Buch lesen: «Magnus Carlsen»
Aage G. Sivertsen
MAGNUS CARLSEN
Das unerwartete Schachgenie
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg und Rainer Vollmar
Titel der Orginalausgabe:
Magnus
Kagge Forlag, Oslo 2015
Copyright © Aage G. Sivertsen
Published in agreement with
Stilton Literary Agency
This translation has been published
with the financial support of NORLA.
Erste Auflage 2017
© der deutschsprachigen Ausgabe
Osburg Verlag Hamburg 2017
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-95510-130-5
eISBN 978-3-95510-138-1
Für Ekaterina
Inhaltsverzeichnis
Boy meets Beast
Magnus als Mozart
Die Erziehung von Genies
Eine kompromisslose Methode
Magnus’ familiärer Hintergrund
Die Schwestern Gara
Die Welt entdeckt den Mozart des Schachs
Zum ersten Mal Vollprofi
Der Sieger Simen Agdestein
Ist Spielstärke altersabhängig?
Malysj
Der Weltbeste
Ratingverluste
Nein zu Kasparow
Mit den Figuren sprechen
In seiner eigenen Welt
Schüler verliert gegen Lehrer
Nummer 10 von hundertachtundzwanzig Großmeistern
Lehrer verliert gegen Schüler
Begegnung mit der Weltelite
Der Nervenkrieg gegen Aronjan
Halsbrecherisches Turniertempo
Heimliche Zusammenarbeit mit Kasparow
Geldsorgen
Glück ist kein Zufall
Kasparow wird entlassen
Der Bruch mit Simen Agdestein
Heimliche Helfer
An der Spitze der Rangliste
Verlegenheit und Berühmtheit
Magnus zieht zurück
Nichts Vergleichbares auf der Welt
Nervenkrieg in London
Kramniks Finte
Besorgte Mutter
Vor der dreizehnten Runde: Psychokrieg
Die dreizehnte Runde: Blut aus einem Stein pressen
Vor der vierzehnten Runde: Crescendo
Eine Stippvisite in der Hölle
Weltmeister in Chennai
Donald Duck und Kartenspiel
Alles oder nichts
Die neunte Partie
Dreifacher Weltmeister
Der Tiger aus Chennai
Das Drama von Sotschi
Das Nervenspiel
Die zweite Partie: Anand überspielt
Die dritte Partie: Der Schock
Die vierte Partie: Magnus stocksauer
Die fünfte Partie: Kontrolle
Die sechste Partie: Ein Geschenk für Anand
Die siebte Partie: Die wissenschaftliche Herangehensweise
Die achte Partie: Magnus schläft
Die neunte Partie: Die Ruhe vor dem Sturm
Die zehnte Partie: Die vorletzte Chance
Die elfte Partie: »All-In«
Magnus Carlsen im Licht von Fischer und Kasparow
»Zwanzig Prozent Schach, achtzig Prozent Psychologie«
Nachwort
Anmerkungen
Anhang:
Schachbegriffe
Literaturverzeichnis
Artikel und Filme
Bildnachweis
Boy meets Beast
Reykjavik, 12. März 2004
Nach dem normalen Open fand in Island noch ein Blitzturnier statt. Dabei kam es zu einer kleinen Schachsensation. Denn Magnus Carlsen schlug den ehemaligen Weltmeister Anatoli Karpow.
Direkt nach der Partie wandte Magnus sich der Tribüne zu, auf der seine gesamte Familie saß. Der dreizehnjährige Junge lächelte und reckte den Daumen nach oben. Seine ältere Schwester Ellen erwiderte die Geste.
Karpow spielte zu dieser Zeit noch immer auf sehr hohem Niveau, und die norwegischen Medien überschlugen sich vor Begeisterung. Insgesamt vielleicht ein wenig übertrieben, aber den norwegischen Journalisten wurde allmählich bewusst, dass sich etwas Großes anbahnte. Allerdings ging es um die Randsportart Schach, nicht um Langlauf oder Fußball. Daher nahm man es nicht richtig ernst – noch nicht.
