Eine illustrierte Erklärung der Menschenrechte in 30 Skizzen

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Eine illustrierte Erklärung der Menschenrechte in 30 Skizzen
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Adrienne Träger

Eine

illustrierte Erklärung

der Menschenrechte

in 30 Skizzen

Mit einem Vorwort von Marijke Seidlitz

©2019 Adrienne Träger

Umschlaggestaltung: Adrienne Träger

Verlag:

Amnesty International, Asylgruppe Aachen

Adrienne Träger

Adalbertsteinweg 123 a/b

52070 Aachen

www.amensty-aachen-asylgruppe.de buecher@amensty-aachen-asylgruppe.de http://facebook.com/amnesty.asylgruppe.aachen Druck : epubli – ein Service der neopubli GmbH Berlin

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors/der Autoren bzw. Herausgeber unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Aufführung oder sonstige öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Als mich Adrienne Träger fragte, ob ich zum vorliegenden Buch ein Vorwort schreiben könnte, kamen mir – statt eines einleitenden Textes – auf einmal ganz viele Fragen in den Sinn. Ich hatte gerade zur Vorbereitung auf mein Schöffenamt alle deutschen Gesetze samt Kommentaren bekommen, ein ganzer Leinenbeutel randvoll mit kleingedruckten Abkürzungen, die sich auf hauchdünnem Papier befinden. Die rechtliche Grundlage für ein friedliches Miteinander in Deutschland. Recht, ein hohes Gut. Und dennoch – die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist eben kein Gesetz im formellen Sinne. Was hat es dann mit diesem besonderen Text auf sich? Muss er überhaupt erklärt werden und dann auch noch bildhaft?

Vor über zweieinhalbtausend Jahren, genau genommen im Jahr 538 vor Christus, gab es den Kyros-Zylinder. Die Inhalte der Proklamation des altpersischen Königs Kyros des Großen gelten heute als erste Anfänge der Menschenrechte; Erwähnung findet die große Tonrolle unter anderem in der Bibel in Esra 1:1-4 und Esra 6:3-5. Es mussten jedoch noch schlimme Verbrechen an dem Menschen geschehen, bevor die Vereinten Nationen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges am 10. Dezember 1948 unter Vorsitz von Eleanor Roosevelt, Witwe des ehemaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, die Universal Declaration of Human Rights (UDHR), die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR), in der Resolution 217/A-(III) verabschiedeten. Die dreißig Artikel sind kein Gesetz im formellen Sinne und dennoch kommt ihnen eine beinahe noch größere Bedeutung im Alltag zu, denn schließlich sollen sie Menschen den größtmöglichen Schutz gewährleisten.

Es lohnt sich also, die Rechte des Menschen einmal näher zu betrachten. Im vorliegenden Werk ist es der Autorin hervorragend gelungen, sowohl einen Einblick in die Deklaration der UN, als auch mehr oder weniger gelungene Umsetzungen derselben zu geben. Macht man sich bewusst, dass die skizzierten Geschichten entweder auf Tatsachen beruhen oder zumindest sich so im Jahr 2019 im aufgeklärten Europa, ja sogar in Deutschland, zutragen können, lässt es einem gelegentlich den Hals eng werden und man verspürt Beklemmungen wie in dem allzu bekannten Albtraum, in welchem man fällt und fällt und einfach nicht aufzuwachen scheint. Zwar gelten die Menschenrechte für einen jeden ausdrücklich per Verfassung zu den einklagbaren Rechten und zwar unabhängig davon, ob man Staatsbürger des Landes ist, in dem man sich befindet, oder nicht. Allerdings handelt es sich bei den dreißig Artikeln samt Präambel eben nicht um ein formelles Gesetz, was einfach einen anderen Handlungs- und Umsetzungsspielraum ermöglicht.

