Das Wiedersehen

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Als ich in diesem Moment zum blauweißen Himmel aufblickte, sah ich die unschuldigen Augen Gottes, der offenbar gerade in eine andere Richtung schaute. Ich stöhnte.

Also, ich würde nicht hinfahren. Ich würde einfach nicht hinfahren. Wütend schlug ich mit dem Umschlag auf mein Knie. Na schön, wenigstens mit dem Gedanken würde ich mich befassen.

Wollte ich Angela wiedersehen? Nun, ja, wahrscheinlich. Meine Erinnerungen an sie, der Tonfall ihres Briefes, ihre Freundschaft mit Jessica - ja, dachte ich, ich würde Angela wohl gerne wiedersehen, wenn auch am liebsten ohne einen Haufen anderer Leute dabei. Wollte ich herausfinden, was Jessica in jenen letzten Stunden vor ihrem Tod für mich ausgeheckt hatte? Nein.

Ja! Ja! Ja! Ja, ich wollte es wissen! Ja! Ich wollte diese Sache haben, die Jessica Angela für mich gegeben hatte. Es gehörte mir. Ich wollte es haben! Es stand mir zu! Also, ich würde Angela anrufen und entschlossen auftreten. Einfach verlangen, dass sie mir diese Sache übergab, was immer es war, ohne dieses alberne Getue mit dem Wiedersehenstreffen.

Ich blätterte den Brief durch, las noch einmal den letzten Abschnitt und überlegte, wie wenig ich über Angela und wie viel ich über Jessica wusste. Dann schüttelte ich den Kopf. Nein, nicht ich allein gegen diese beiden. Das würde nicht funktionieren.

Konnte ich überhaupt hinfahren, falls ich wollte? Ja, es ging schon. Was Angela offensichtlich nicht wusste, war, dass ich gleich nach Jessicas Tod alle meine Vortragstermine für den Rest des Jahres abgesagt hatte. Die Einladungen für das nächste Jahr stapelten sich zu Hause auf dem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer, das ich nur selten betrat. Sollten sie sich stapeln, solange sie wollten. Dieses Leben hatte ich jetzt hinter mir. Irgendwann würde ich mir irgendeinen Job suchen müssen, sicher, aber im Moment hatte ich keine finanziellen Probleme. Wie die Ironie es wollte, hatte gerade Jessicas Verlust dafür gesorgt. Nein, Tatsache war, dass ich vermutlich mehr Zeit hatte als jeder andere, der zu einem solchen Wochenende kommen mochte. Keine Kinder. Würde auch nie welche haben. Keine Frau. Nie wieder. Frei.

„Scheiße!“

Trauer und Zorn schüttelten meinen Körper wie ein Krampf und höhlten meinen Magen aus. Zum Kuckuck mit allen! Ich würde nirgendwohin fahren. Sollte Angela das verdammte Ding doch behalten, was immer es war! Sollten sie doch ihr Wiedersehenstreffen machen und sich besaufen und sich alle gegenseitig vollkotzen! Viel Spaß dabei. Ich stierte über den See hinweg. Ich hatte mich geirrt. Ein kleines Aufblitzen von Rot und ich wäre wieder gerannt wie ein Berserker. Oh, Jessica!

Ich stand auf, stopfte den Brief in meine Tasche, kehrte dem See den Rücken, überquerte die Brücke und stapfte den Hang hinauf zum Haus. Mein Fahrrad hatte ich an den Drahtzaun eines mit Löwenzahn überwucherten, unebenen alten Tenniscourts gelehnt, noch so eine eigentlich vorzügliche Einrichtung, die durch Vernachlässigung zu Grunde gerichtet worden war.

„Allmählich fange ich an, diesen Ort zu hassen!“, murmelte ich vor mich hin.

Ich schwang mein Bein über den Sattel, stieß mich mit dem Fuß ab und rollte über den Parkplatz. Als ich die Auffahrt erreichte, die das Haus und das Gelände mit der Hauptstraße verband, beschleunigte ich, so schnell ich konnte. Ich stellte mich auf die Pedalen und stemmte mich mit aller Kraft hinein. Die Muskelanstrengung, die nötig war, um Tempo und Schwung zu gewinnen, war mit einem exquisiten, unvermeidlichen Genuss verbunden. Da die Strecke leicht abschüssig war, war ich schon nach einer halben Minute so schnell, dass das Fahrrad auseinander zu fliegen drohte. Mit gesenktem Kopf jagte ich den kurvenreichen Weg entlang, ohne auf irgendetwas zu achten außer der Luft, die mir um Kopf und Schultern strömte, und das Zischen der dünnen Rennreifen, die unablässig auf dem schwarzen Asphalt rotierten.

