewegt sich ein anderer Zustand: ja, die Ruhe der Unruhe.

Und du bist geblieben.

Welche Gemeinsamkeiten gibt es denn zwischen dir, dir allein, und dem Wesen des Schweigens? Das endlose Glück und die endlose Hinfälligkeit des Schweigens.

Ein Platz zum Verweilen, der nie dein Platz gewesen ist. Der fast nie angenehm gewesen ist, und von dem dennoch die Wörter nacheinander oder alle auf einmal emporgestiegen sind. Sich drängelnd wie lebendes und sterbendes Fleisch.

So viele Sterbestunden, in denen sich die Schüsse vermischen. So wird Kleists Tod zu einer Vorform des Todes. Ein Tod im Voraus. Ein vorweggenommener Tod. Und in den Schüssen stets die vollkommene Stille. Und es ist Gerechtigkeit.

Wusstest du dich damals so nah der Musik, einem Ton, präzise in einem durchsichtigen Gefäß gehalten, der dennoch bereits aus den Fingern glitt und stets geglitten ist?

Durchsichtig. Ist das nicht ein Wort, das uns nahe ist?

Du redest immer weiter: so auf die Spitze getrieben; was nicht ist.

Das Verschwinden der Dinge in ihrer Eigenart als Ding.

Ein Ding: wie oft haben wir von diesem Begriff geträumt.

Manchmal haben wir ihn erfasst, manchmal haben wir ihn, in Geduld, mit Ungeduld vermischt, ausgelöscht.

Aufbauen. Umwerfen.

Aber immer voll Erwartung. Und der Blick. Der schenkende oder der zurückweisende Blick. Das Ding aufgegangen im Unsichtbaren, von dem es gebildet und bestätigt wird.

Auch an dich kann man sich wenden mit den Worten: „meine Legende“1

Du bist schuldlos und todbringend.

Plötzliches Schwatzen in einem Garten, der gefüllt ist mit Marionetten, wie du sie liebst, oder mit Puppen, vor denen du dich fürchtest.

Wir reisen immer weiter.

Ich will, dass das Wort abreisen einen Sinn hat.

Durch dich hindurch ein ganzer Wortschatz, Wort für Wort, in seiner Substanz: „die Sinnlichkeit der Seele“.

Reisen, festhalten. Ganz genau mit beiden Händen.

Eine Seite, die Rückseite, trägt Ornamente, Arabesken, ein Gewirr aus Tönen, Gebärden, Hingabe, ein Gewirr, ja ein Gewirr aus verschiedenen, manchmal naheliegenden, manchmal unwahrscheinlichen Überbleibseln.

Hierhin legst du die „phantastischen, wunderbaren Blätter des Kohls“, mitten in die Dahlien mit der Farbe alten Elfenbeins.

Und du sagst nicht Blumen, und du sagst nicht Strauß:

„Jede Stunde, in der wir leben, eine Sterbestunde“.

Ein Anderer. Immer ein Anderer. Du und niemand.

Wohnst du in einem Haus? In einem Zimmer? Es ist dennoch kein Dekor. Oder die verflüchtigte, so ausgedünnte Quintessenz von einem Dekor. Ein wahrhaftiger Dekor.

Dein Wollen. Eine seltsame Beharrlichkeit, die sich selbst so bescheiden gibt!

Ich will, dass das Wort abreisen einen Sinn hat.

Du reist wie ein Reiter, der seinem Pferd ungeduldig vorausgeht und sich von Zeit zu Zeit umdreht, um es zu streicheln.

Was haben wir gemeinsam? Wo ist der Austausch?

Tränen oder Lächeln?

Langsam sind wir auf Kleists Grab zugegangen, langsam haben wir hingeschaut, langsam haben wir uns geöffnet. Ein Blick, ein einziger Blick war Neubeginn und Fallen. Ein unendlich dichtes Fallen, als sei es dick umhüllt. Aus dem „Müssen“ wurde: alles ist uns Macht.