Neben ernsten Skizzen scheint doch immer wieder Humor und Lebensfreude durch. Jede Überlegung regt zum Nachdenken an. Und egal, ob man hinterher Tränen vor Ohnmacht oder vor lauter Lachen in den Augen hat – es lohnt sich, sich dieselben nicht achtlos aus dem Gesicht zu wischen und das Buch nicht frühzeitig zur Seite zu legen. Menschenrechte spiegeln sich in den kleinsten Begebenheiten, den unbedachtesten Worten unseres Alltags wieder. Siebzig Jahre nach der offiziellen Einführung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in einem Zeitalter, in dem Integration und Inklusion keine Fremdwörter mehr sein sollten, liegt es an uns, ob wir den Mut haben, manchmal noch stets vorherrschende Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken und im Kleinen nicht nur Menschenrechte, sondern vielmehr Menschenwürde zu leben.

Marijke Seidlitz

Köln, im August 2019

Präambel

Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet, da Verkennung und Missachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei führten, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben, und da die Schaffung einer Welt, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird, als das höchste Bestreben der Menschheit verkündet worden ist, da es wesentlich ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als letzte Mittel gezwungen wird, da es wesentlich ist, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen zu fördern, da die Völker der Vereinten Nationen in der Satzung ihren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau erneut bekräftigt und beschlossen haben, den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen in größerer Freiheit zu fördern, da die Mitgliedsstaaten sich verpflichtet haben, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten durchzusetzen, da die Gemeinsame Auffassung über diese Rechte und Freiheiten von größter Wichtigkeit für die volle Erfüllung dieser Verpflichtung ist, verkündet die Generalversammlung die vorliegende „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder Einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung dieser Rechte und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende Maßnahmen im nationalen und internationalen Bereich ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Verwirklichung bei der Bevölkerung sowohl der Mitgliedsstaaten wie der ihrer Hoheit unterstehenden Gebiete zu gewährleisten.

Artikel 1 Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Er wurde von der achtlos weggeworfenen Bananenschale geweckt, die auf seinem Kopf gelandet war. Nun ja, wenn man sich zum Schutz vor der Witterung sein Lager zwischen Müllsäcken und Containern voller Abfall baute, fiel es wohl unter „allgemeines Lebensrisiko“, dass man gelegentlich auch etwas von dem Dreck abbekam, unter dem man lag. Aber wenigstens war es hier warm und einigermaßen trocken, auch wenn gelegentlich etwas auf einem landete, das dort nicht hingehörte.

Er schnippte die Bananenschale zur Seite und seufzte. Es war wohl keine Absicht gewesen, aber irgendwie war es doch ein Sinnbild für sein Leben, denn auch, wenn er nicht gerade in Mitten von Unrat herumlag, ging diese Gesellschaft mit ihm so um, als sei er ein Stück Abfall – zumindest dann, wenn sie ihm denn überhaupt Beachtung schenkte, denn viele Menschen behandelten ihn schlichtweg, als sei er unsichtbar. Auch das war für ihn irgendwie nachvollziehbar, schließlich war Elend etwas Unangenehmes und niemand wollte es direkt vor Augen geführt bekommen. Irgendwo konnte er es ihnen auch nicht verübeln, war er doch früher selbst nicht besser gewesen. Was für Menschen dort auf den Straßen seiner Stadt lebten und was für Schicksale sie dorthin geführt hatten, hatte ihn damals genauso wenig interessiert. Er war immer davon ausgegangen, dass es sich dabei um Menschen handelte, die sich nicht anpassen wollten oder die zu faul oder zu dumm gewesen waren, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Heute wusste er es besser.

Er konnte nicht sagen, was ihn mehr verletzte – die Menschen, die beleidigende Bemerkungen von sich gaben und vor ihm ausspuckten, wenn er mit seinem Becher in der Hand auf ein bisschen Kleingeld hoffte, oder diejenigen, die ihn schlichtweg völlig ignorierten. Vermutlich waren es die letzteren, die ihm mehr zusetzten, denn wenn seine Anwesenheit noch eine Reaktion bei anderen hervorrief, konnte er sich wenigstens gewiss sein, dass er noch existierte.