Mit meiner Geschwindigkeit hätte ich leicht in einer der engen Kurven mit etwas zusammenstoßen können. Mit einem Fußgänger vielleicht. Mit einem Auto. Oder mit einem anderen Radfahrer. „Vielleicht“, dachte ich mit einem schwindeligen Gefühl im Kopf, „rolle ich einfach weiter, wenn ich auf die Hauptstraße komme.“ Wenn ich einfach die Augen zumachte und in den fließenden Verkehr hineinradelte, dann war das vermutlich das Ende. Problem gelöst. Warum nicht? Als ich mich dem Tor der Einfahrt näherte, hatte ich immer noch volles Tempo. Direkt vor mir rollte der Verkehr mit hoher Geschwindigkeit in beiden Richtungen. So war es immer in diesem Abschnitt der Straße. Alles, was ich tun musste, war, die Augen zu schließen und weiter in die Pedalen zu treten.

Zentimeter vom Straßenrand entfernt kam ich mit längsseits über das Pflaster radierenden Reifen zum Stehen, und ich brauchte eine Weile, um meinen Atem und meinen Mut zurückzugewinnen, bevor ich mich in gemessenerem Tempo und vernünftigerem Geisteszustand auf den Heimweg machen konnte.

Nun ja, sagte ich mir, als ich den kleinen Verkehrskreisel am Ende meiner Straße erreichte, zumindest hatte ich an diesem Vormittag eine feste Entscheidung getroffen. Angela konnte behalten, was immer es war, was sie hatte. Kein Wiedersehenstreffen für mich.

Zu Hause machte ich mir eine Tasse Tee, ging damit an den Schreibtisch in meinem vernachlässigten Arbeitszimmer und schaltete die Schreibtischlampe ein. Ich nahm einen Stift aus dem Becher zu meiner Rechten, ein Blatt Papier von dem Stapel zu meiner Linken, und setzte mich hin, um Angela zu schreiben, ihr für ihren Brief zu danken und ihre Einladung zu einem Wiedersehenstreffen der Jugendgruppe von St. Mark's in Headly Manor an jedem ihr genehmen Wochenende anzunehmen.

Zweiter Teil Freitag

Sie nannte ein Wochenende im Spätherbst, und ich fuhr hin.

Selbst in glücklicheren Zeiten wäre die Fahrt hinunter ins West Country an jenem Freitag im November kein großer Spaß gewesen. Ein heftiger Wind und der prasselnde Regen machten das Fahren auf den Autobahnen unangenehm und gefährlich. Undurchdringliche Spritzwasserwolken, die von den vorausfahrenden Autos aufgewirbelt wurden, sorgten beständig für eine beängstigend schlechte Sicht. Vermutlich bereitete ich den hinter mir Fahrenden dasselbe Problem, aber ich war nicht in der Stimmung für solch sinnlose Übungen wie das Teilen von Verantwortung und Schuld. Lieber Himmel, es war ja nicht so, als hätte ich ein großes Verlangen danach, an meinen Zielort zu gelangen. In meinem gegenwärtigen Zustand gab es nichts, was mir eine Zusammenkunft, wie Angela sie plante, bringen konnte, und kaum eine Aussicht, dass mir das bevorstehende Wochenende irgendetwas von Wert zu bieten haben würde, außer - was?

Während der Fahrt warf ich noch einmal einen raschen Blick auf das Blatt Papier, das neben mir auf dem Beifahrersitz lag. Diese Namensliste war vor ein paar Wochen mit der Post gekommen. Sie enthielt die Namen der fünf Leute, die Angela außer mir noch hatte überreden können, an ihrem Wiedersehenstreffen teilzunehmen, und seither hatte ich meine Erinnerungen nach ihnen durchstöbert.

An Angela erinnerte ich mich natürlich und Mike Ford war ein weiterer Name auf der Liste, zu dem mir sofort einiges einfiel. Er war auf dieselbe Schule gegangen wie ich, allerdings eine Klasse über mir. Mike war laut und streitlustig gewesen und manchmal auch sehr witzig. Ein Unruhestifter. Vor meinem geistigen Auge sah ich ein eckiges Gesicht mit kräftigen Zügen, umrahmt von langen, dichten schwarzen Haaren.