Eine leichte, eine bescheidene Macht - und Größe... Das, was über uns hinausgeht, aber auch und vor allem, was erschüttert.

Die Sonne scheint auf eine Stadt und die Stadt ist nicht mehr Stadt, sondern Licht. Das Licht selbst. Das Wesen und das Sterben dieses Lichts. Endlos, dauerhaft, anderswo, auf immer gegenwärtig, dort, aber es gibt sich hin, verweigert sich, ist angeboten, ist gänzlich außerhalb der Materie.

Ich werde nicht müde zu sagen: du betrachtest, du berührst, du streichelst, was denn?

Die Dinge? Eine andere Seite deiner selbst.

Dein „eigener, stets gegenwärtiger Tod“.

Deine Hände. Zerbrechlich. Lebendig. Der Stoff. Deine Hände. Die Wörter.

Ein Blick. Beharrlich sagst du Ja, dann verschwindest du. Du löst dich auf.

Und dennoch nähern wir uns, und die Annäherung ist ganz und gar Bewegung. Halb nur angeboten, halb nur berechnet, doch empfangen.

Ich weiß nicht, wo ich gewesen bin, als ich deinen Brief gelesen habe.

Auch für mich war das Wort „Zimmer“ kein Zimmer, auch kein Dekor, auch nicht wahrhaftig: die Dinge beobachteten mich. Die Bewegung eines unbestimmten Schauens kam von ihnen zu mir. Sie allein besaßen Macht. Eine Art, allerdings nur eine Art zu sein: Abwesenheit.

Du hustest stark. Eine Gebärde kommt dir in den Sinn: das Hingeben (das Opfer) einer Hand, eine barocke Statue2.

Der ganze Himmel verändert sich.

Ich will mich bewegen. Ich will laufen. Ich und laufen. Ich, die Ruhe in der Bewegung, in der Bewegung der Wörter.

Unendlich viele Blicke sind zusammen getroffen. Wir haben gelernt, in jeder Bewegung inne zu halten. Nicht erstarrt, sondern beobachtend.

Kein Ort zum Verweilen, kein Ort zum Sein. Wie kann man also sagen: „ich“.

Und dennoch bist du genaugenommen „du“ gewesen. Der überlegt berechnete Weg, wo jeder Gedanke, jede Gebärde den eigenen Ort gefunden hat.

Auf dem Friedhof verliert die Schicht der Blätter allen Glanz, doch sie rascheln und rascheln weiter.

Der Blick bedeckt all dieses mit einer gleitenden, fast gierigen Bewegung, dennoch schon voller Verzicht.

 

Du?

Wie wird alles uns zur Dauer, wie wird alles für uns zerbrechlich.

Wir buchstabieren hier das Wort unendlich: das welke Laub. Eine Mauer.

Ein plötzliches Lachen, gerade hier, ein Lachen. Immer leichter: der Gedanke an Flucht. (Wie wichtig war es uns zu sagen: sanft. Die Sanftheit „par excellence“, diese Tat.)

Der Blick ist das Fließende.

Ich will, dass das Wort abreisen einen Sinn hat.

Eine barocke Statue als das wuchernde Leben des Todes. Und genau hier gibt sich die hingebende Hand3.

Weshalb kommen mir manchmal, wenn ich mich an dich wende, die Worte in den Sinn: ich will, ich will nicht mehr, ich löse mich auf, ich löse auf.

Nicht mehr weitergehen, hier bleiben, sein.

Sag mir, gibt es ein Wort, das lauter schreit als das Wort „sein“.

Hier finden sich jede Verformung, wie jedes Sein.

Ich möchte dir sagen: ja, du bist „wertvoll“, wertvoll, so wie man wild ist: du hast dich aufgespart für eine lange Bedrohung ohne Ausgleich: für „das Offene“.

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