Am darauffolgenden Tag sollte Magnus gegen Garri Kasparow zum Schnellschach antreten. Kasparow hatte bei dem Blitzturnier den 2. Platz belegt, Magnus war Vorletzter geworden. Aufgrund dieser Ausgangssituation mussten die beiden beim anschließenden Schnellschachturnier gegeneinander antreten. Es war das erste Mal, dass Magnus Carlsen der Schachlegende begegnete.
Karpow war 2004 noch immer stark, aber Kasparow galt weiterhin als bester Spieler aller Zeiten. Er stand auf dem 1. Platz der Weltrangliste. »Boy meets Beast« titelte das Internetmagazin Chess-Base. Der Vergleich David gegen Goliath lag allerdings näher. Der gestandene, ernste, gut gekleidete Kasparow gegen einen Jungen, der mit den Beinen kaum den Boden berührte, wenn er sich an den Tisch setzte.
Magnus Carlsen belegte zu diesem Zeitpunkt Platz 786 der Weltrangliste. Kasparow hatte ein Rating von 2831, während Magnus gerade einmal bei 2484 stand. Die Partie war aussichtslos. Beim Fußball könnte man sie mit dem Spiel einer hervorragenden Erstligamannschaft gegen eine Jugendauswahl vergleichen. Normalerweise würde die Erstligamannschaft zweistellig gewinnen. Ein paarmal vielleicht nur mit sechs oder sieben Toren Unterschied, aber dass sie unentschieden spielen oder gar verlieren würde – undenkbar. Aber Schach ist kein Fußball. Der psychologische Faktor ist weitaus wichtiger und kann dazu führen, dass der Beste sogar gegen einen klar schwächeren Gegner verliert. Dennoch war der Unterschied in der Spielstärke so groß, dass es nahezu utopisch war, auf eine Sensation zu hoffen.
Am Vorabend entschied Magnus, sich mit der Lektüre von Micky-Maus-Heften auf die Partie vorzubereiten. Nach dem langen Open war er noch ein wenig erschöpft, und es gab keinen Grund, sich unnötig unter Druck zu setzen.
Das Schnellschachturnier, bei dem die Spieler eine Bedenkzeit von fünfundzwanzig Minuten für die gesamte Partie zur Verfügung hatten, sollte um 18 Uhr beginnen. Doch ein Spieler tauchte nicht auf: Kasparow. Normalerweise wird die Uhr in Gang gesetzt, und wenn der Gegner nicht rechtzeitig erscheint, hat er die Partie verloren. Der Veranstalter entschied jedoch, Kasparows Uhr nicht anzustellen, denn dem russischen Schachgenie war versehentlich nicht mitgeteilt worden, dass das Turnier an diesem Tag eine Stunde früher begann. Während Magnus gespannt auf den weltbesten Schachspieler wartete, schlenderte er umher und verfolgte die anderen Partien. Nach zwanzig Minuten erschien die Schachlegende. In einem tadellosen blauen Anzug, hellblauen Hemd und mit passender Krawatte. Selbstsicher, eine Hand in der Jackentasche, ging er direkt zum Tisch, an dem Magnus bereits saß. Er erklärte ihm, dass nicht er, sondern der Veranstalter für sein Zuspätkommen verantwortlich sei.
Kurz zuvor hatte Carlsen sich ein Glas Cola geholt. Normalerweise trinkt er Orangensaft, eine volle Flasche stand auch auf dem Tisch, aber er hatte Lust auf eine Cola. Kasparow zog sein Jackett aus und nahm die Armbanduhr ab, legte sie links neben das Brett. Er hatte weder Saft noch ein anderes Getränk mitgebracht. Das Publikum sah einen ehemaligen Weltmeister, der ungewöhnlich nervös zu sein schien. Magnus führte seinen ersten Zug aus, Bauer nach d4. Kasparow berührte sämtliche Figuren, rückte sie exakt so zurecht, wie er sie haben wollte, und verhüllte mit den Händen sein Gesicht, ehe er Bauer nach d5 erwiderte und die Uhr drückte.