Er schälte sich langsam aus seinem Schlafsack. So hell wie es inzwischen war, war es sowieso an der Zeit, aufzustehen. Aber langsam und mit Ruhe. Mittlerweile machte er alles mit viel Ruhe und Bedächtigkeit, denn er wurde auch nicht jünger und seine Knochen wollten schlichtweg nicht mehr so wie früher. Andere Menschen seines Alters gingen mit solchen Wehwehchen zum Arzt und bekamen vermutlich irgendwelche Pillen dagegen verschrieben. Nun ja, er war eben nicht andere Menschen seines Alters. Den Schlafsack faltete er zusammen und brachte ihn in sein übliches Versteck, damit er nicht über Tag wegkam, weil ihn entweder jemand gebrauchen konnte oder die Müllabfuhr ihn mitnahm. Dann machte er sich auf den Weg.

 

Es war gegen zehn Uhr, als er an seinem Stammplatz in der Fußgängerzone ankam und sich mit seinem Pappbecher vor seinem Lieblingsdenkmal nieder ließ. Wenn ihn seine innere Uhr nicht täuschte, war heute Samstag und es waren viele Familien mit Kindern unterwegs. Er saß noch nicht lange dort, als ein Kind seine Mutter am Mantel zupfte und meinte: „Mama, schau mal, da auf dem Schild steht, dass der Mann Hilfe braucht, um sich etwas zu essen kaufen zu können“. Die Mutter schnaubte verächtlich durch die Nase. „Pah, wenn der etwas vernünftiges gelernt hätte, müsste der da nicht sitzen. Außerdem gibt der das Geld wahrscheinlich sowieso nicht für Essen sondern eher für Alkohol und Drogen aus. Siehst du, das passiert, wenn man in der Schule nicht aufpasst. Wenn der sein Abitur gemacht und etwas vernünftiges studiert hätte, dann müsste der nicht fremde Leute anbetteln!“ Sie zog das Kind am Arm weiter, das anfing, seine Mutter mit Fragen zu löchern, wieso ein Abitur einen davor schützte, mit einem Pappbecher in der Fußgängerzone zu sitzen.

Er schaute zum Fakultätsgebäude hinüber und stellte sich die gleiche Frage, denn er selber hatte ein Abitur – und nicht nur das. Vor ziemlich genau vierzig Jahren hatte er das Gebäude der ingenieurwissenschaftlichen Fakultät das erste Mal betreten. Als junger Erstsemester im Diplomstudiengang. Er war ein intelligenter, junger Mann mit einer guten, mathematischen Begabung und großen Zielen gewesen. Sein Studium hatte er innerhalb der Regelstudienzeit abgeschlossen. Mit Auszeichnung. Sein Professor hatte viel von ihm gehalten und ihm daraufhin eine Promotionsstelle angeboten. Auch seinen Doktor hatte er mit Summa cum laude bestanden. Die Unternehmen in der Stadt hatten sich regelrecht darum gerissen, ihn einstellen zu dürfen. Während des Studiums hatte er eine Frau kennengelernt, mit der er sich ein Familienleben aufbauen wollte. Sie heirateten, bauten sich ein Haus, bekamen zwei Kinder. Er hatte ein nahezu perfektes Leben.

Doch dann veränderte sich alles schlagartig von einem Tag auf den anderen. Das Unternehmen, bei dem er gearbeitet hatte, meldete Insolvenz an und er verlor seine Stelle. Aufgrund der Rezession und seines Alters fiel es ihm schwer, wieder in Arbeit zu kommen. Die Vermittler beim Arbeitsamt waren ebenfalls wenig hilfreich, wenn es darum ging, einen neuen Job für ihn zu suchen. Angebote unterbreiteten sie ihm nicht und Qualifizierungsmaßnahmen lehnten sie jedes mal mit fadenscheinigen Begründungen ab. Je länger die Situation andauerte, umso schwieriger wurde es für ihn, eine angemessene Stelle zu finden. Ingenieure wurden zwar irgendwann wieder vermehrt nachgefragt, doch wenn er sich bewarb, bekam er immer nur zu hören, sein Fachwissen sei veraltet, weil er zu lange aus dem Job raus sei und man könne ihn daher leider nicht gebrauchen.