Andrew Glazier. Schmales Gesicht, ernst, irgendwie angespannt? Ja, ich erinnerte mich dunkel.

Dies waren Geister von Erinnerungen.

Peter Grange. An ihn erinnerte ich mich. Er war einer von denen, mit denen sich die Gruppenleiter regelmäßig in die Haare kriegten. Peter schien immer ganz genau zu wissen, woran er glaubte. Auf jede Frage hatte er eine Antwort. Groß und dünn, mit tief liegenden Augen und einer großen Nase. Ja, an ihn erinnerte ich mich gut.

Jenny Thomas. An sie hatte ich allenfalls den Hauch einer Erinnerung. Immer beschäftigt, immer am Aushelfen, aber das könnte auch jemand anderes gewesen sein.

Graham Wilson. Absurderweise waren die einzigen Bilder, die mir zu diesem Namen einfielen, Bilder von einem kleinen, ernsthaften, wieselähnlichen Burschen, der im Hintergrund der Gruppe auf und ab hüpfte, um zu sehen, was in der Mitte los war. Ich lachte mich selber aus. Natürlich konnte es nicht wirklich so gewesen sein, aber so stand es mir nach all den Jahren vor Augen.

In ihrem Rundbrief an die Teilnehmer hatte Angela ein paar Ideen geäußert, wie man das Wochenende gestalten könnte. Da wir nicht einmal achtundvierzig Stunden zusammen hatten, schrieb sie, würden wir keine Zeit für langwierige Kennenlern-Phasen haben. Darum war es notwendig, dass alle, die kamen, sich verpflichteten, so offen und verwundbar zu sein, wie es angesichts der ungewöhnlichen Umstände möglich war. Dazu könnten uns verschiedene Dinge eine Hilfe sein. Zu Anfang könnten wir zum Beispiel die anderen kurz auf den neuesten Stand bringen, was wir im Moment machten. Eine weitere Idee war, dass wir irgendwann im Lauf des Wochenendes abwechselnd den anderen in der Gruppe unsere größte gegenwärtige Angst schildern würden. Damit, meinte Angela, könnten sich alle möglichen weiteren Themen aufschließen. Am Sonntagmorgen würden wir eine kurze Kommunionsfeier miteinander halten, füreinander beten und uns eine Ansprache anhören - von mir! Doch das Wichtigste sei, dass wir uns entspannten und unseren Spaß hatten.

Verwundbar? Offen? Größte Angst? Eine Ansprache von mir? Ich seufzte. Worauf hatte ich mich da eingelassen? Wenn ich nur wüsste, was Jessica Angela für mich geschickt hatte. Ich hatte mir endlos das Hirn darüber zermartert, aber mir war nichts eingefallen.

 

Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her, um meine steife Wirbelsäule zu lockern, und konzentrierte mich wieder auf die Straße vor mir.

Als ich die Dorfmitte von Headly erreichte, war es bereits dunkel. Der Regen ließ gerade ein wenig nach. Ich hielt vor dem „Lucky Star“, dem chinesischen Takeaway in der High Street, um Angelas Wegbeschreibung durchzulesen. Bisher war sie hervorragend gewesen, das musste ich ihr lassen. Letzte Etappe.

„In Headly folge der High Street, bis sie nach links schwenkt. Rechts siehst du den, Red Lion‘. Nimm die schmale Straße, die rechts an dem Gasthaus vorbei abzweigt, und fahre den Hang hinauf, bis du ein Schild siehst, das dich nach links in die Auffahrt zu Headly Manor weist. Folge der Auffahrt und parke auf dem Hof oder unter den großen Bäumen. Die Hintertür steht offen.“

Ich fand die Straße und das Gasthaus und das Schild und die Bäume. Sie waren tatsächlich sehr groß. Darunter waren auch ein paar mächtige Eichen, die sich an einem Hang über die dunkle Masse des Hauses erhoben. Sie mussten Hunderte von Jahren alt sein. Als ich von der Auffahrt in den Hof auf der Rückseite des Gebäudes einbog, wurde mir klar, dass ich mir bisher nicht einmal annähernd einen Begriff davon gemacht hatte, wie groß und wie alt Angelas Haus war. Schon im Strahl meiner Scheinwerfer und im schwachen Licht der beiden Kutscherlampen, die neben der Hintertür an der Wand hingen, gewann ich einen vagen Eindruck von einem jener Häuser, die im Lauf der Jahrhunderte immer größer werden, sich ausstülpen und Tentakeln in alle möglichen Richtungen ausstrecken, je nach den Launen und finanziellen Möglichkeiten ihrer Besitzergenerationen. Ein regelrechtes Gewächs. Ich stellte meinen Wagen neben einem zerbeulten alten Peugeot ab, der am unteren Ende des Hofes stand, überquerte das Kopfsteinpflaster, hielt ein paar Sekunden inne, um mein Herz wieder aus den Stiefeln hochzuholen, und schob die Tür auf.