Die Nummer 1 der Weltrangliste beging in der Eröffnung einen Fehler und erhielt als Quittung schon früh die schlechtere Stellung. Wenig später stand Magnus sogar klar besser, laut Kasparow – wie er später bekannte – sogar auf Gewinn. Während der Partie schüttelte Kasparow mehrfach den Kopf, das Publikum verfolgte aufmerksam das Geschehen. Magnus sah Kasparow an und wandte seinen Blick nicht mehr von ihm ab. Ein Zeichen, dass er mit seiner Stellung zufrieden war.
Kasparow erklärte ein Jahr später, er habe angefangen, an die sensationsheischenden Überschriften zu denken, als seine Stellung zusehends schlechter wurde. Nie zuvor war er auf einen Gegner mit einem so großen Altersunterschied getroffen, allerdings hatte er als Jugendlicher selbst mehrfach Erwachsene bezwungen, die nominell klar besser waren als er.
Kasparow saß ein wenig zusammengekrümmt am Tisch, und die Art und Weise, wie er die Lippen bewegte, zeigte, wie sehr ihm seine Stellung missfiel. Mehrfach verbarg er das Gesicht in den Händen, ganz offensichtlich konnte er nicht fassen, was sich auf dem Brett gerade abspielte. Während die Schachlegende nachdachte, entfernte sich Magnus einige Meter vom Tisch, um sich die anderen Partien anzusehen. Dies war womöglich ein psychologisches Mätzchen, in jedem Fall jedoch ein Zeichen geradezu grenzenloser Arroganz. Beim Schnellschach ist es sehr ungewöhnlich, dass ein Spieler während der Partie herumschlendert. Zumindest, wenn man gegen den Weltbesten spielt. Bei normalen Partien, die sich über mehrere Stunden hinziehen, geschieht es häufig, dass einer der Spieler den Tisch verlässt. Hin und wieder, um dem Gegner demonstrativ zu zeigen, wie sehr einem die eigene Stellung gefällt. Steht man beim Schach schlecht, kann es unglaublich irritierend sein, wenn der Gegner gähnt, aufsteht oder so tut, als hätte er die Partie bereits gewonnen. Als Magnus sich erhob und den Tisch verließ, hob Kasparow den Kopf und starrte ihn an. Vielleicht wollte er ihn psychisch beeinflussen, vielleicht überlegte er aber auch nur, ob Magnus begriffen hatte, wie schlecht Kasparows Stellung tatsächlich war. Und als Carlsen sich in dieser Sekunde entschied, den eiskalten Blick nicht zu erwidern, indem er den Tisch verließ, war das Antwort genug.
Nachdem Magnus aufgestanden war, führte Kasparow sehr schnell seinen nächsten Zug aus. Der Exweltmeister ertrug es nicht, ignoriert zu werden. Sobald Kasparow die Uhr gedrückt hatte, kam Magnus zurück und machte blitzschnell seinen nächsten Zug. In dem sicheren Glauben, die Partie gewinnen zu können, faltete er die Hände. Der Rest der Familie Carlsen saß einige Meter entfernt. Henrik Carlsen erklärte der zweitältesten Tochter Ingrid, dass Magnus Vorteil hätte. »Wenn Papa sagt, dass Magnus gut steht, gewinnt er normalerweise auch, und dann freue ich mich«, so Ingrid. Kasparow sah aus, als hätte ihn der Blitz getroffen, doch er kämpfte und schaffte es, seine Position schrittweise zu verbessern. Magnus wurde ein wenig nervös und fand nicht immer die beste Fortsetzung. Die Partie endete mit einem Remis. Der Meister war mit dem Schrecken davongekommen.