Mit der Situation wurde er nicht fertig und so begann er, zu trinken. Eines morgens wachte er auf und fand einen Zettel auf dem Küchentisch. Seine Frau hatte ihn verlassen und die beiden Kinder mitgenommen. Er hatte sich einfach zu sehr verändert, als dass sie es noch lange hätte mit ihm aushalten können. Auch damit wurde er nicht fertig und trank deshalb noch mehr. Das Haus war noch nicht abbezahlt, die Raten konnte er nicht mehr bedienen und so pfändete die Bank es schlussendlich. Eines Tages stand er dann da, der ehemalige Shootingstar der Universität, ohne Dach über dem Kopf und nur mit dem, was er am Leib hatte.

Man hatte ihm die Adresse einer Notunterkunft gegeben, aber er hatte Anpassungsschwierigkeiten und wurde mehrfach dabei erwischt, wie er Alkohol in die Unterkunft geschmuggelt hatte. Schließlich flog er wegen des wiederholten Regelbruches raus und stand wieder auf der Straße. Es war ein langer und schmerzhafter Prozess gewesen, der ihn gelehrt hatte, dass Alkohol keine Probleme löste, sondern nur welche schaffte. Das Trinken gab er dran, doch Anpassungsschwierigkeiten hatte er immer noch, weshalb er nun vollständig auf der Straße lebte und das schon seit vielen Jahren.

Das klimpern in seinem Pappbecher holte ihn aus seiner Trance zurück. Er warf einen Blick hinein und stellte fest, dass es für ein Brötchen und eine Tasse Kaffee reichte, sammelte seine Sachen ein und ging. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um und warf einen Blick auf die Inschrift am Sockel des Denkmals, an dem er am Vormittag gesessen hatte. Dort stand: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Artikel 2 Verbot der Diskriminierung

(1) Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, wie etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen.

(2) Des Weiteren darf keine Unterscheidung gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, ohne Rücksicht darauf, ob es unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder irgendeiner anderen Beschränkung seiner Souveränität unterworfen ist.

Der Gast, ein älterer Herr, stellte seinen Koffer an der Rezeption ab und schob der Angestellten seinen Zimmerschlüssel hin. „Ich würde dann gerne auschecken.“ „Sehr gerne.“ Die junge Frau machte die Rechnung fertig und kassierte. „Dann wünsche ich Ihnen noch eine gute Heimreise und ein schönes Wochenende. Ich hoffe, der Aufenthalt in unserem Hause hat Ihnen gefallen.“ „Ja, Danke, und das hier ist für Sie.“ Er schob der Rezeptionistin gönnerhaft ein einzelnes Eurostück über die Rezeption. „Da, wo Sie herkommen, ist das ja viel Wert.“ Die junge Frau strahlte ihn über das ganze Gesicht an. „Das stimmt. Bei uns in Chorweiler bekomme ich da noch vier Brötchen für. Im Rest von Köln nur drei.“ Der Mann wurde puterrot im Gesicht, steckte seinen Euro wieder ein, brummte irgendwas von „Unverschämtheit“ und verließ wutschnaubend das Hotel.