Angela war schön, so schön, wie ich sie in Erinnerung hatte. Das blonde Haar war inzwischen mit einer dunkleren Farbe durchzogen, und ich vermutete, dass sie mehr Make-up trug als in den alten Zeiten, aber das Lächeln - das Lächeln war immer noch jener Zaubertrick, mit dem sie ein helles Licht aufleuchten ließ und uns Jungs als Teenager so in Bann schlug. Als sie am Hintereingang der langen, schmalen Küche auf mich zukam, um mich zu begrüßen, trug sie graue, weite Hosen im Stil der Zwanziger und eine kurze rote Jacke mit Schulterpolstern über einem dünnen grauen T-Shirt.Sie sah entzückend aus.

Mein Plan war es gewesen, sie gleich als Erstes nach Jessicas mysteriöser Hinterlassenschaft zu fragen. Doch jetzt wusste ich, dass ich kein Wort darüber verlieren würde, bevor Angela darauf zu sprechen kam.

Sie legte ihre Hände auf meine Schultern und hauchte mir einen Kuss auf die Wange.

„Schön dich wiederzusehen, David. Komm herein und begrüße die anderen. Sie sind alle schon da.“

Und das waren sie tatsächlich. Am anderen Ende der riesigen Küche war eine Art Wohnzimmerbereich eingerichtet, und hier saßen meine Mitgäste ein wenig steif mit ihren Getränken und warteten wohl darauf, dass jemand den Prozess in Gang setzte, offen und verwundbar zu werden. Ich ließ meinen Blick über die mir nervös entgegengewandten Gesichter wandern und suchte nach Erkennungszeichen.

Ja, der ernst dreinblickende Bursche im Sportjackett, der mit dem schmalen Gesicht und dem dünnen Bart, das musste Andrew sein.

Und die Hakennase und der kantige Körper von Peter Grange waren nicht zu verkennen. Mit seinen tief liegenden Augen und dem streng geschnittenen, in der Mitte gescheitelten Schildkrötenpanzer aus dunklen Haaren hatte Peter eine auffallende Ähnlichkeit mit den Porträts und Fotos des tragischen viktorianischen Künstlers Aubrey Beardsley.

Der kleine, wühlmausähnliche Mann mit den grauen, scharf gebügelten Hosen musste Graham sein. Aber wer war diese angespannt dreinblickende Frau, die mich so starr fixiert hatte, als ich hereinkam? Sie hatte sich abgewandt, sobald sie das Gefühl hatte, dass ich in ihre Richtung schaute. Nun, das musste natürlich Jenny Thomas sein, nicht wahr? Sie war die einzige andere Frau auf der Liste. Sie trug einen toffeefarbenen Faltenrock und eine Strickjacke in einem helleren Braun. Ihr Haar war gerade und schmucklos geschnitten, in einem Stil, der nicht dazu beitrug, ihre auffälligen braunen Augen zur Geltung zu bringen.

Seltsamerweise erkannte ich Mike zuerst nicht. Sein Haar war oben so ziemlich verschwunden, und alles, was hinten noch geblieben war, war eine kleine Haarsträhne, die er zu einer Art altmodischem Seemannszopf geflochten hatte. Das viereckige, spöttische Gesicht war noch schulranzenähnlicher, als ich es in Erinnerung hatte, und wiederholte Exzesse hatten ihre Spuren in jenen tiefen Linien hinterlassen. Mike schien sich ziemlich zu freuen, mich zu sehen.

Überhaupt war nun herzliches Wiedererkennen an der Tagesordnung. Die meisten von uns taten so, als wären wir enge Freunde, die nur durch grausame Umstände daran gehindert gewesen waren, sich zu sehen. Angela war sehr gut, was den Entspannungsprozess anging, aber auch sie hatte in diesem Stadium zu kämpfen. Sie füllte allen die Gläser neu, wobei sie Peter offenbar Wasser gab, und schlug vor, dass jeder von uns zunächst einmal ganz kurz etwas zu sich selbst und darüber sagte, warum wir gekommen waren. Sie hockte sich neben Mike auf die Sessellehne und machte selbst den Anfang.