Die zweite Partie gewann der Russe mühelos. Hinterher wurde Magnus Carlsen von dem Regisseur Øyvind Asbjørnsen interviewt, der ihm ein Jahr lang kaum von der Seite wich und den Film The Prince of Chess drehte. Magnus war enttäuscht, dass er die zweite Partie verloren hatte. »Ich habe wie ein Kind gespielt«, erklärte der Junge.
Und Kasparow sagte nach der Partie: »Bekommt er die richtige Förderung, kann er der weltbeste Schachspieler werden.«
Magnus als Mozart
»Nach Gott kommt gleich der Papa.«
Wolfgang Amadeus Mozart
Sven Magnus Øen Carlsen wurde zum ersten Mal als Mozart des Schachs bezeichnet, nachdem er als Dreizehnjähriger beim renommierten »Corus-Turnier« in Wijk aan Zee seine erste Großmeisternorm errungen hatte. Magnus hatte ein so wunderbares Schach gespielt, dass der Vergleich angebracht war. In seiner wöchentlichen Schachkolumne in der Washington Post verlieh der Schachjournalist Lubomir Kavalek im Januar 2004 Magnus Carlsen den Titel The Mozart of Chess.
»Er zeigte sein enormes Talent mit einer der großartigsten Angriffspartien, die in diesem Jahr in Wijk aan Zee gespielt wurden«, schrieb er. Danach verglich er ihn wiederholt mit dem Wunderkind der klassischen Musik. Es war allerdings nicht das erste Mal, dass ein junges Schachgenie mit Mozart verglichen wurde. Schon mehrere Weltmeister waren als »Mozart des Schachs« bezeichnet worden.
Außerdem gibt es von 60 Minutes auf CBS einen Dokumentarfilm mit dem Titel The Mozart of Chess. Weder der amerikanische Sender noch andere Schachjournalisten haben sich aber je die Mühe gemacht herauszufinden, ob die beiden tatsächlich irgendwelche Gemeinsamkeiten aufweisen. So verkam die Bezeichnung »Mozart des Schachs« zum reinen Klischee. Die Frage ist also, ob es Parallelen zwischen dem Wunderkind des Schachs und dem mystischen Wolfgang Amadeus Mozart gibt. Auch Magnus Carlsen hat etwas Mystisches. Das zumindest behauptete der ehemalige Weltmeister Boris Spasski im November 2014 in Sotschi: »Magnus Carlsen ist ein unterirdischer Kobold. Ich mag ihn. Er ist ein feiner Kerl und ein guter Schachspieler. Und er hatte schon immer etwas Mystisches.«1
Fraglos hatte Wolfgang Amadeus’ Vater, Leopold, beschlossen, dass sein Sohn sich zu einem musikalischen Phänomen entwickeln sollte. Alle entsprechenden Maßnahmen wurden eingeleitet. Bei Magnus Carlsen war es nicht ganz so. Zwar lernte er bereits im Alter von fünf Jahren die Schachregeln, doch erst als Achtjähriger begann er, sich ernsthaft mit dem königlichen Spiel zu beschäftigen. Allerdings spielte der Vater, Henrik Carlsen, durchaus mit dem Gedanken, dass sein Sohn sich zu etwas Außerordentlichem entwickeln könnte, und auch er veranlasste die notwendigen Maßnahmen.
Die Bedingungen und Voraussetzungen waren für Magnus nicht besser als für seine drei Schwestern Ellen, Ingrid und Signe. Es zeigte sich nur, dass Magnus schon früh besondere Eigenschaften besaß. Bereits im Alter von einem Jahr spielte er mit großem Interesse und großer Ausdauer mit Lego-Steinen. Als Zweijähriger kannte er die Namen sämtlicher Automarken, und noch vor seinem vierten Geburtstag konnte er sich bestimmte Dinge besser merken als mancher Erwachsene. Im Alter von fünf Jahren kannte Magnus die Namen aller norwegischen Orte, erkannte die Ortswappen, wusste die Namen sämtlicher Hauptstädte auf der ganzen Welt und konnte exzellent Kopfrechnen.