Sie warf einen Blick über die Schulter, denn sie hatte das Gefühl, dass jemand hinter ihr die Szene beobachtet hatte. Gott sei Dank, in der Tür hinter ihr stand nicht die Rezeptionsleitung, sondern nur der Housekeeper, der sehr breit grinste. „Was denn? Soll ich mir das etwa gefallen lassen?“ „Du hast ja recht, Mary, das war auch verdammt rassistisch, aber lass dich bei so was nicht von Lisa erwischen. Das gibt sonst richtig Ärger.“ Sie zuckte mit den Achseln. Und wenn, es war ihr mittlerweile egal. Sie war es leid, ständig wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert und in ihrer Menschenwürde verletzt zu werden. Was konnte sie denn dafür, dass ihre Eltern aus Angola kamen? Seit ihrer Kindheit bekam sie zu spüren, dass sie anders war als andere, nur weil sie nicht weiß war. Früher im Kindergarten hatte es sie einfach nur irritiert, wenn andere Kinder ihr am Arm leckten, weil sie wissen wollten, ob sie nach Schokolade schmeckte. In der Schule hatte es ihr weh getan, dass man ihr unterstellte, sie würde sich nicht waschen, weil ihre Haut braun war und Dreck darauf angeblich nicht auffallen würde. Aber ihre Eltern hatten ihr immer gut zugeredet. Kinder würden vieles nicht verstehen. Erwachsene wären da anders. Wenn sie groß wäre, würde sie das schon sehen. Vor allem, wenn sie einen respektablen Beruf erlernen und studieren würde, dann würde diese Gesellschaft ihr völlig anders gegenüber treten und ihr den Respekt entgegen bringen, den sie auch verdiente. Sie hatte ihren Eltern geglaubt. Eltern glaubt man immer alles, wenn man klein ist. Eltern haben immer recht. Dachte sie.

„Lisa kann mich langsam mal. Hast du das gestern mitbekommen?“, fragte sie den Kollegen. „Nein, was war denn?“ „Ich stand mit Paul hinter der Rezeption, als ein Paar mit zwei kleinen Kindern anreiste und meinte: ‚Oh, guckt mal, zwei Neger! Ja, sind wir denn hier in Afrika?‘“ Leo schüttelte fassungslos den Kopf. „Nicht dein Ernst!“ „Doch.“ „Hast du das Lisa gemeldet?“ „Brauchte ich nicht. Die stand daneben.“ „Und?“ „Nichts ‚und‘. Die hat absolut rein gar nichts dazu gesagt. Und so was nennt sich Vorgesetzte. Ich hätte denen am liebsten gar kein Zimmer, geschweige denn ein Bett gegeben, schließlich muss ich mich nicht beleidigen lassen. Haben Vorgesetzte nicht eigentlich auch so etwas wie eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Angestellten?“ Leo schüttelte nur noch verständnislos den Kopf. Mary und Paul konnten auch immer noch nicht glauben, was sie am Vortag erlebt hatten. So viel zu dem Lösungsvorschlag ihrer Eltern, sie müsse nur einen respektablen Beruf erlernen und studieren, dann würde sie von der Gesellschaft auch anerkannt. Genau deshalb hatte sie eine Hotelfachlehre in einem kleinen Hotel gemacht und anschließend Tourismusmanagement studiert. Ihr Studium hatte sie sich dadurch finanziert, dass sie Teilzeit in einer Hotelkette gearbeitet hatte. Vor einigen Monaten war sie fertig geworden und man hatte ihr eine Stelle in einem großen Vier-Sterne-Haus angeboten mit der Option, irgendwann zur Rezeptionsleitung aufzusteigen, wenn sie sich gut machte.

„Weist du, als ich hier angefangen habe, habe ich gedacht, dass es Spaß machen würde. Vier Sterne. Superior. Ich dachte, das bedeutet Luxus, Menschen mit einer gewissen Klasse, kultiviert und gebildet.“ Leo schaute sie interessiert an: „Und?“ „Und? Du bekommst es doch mit. Ich habe ungelogen noch nie so viele rassistische Kommentare zu hören bekommen wie hier.“ „War das denn in den anderen Hotels anders?“ Sie überlegte. „Ja, irgendwie schon. Zumindest haben mich die Gäste da normal behandelt. Das waren Menschen, wie du und ich, aus der Mitte der Gesellschaft, die sich gelegentlich mal eine Übernachtung im Hotel leisten. Oder Geschäftsreisende, die für kleines Geld übernachten und ihre Ruhe haben wollen. Klar waren die auch anstrengend, zum Beispiel wenn die nicht verstanden haben, dass man bei Low Budget eben keine Minibar auf dem Zimmer hat und nicht den Komfort eines Sterne-Hotels erwarten kann. Aber zumindest haben die mir da nicht das Gefühl gegeben, ich hätte dort nichts verloren, nur weil ich schwarz bin.“