„Wie ihr alle wisst, bin ich Angela, und wie es mir ergangen ist, wisst ihr auch, weil ich es euch ja geschrieben habe. Ich wohne jetzt allein hier und versuche, mit bezahlter Hilfe das Geschäft in Gang zu halten. Für mich ist dieses Wochenende ein kleiner Urlaub vom Alleinsein, und ich freue mich wirklich sehr, dass ihr alle hier seid.“

Graham erzählte uns mit seiner leisen Stimme, er sei glücklich verheiratet und habe zwei kleine Töchter. Seine Arbeit hatte etwas mit dem Verkauf von Tierfutter zu tun, und er war zu dem Wochenende gekommen, weil seine Frau meinte, er müsse mal aus allem heraus, und er sei ganz ihrer Meinung.

Mike verkündete mit seiner ungleich lauteren Stimme, er sei zweimal verheiratet gewesen und zweimal geschieden. Seine Arbeit bestehe in „diesem und jenem“, hauptsächlich im Autohandel. Er sei gekommen, um alle wiederzusehen, besonders Angela. Außerdem, fügte er scherzhaft hinzu, habe er darauf spekuliert, dass es hier Fusel umsonst gibt.

Zum Kaputtlachen.

Andrews Beitrag kam kurz und ohne ein Lächeln.

„Ich bin verheiratet und habe einen Sohn. Ich leite ein Golfhotel in der Nähe des Parcours in St. Andrews in Schottland, und ich hoffe, dass dieses Wochenende sich als nützlich erweisen wird.“

Jenny war Single, wohnte in Northampton und arbeitete für eine internationale Hilfsorganisation in Milton Keynes. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit alten Freunden und war ein bisschen nervös wegen unserer gruseligen Umgebung.

„Ich verkaufe Hüte und Koffer und Schirme in Harrogate“, sagte Aubrey Beardsley, „und ich bin in der Hoffnung hergekommen, dass Gott mir eine Gelegenheit gibt, etwas zu tun, was mir sehr wichtig ist.“

Mich erinnerte das Ganze an die Kandidatenvorstellung in irgend so einer furchtbaren Fernseh-Quizshow. Im Laufe dieser ziemlich farblosen Auflistung hatte es eine Menge nervösen Gelächters bei jeder Bemerkung gegeben, die man auch nur im Entferntesten als amüsant auslegen konnte, eine altbekannte Erscheinung auf den meisten Wochenendfreizeiten. Jetzt war ich an der Reihe. Nicht amüsant für die anderen. Zermürbend für mich.

„Ich bin David. Ich war - ich war mit Jessica verheiratet, Jessica Foreman, als ihr sie kanntet. Sie ist Anfang des Jahres gestorben. Ich bin gekommen, weil … “ Ich sah Angela an. „Na ja, wahrscheinlich aus demselben Grund wie Andrew. Ich hoffe, es ist eine gute Idee. So in etwa.“

Das ließ die Stimmung für eine Weile nicht nur abkühlen. Es ließ sie nahezu gefrieren.

Wenn je ein Haus für Geister wie geschaffen war, dann war es Headly Manor.

Angela lud die Interessierten unter uns vor dem Essen zu einer kleinen Hausführung ein. Sie begann in dem riesigen, niedrigen Keller. Im Licht zweier nackter Glühbirnen an der Decke und einer Taschenlampe, die sie eigens aus der Küche mitgebracht hatte, zeigte sie uns die Überreste des römischen Bauwerks, das ursprünglich an dieser Stelle erbaut worden war. Darüber, so erfuhren wir, war ein angelsächsisches Schloss errichtet worden, das wiederum im späten elften Jahrhundert einem normannischen Haus für einen von Williams wichtigen Lords weichen musste. Bis zum siebzehnten Jahrhundert war dieses normannische Gebäude weitgehend zerstört und überbaut worden, und ein Großteil des heute bestehenden Hauses stammte aus dieser Zeit. Überall um uns her sahen wir deutliche Spuren all dieser Entwicklungsstadien.