»Wichtiger als der Erwerb sozialer Eigenschaften war für mich, dass Magnus sich Kenntnisse aneignete und intellektuelle Fertigkeiten entwickelte«, erklärt Henrik Carlsen.
Als Magnus in die Schule kam, konnte er bereits lesen und schreiben. Man erwog, ihn die erste Klasse der Grundschule überspringen zu lassen, die Eltern lehnten es ab. Allerdings vereinbarten sie mit dem Lehrer, dass er zusätzliche Anregungen und Anreize bekommen sollte, so durfte er neben dem normalen Pensum Sportbücher lesen.
Magnus bedeutet auf Lateinisch »der Große«. Norwegen hatte sieben Könige namens Magnus. »Für uns war es vollkommen normal, dass wir ihn Magnus nannten«, berichtet sein Vater. »Selbstverständlich war uns klar, dass es ein königlicher Name ist, aber er gefiel uns.«
Amadeus. Man muss sich diesen Namen auf der Zunge zergehen lassen. Eigentlich war er als Theophilus geboren, das griechische Wort für »den von Gott Geliebten«. Auf Lateinisch wurde daraus Amadeus.
Henrik Carlsen ging nicht davon aus, dass Magnus der beste Schachspieler der Welt werden würde. Jedenfalls nicht, bevor er zehn Jahre alt war. Damals, im Jahr 2000, wurde dem Vater klar, dass er einen Sohn mit einem ganz außergewöhnlichen Talent für das Schachspiel hatte:
»Als ich eines Tages die Karl Johans gate in Oslo entlangging, klingelte das Telefon. Ein enger Freund erklärte mir, dass Magnus Schachweltmeister werden könne. In dem Gewimmel auf der Straße hatte ich das Gefühl, die anderen Leute könnten das Gespräch mithören. Ich flüsterte daher, auch ich sei dieser Ansicht. In diesem Moment kam mir zum ersten Mal der Gedanke, er könnte der beste Schachspieler der Welt werden. Er war zehn Jahre und ein paar Monate alt.«
Henrik hatte damals dasselbe Rating wie heute, rund 2000 Elo. Eine solche Spielstärke erreichen sehr viele recht gute Spieler nach jahrelangem Training. Viele Schachspieler trainieren mehrere Stunden am Tag, und das zwanzig bis dreißig Jahre lang, um ein höheres Rating zu erreichen. Magnus spielte als Neunjähriger bereits so gut wie sein Vater, und das, obwohl er erst ein Jahr am Brett verbracht hatte.
In Anbetracht seines jungen Alters war das Bemerkenswerteste an Wolfgang Amadeus Mozart die Qualität seiner Musik. Die Musikstücke, die er bereits als Fünfjähriger komponierte, sind nahezu unerklärlich gut. Schon im Alter von sechs, sieben Jahren steckte in seiner Musik eine Reife, die ihn in ganz Europa bekannt machte. Das Klavierspiel prägte seinen Alltag. Der Junge liebte es zu spielen. Er musste gezwungen werden, ins Bett zu gehen, sonst wäre er am Klavier eingeschlafen.
Amadeus liebte nicht nur die Musik, er spielte mit ihr. Das Publikum konnte eine Melodie summen, zu der er Variationen spielte, oder er begleitete eine Arie, die er nie zuvor gehört hatte. Er konnte sogar mit einer Binde vor den Augen oder mit dem Rücken zum Klavier spielen. Mit anderen Worten, er fand Gefallen daran, etwas Außergewöhnliches zu veranstalten. Vor allem aber suchte Wolfgang Amadeus Mozart in der Musik die Harmonie.