Sie ließ ihren Blick durch die Lobby schweifen und lachte. „Weißt du, was mir neulich passiert ist?“ „Nee, was denn?“ „Während die meisten meinen, eine Afrikanerin hätte hier keinen Platz, hat mich doch glatt einer für zu deutsch befunden.“ Leo sah sie mit fragenden Augen an. „Wieso?“ „Na ja, da war doch diese Messe.“ „Oh, Gott, erinnere mich bloß nicht daran. Die waren doch alle Mister und Miss Oberwichtig und du konntest denen nichts recht machen. Die eine hat mir doch glatt erklärt, ihr Zimmer sei angeblich nicht richtig sauber, aber da könne ich ja nichts für, denn da, wo ich herkäme, gäbe es halt andere Standards.“ „Ach, trifft es dich armen Kosovaren gelegentlich auch mal? Das ist ja sehr beruhigend. Und? Was hast du ihr gesagt?“ „Ich habe so getan, als würde ich nur gebrochen Deutsch sprechen und hab’ mir von ihr zeigen lassen, wie ich das hätte besser machen können.“ Er grinste böse. „Ich will es ja schließlich lernen.“ Mary brach in schallendes Gelächter aus. „Du hast der nicht ernsthaft einen Putzlappen in die Hand gedrückt und die selber putzen lassen?!“ Leo kicherte. „Doch klar. Und ich habe auch immer eifrig genickt, wenn sie mir was erklärt hat. Ich bin ja schließlich ein fleißiger und wissbegieriger Schüler. Immer schon gewesen.“ Mary hatte bei der Vorstellung Tränen in den Augen. „Du bist echt unmöglich.“ „Also, was war jetzt? Wieso bist du auf einmal zu deutsch?“ „Ach so, ja, also da stand zu später Stunde einer vor mir, der nicht reserviert hatte und noch ein Zimmer wollte. Der hatte Glück, wir hatten tatsächlich noch was frei, weil am Nachmittag ein Gast storniert hatte. Aber du kennst ja unsere Messepreise. Da stand der Vogel da und wollte wissen, ob ich was am Preis machen könnte.“ „Berechtigtes Anliegen bei dem was die Zimmer zur Messezeit kosten. Und? Was hast du ihm gesagt?“ „Dass das nicht geht, weil der Preis vom System vorgegeben wird und ich da leider nichts ändern kann. Daraufhin fing er an, zu handeln. Ich ihm wieder erklärt, dass das nicht geht. Da meinte der glatt zu mir, aber meine Landsleute würden doch so gerne handeln, das müsste ich doch von zuhause gewohnt sein. Darauf hab ich nur noch mit dem Kopf geschüttelt und gesagt, das ginge leider nicht. Entweder der Preis oder kein Zimmer.“ „Und was meinte er dann?“ „Dass das aber eine sehr deutsche Einstellung wäre und was ich denn für eine Afrikanerin sei, dass ich nicht handeln würde? Und überhaupt, ob ich nicht wenigstens ein bisschen Stolz auf meine Herkunft sei?“ Leo grinste. Er konnte sich schon fast denken, was jetzt kam, aber er fragte dennoch: „Und was hast du impulsives Mädchen ihm dann an den Kopf gehauen?“ „Dass ich äußerst stolz darauf sei, eine angolanische Deutsche zu sein und dass man bei uns in Chorweiler nie mit Leuten handelt, mit denen man Geschäfte macht – alles andere wäre nämlich verdammt ungesund...“