„Es ist alles eine Frage des Geldes“, sagte Angela, als wir die tief ausgetretenen Steinstufen aus dem Keller empor stiegen. „Wenn ich mehr finanzielle Mittel hätte, könnte ich die Wohnbereiche viel bewohnbarer gestalten und ich würde die wirklich alten, interessanten Teile in einen Zustand bringen, dass die Leute kommen und sie richtig sehen können.“ Sie zuckte die Achseln. „Aber da ich nichts habe, ist alles noch ziemlich chaotisch.“

Das Haus mochte ein bisschen chaotisch sein, die Holzbalken reparaturbedürftig, die Fußböden uneben und ächzend, aber es war trotzdem ziemlich beeindruckend. Angela zeigte uns die großartigen Räume im Erdgeschoss, den Versammlungssaal, den Speiseraum und die Bibliothek mit ihrer geheimen Kapelle, die während der Katholikenverfolgung benutzt worden war, sowie einen faszinierenden Kaminvorbau, den man aufschwingen konnte, sodass Stufen zum Vorschein kamen, die im Kamin zum Raum darüber führten. Im Obergeschoss gab es zehn Bettkammern, darunter zwei mit dunklem Holz vertäfelte Räume, von denen einer ein Bett mit vier Pfosten enthielt. Unter der Decke führte eine Luke, deren Tür bedrohlich offen hing, zu einem Priesterloch, einem jener geheimen Räume in alten englischen Häusern, in denen man bei Hausdurchsuchungen in der elisabethanischen Zeit katholische Priester versteckte. Dieses Zimmer, ein Schauplatz wie geschaffen für die meisten traditionellen Gruselgeschichten, die ich je gelesen habe, würde für dieses Wochenende meine Unterkunft sein, verkündete Angela leichthin.

„Du wirst dich bestimmt wohl fühlen da drinnen, nicht wahr, David?“, erkundigte sie sich mit Unschuldsmiene.

„Ganz bestimmt“, erwiderte ich trocken, „solange deine zahlenden Gäste nicht morgen in aller Frühe hier hereinspaziert kommen und mir dabei zuschauen, wie ich zu Bewusstsein komme. Sonst halten sie mich noch für eine deiner Attraktionen. Ich glaube, da wären mir richtige Geister lieber.“

„Oh nein, dieses Wochenende kommen keine Besucher“, versicherte mir Angela. „Du weißt doch, ich habe auch frei. Für die Geister kann ich natürlich nicht sprechen.“

Das Haus war wunderbar. Als wir die schmale Hintertreppe zur Küche hinabstiegen, musste ich daran denken, was für einen Spaß Jessica daran gehabt hätte, diesen Ort zu sehen und zu erkunden. Für uns beide gemeinsam wäre dieses Wochenende ein richtiges Abenteuer gewesen. Stattdessen würde ich es damit verbringen, alberne Spielchen mit Leuten zu spielen, die ich kaum kannte.

Wir setzten uns gemeinsam an den Küchentisch, um eine sehr höfliche Abendmahlzeit miteinander zu halten. Ich fühlte mich innerlich kalt und entfremdet. Die spärliche, rücksichtsvolle Konversation und das Klimpern und Klappern des Bestecks auf dem Porzellan trieben mich bis an den Rand des Wahnsinns. Saß ich wirklich bis zum Sonntag hier in der Falle? Was würden dieser Abend und der morgige Tag und der Morgen danach noch alles bringen? Falls nicht irgendetwas ganz Radikales passierte, konnte dieses Wochenende leicht zu einem der jämmerlichsten meines Lebens werden. Nicht das Allerjämmerlichste, versteht sich. Oh, Jessica!

„Ich kann nichts dagegen machen.“ Mikes Kopf sank immer tiefer, während er sprach. Sein Körper wiegte sich hin und her wie der eines Kindes, das genau weiß, dass nie wieder etwas Gutes in seinem Leben passieren wird, bis es ihm gelungen ist, sich zu übergeben. „Tut mir Leid, wenn ich euch damit die Party verderbe. Aber wir haben ja gesagt, wir würden versuchen, die Wahrheit zu sagen, und das tue ich jetzt. Ich kann nichts dagegen machen, dass ich so empfinde. Man kann sich selber nicht einfach abschalten, wisst ihr.“

„Und was genau ist das denn, was du empfindest?“

Peter beugte sich selbstbewusst und zielstrebig auf seinem Sessel vor, um diese Frage zu stellen. Ich war neugierig, ob sich wohl seine Art, mit Leuten umzugehen, sehr verändert hatte. Wahrscheinlich nicht. Die meisten Leute verändern sich nicht sehr, nicht einmal in zwei Jahrzehnten. Nein, sein aufgeräumter Kopf steckte wohl immer noch voller Patentlösungen, allesamt säuberlich gelagert und sortiert wie Werkzeuge, die in den Garagen oder Bastelkellern von Ordnungsfanatikern an eigens beschrifteten Haken hängen. Göttliche Schraubenschlüssel. Geistliches Schmieröl. Spezielle Geräte, um ins Innere der Dinge vorzudringen, sodass man den Fehler lokalisieren und reparieren kann. Als ich mich zurücklehnte, fiel mir auf, dass seit Peters letztem Haarschnitt die Haarlinie im Nacken nicht ganz genau parallel zu seinem Kragen verlief. Die eine Seite hatte die Frechheit oder den revolutionären Eifer, ein bisschen schneller zu wachsen als die andere. Ich ertappte mich bei einem unbestimmten Gefühl der Befriedigung, worüber sich sogleich ein Schuldgefühl einstellte, mit dem ich mir im nächsten Moment albern vorkam.

 

„Genau ist es gar nichts“, gab Mike gereizt zurück, ohne den Kopf zu heben. „Nichts ist irgendetwas genau, oder? Jedenfalls nicht in meiner Welt. Aber vielleicht lebt ihr ja alle in einer anderen Welt als in der, mit der ich mich jeden Morgen aufs Neue herumschlagen muss?“

„Weißt du, ich glaube, ich ahne, was dein Problem ist, Mike“, sagte Angela gelassen, während sie geschickt eine weitere Flasche von dem ausgezeichneten australischen Shiraz Cabernet entkorkte. „Dein Problem, wenn du die kleine Stichelei erlaubst, ist, dass du dich bis heute nicht von dem Schock darüber erholt hast, dass sich niemand mehr über deine langen Haare beschwert.“

Allgemeines erleichtertes Gelächter. Mike blickte auf und bemühte sich tapfer um eine beleidigte Miene, doch sie verwandelte sich gegen seinen Willen in ein verlegenes Grinsen. Es lag keine Spur von Angriff in dem zutraulichen Lächeln, das Angela ihm zuwarf, während sie die geöffnete Flasche auf dem alten, niedrigen Eichentisch vor dem Kamin abstellte. Ich fragte mich, ob er diesen Seitenhieb von mir wohl auch hingenommen hätte.

„Na schön“, dachte ich, „dies konnte man wohl mit Fug und Recht einen heiteren Moment nennen.“ Vielleicht bestand ja doch eine entfernte Chance, dass das Wochenende halbwegs erträglich werden würde. Wein. Gelächter. Kaminfeuer. Freunde. Freunde? Mmm. Na ja, jedenfalls war dies der erste Moment, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Gemeinschaftserlebnis hatte.

Unsere Mahlzeit hatten wir schon vor einiger Zeit beendet. Wir saßen wieder am Wohnzimmerende der Küche, und die Atmosphäre hatte sich sichtlich entspannt, seit die Leute zu spüren begannen, dass dieses Zusammensein sie nicht umbringen und vielleicht sogar Spaß machen würde. Mike hatte sich freiwillig gemeldet, als Erster seine größte Angst zu offenbaren.

Soweit wir es durchschauten, ging es darum, dass er sich zu einem Leben verurteilt fühlte, in dem er niemals eine herzliche, bedeutsame Begegnung mit Gott erleben würde. Das Problem war, dass er vor und nach dem Essen deutlich mehr getrunken hatte als wir anderen. Dies war der einzige erkennbare Grund für seine offenkundige Entschlossenheit, sich dem Rest der Gruppe gegenüber so zu verhalten, als wären wir alle strikt dagegen, dass er ehrlich über seine Gefühle sprach. Darum war Angelas scherzhafter Einwurf eine solche Erleichterung gewesen. Allerdings war auch etwas Wahres an ihrer Bemerkung.

Keiner von uns hätte je die Kämpfe um Mikes Haare vergessen können. An diesem Abend, als wir in unserem neuen, postmodernen Jahrtausend zusammensaßen, das echte Menschen irgendwie weitaus weniger nötig zu haben schien als das alte, erschien es kaum mehr vorstellbar, dass die Haarlänge eines Jugendlichen damals in den Siebzigern für so viel Furore sorgen konnte. Mike war seinerzeit in manch farbenfrohes Scharmützel und in eine denkwürdige öffentliche Auseinandersetzung mit den Gemeindeältesten und Hauskreisleitern geraten. Sie waren der Ansicht gewesen, es sei eines jungen Christen nicht würdig, sein Haar bis weit unter die Schultern wachsen zu lassen. Mir fiel beim besten Willen nicht mehr ein, worauf sie ihre Einwände eigentlich gründeten. Mikes Gegenargument war es gewesen, das Gott ihn genauso errettet hatte, wie er war, einschließlich seiner Haare von den Wurzeln bis zu den rebellisch weit entfernten, gesplitteten Enden. Kein sehr schlagendes Argument, aber es war seines, und es war alles, was er hatte.

„Wo in der Bibel“, hörte ich ihn noch hitzig und mit erhobenem Zeigefinger auf seine milden, aber hummerscherenbewehrten Kritiker einreden, „steht etwas davon, dass Männer kurze Haare haben müssten? Zeigt mir das und ich ändere mich. Was ihr eigentlich sagt“, fügte er mit aller unerbittlichen Einsicht und Überlegenheit eines Jugendlichen, der schon fast achtzehn Monate Christ war, hinzu, „ist, dass es euch unangenehm ist, jemanden hier zu haben, der nicht so respektabel wirkt, wie es eurem persönlichen Bild davon, wie ein Christ aussehen sollte, entspricht. Aber bei der Nachfolge Jesu geht es nicht um Respektabilität, und deshalb bleiben meine Haare genauso, wie sie sind, da könnt ihr sagen, was ihr wollt! Warum fordert ihr die Mädchen nicht auf, Kopftücher zu tragen, heh? Heh!“

Ausschweifende Verteidigungsreden wie diese hatten, was angesichts des Wesens unserer Gemeinde unvermeidlich war, so manche besorgte Frage nach sich gezogen, ob Mike überhaupt eine echte Bekehrung erlebt habe. Im Zusammenhang mit ihm wurden mit ernster Miene Phrasen wie „Geist des Ungehorsams“ gemunkelt. Eigentlich wäre er der ideale Kandidat für Grafton House gewesen, wenn der Arzt der guten alten Nora damals schon praktiziert hätte.

Da rang er nun mit irgendetwas, was ihn innerlich attackierte, ob es nun real war oder nicht. Zum ersten Mal ging mir auf, wie seltsam und ironisch und furchtbar traurig es war, dass damals vor vielen Jahren niemand auf den nahe liegenden Gedanken gekommen war, dass Mikes lange Haare ein entscheidender Teil der zerbrechlichen Persönlichkeit waren, die er sich im Laufe seiner sechzehn Erdenjahre zusammengestückelt hatte. Seine Haare waren etwas, was er zu Stande gebracht hatte, eine Eigenschaft, die ihn ganz besonders als er selbst auszeichnete. Außerdem wusste ich zufällig, dass er sich insgeheim die Option offen gehalten hatte, Rockstar zu werden, falls das mit dem Christsein nichts wurde oder diese beiden Interessen sich nicht miteinander verbinden ließen, und seine langen Haare waren alles, was er bisher in dieser Richtung unternommen hatte. Was für ein Lärm um nichts. Oder besser gesagt, was für ein Mangel an Lärm um die wichtigen Dinge. Oder …

„Sag mal, Mike“, fuhr Angela fort, die ihre höchst attraktive Gestalt mit dem Glas in der Hand ganz unbefangen in die Lücke zwischen Andrew und Graham auf dem Sofa gezwängt hatte, „habe ich da nicht im Buschfunk gehört, dass du inzwischen immer weitere Reisen unternehmen musst, um eine Gemeinde zu finden, wo wenigstens eine Person Einwände gegen deinen - na, sagen wir, deinen Pferdeschwanz hat?“

„Ich könnte ja ein bisschen an dir rummeckern, wenn das hilft, alter Junge“, warf Graham mit seiner leisen, tapiokaweichen Stimme ein. Gleich darauf legte er die Hand vor den Mund und hustete ein hohles, verlegenes Lachen hinein. Er schien fast ein wenig schockiert darüber zu sein, dass er sich an dem allgemeinen Jux beteiligt hatte.

„Schon gut, schon gut!“ Mike hob in gespielter Ergebung die Hände. „Sehr witzig. Es macht mir nichts aus, dass ihr euch alle über mich lustig macht, aber das ändert gar nichts, oder? Und zu eurer Information: Ich gehe überhaupt nicht mehr in die Kirche. Schon seit Jahren nicht mehr.“

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