Magnus Carlsen wünschte sich vom frühen Alter an die totale Harmonie seiner Figuren. Er sagt: »Ich wünsche mir um jeden Preis, dass die Figuren zusammenarbeiten, dass sie auf den richtigen Feldern stehen und eine Harmonie bilden, eine Art Vollkommenheit.«
Leopold Mozart sorgte dafür, dass der Sohn mehrere Instrumente beherrschte. Neben Klavier lernte er Violine und Orgel, damit er ein kompletter Musiker werden konnte.
Bei Magnus Carlsen könnte man das Klavier vielleicht mit dem Mittelspiel im Schach vergleichen. Darin lag sein großes Talent, und damit überraschte er in den ersten Jahren oft seine Gegner. Im Mittelspiel konnte er eine Leichtfigur opfern, um anschließend die Partie zu gewinnen. Um neue Wege beschreiten zu können, war es aber notwendig, auch die Eröffnung und das Endspiel zu beherrschen. Dies ließe sich mit der Rolle der Geige und der Orgel bei Mozart vergleichen. Nachdem Magnus sich auch zu einem Experten in der letzten Partiephase entwickelt hatte, dem Endspiel, war er der beste Schachspieler der Welt.
Als er anfing, sich für Schach zu interessieren, stand zunächst das Spielerische im Vordergrund. »Ich habe mehrfach versucht, Magnus dazu zu bringen, seine Hausaufgaben zu machen, aber ich habe ihn nie aufgefordert, Schach zu spielen. Es sollte ein Spiel sein, und die Motivation sollte von innen kommen. Wenn er sich abends ans Schachbrett setzte, mussten wir ihn oft zwingen, ins Bett zu gehen«, erzählt sein Vater Henrik Carlsen.
Das Besondere an Magnus’ Herangehensweise beim Schach war die Impulsivität. Statt mithilfe russischer Schachdisziplin besser zu werden, tat er nur das, was ihm selbst Spaß machte. Das ändert nichts an der Tatsache, dass er sich als Kind den ganzen Tag mit Schach beschäftigte. Wenn er abends zu Bett ging, dann nicht, um zu schlafen, sondern um Schachbücher zu lesen. Nachdem Henrik Carlsen die Tür zugezogen hatte, schaltete der Sohn das Licht ein.
Will man Magnus’ wichtigste Eigenschaft benennen, oder vielleicht den wichtigsten Faktor, warum er ein so extrem guter Schachspieler geworden ist, dann ist es vor allem die Freude am Trainieren und Spielen. Sein Freund und Sekundant Jon Ludvig Hammer beschreibt es so:
»Von seinem zehnten bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr spielte er den ganzen Tag Schach. Je mehr er spielte, desto mehr gefiel es ihm. Training ist wichtig, aber wenn du dann noch glaubst, dass unbegrenztes Training nur positiv sein kann, hast du einen Vorsprung.«
Magnus begann als Achtjähriger vergleichsweise spät mit dem Schachspiel. Die meisten Spieler der Weltspitze fingen im Alter von fünf oder sechs Jahren an, allerdings gibt es auch Beispiele für Weltklassespieler, die später begonnen haben.2
Mozart entwickelte früh ein musikalisches Gedächtnis, das unfassbar erscheint. Als er fünf Jahre alt war, konnte er Musikstücke nachspielen, die er nur ein einziges Mal gehört hatte. Selbst herausragende erwachsene Pianisten haben damit Probleme.
Das Gedächtnis ist beim Schach wie in der Musik ein wichtiger Faktor. Sowohl Wolfgang Amadeus Mozart als auch Magnus Carlsen haben ein extremes Erinnerungsvermögen entwickelt, das weit über die normale Gedächtnisleistung hinausgeht.3
»Als Magnus sechs oder sieben Jahre alt war, kannte er sich unglaublich gut im Sport aus. Er hätte als Experte für sämtliche Sportarten bei Quizsendungen im Fernsehen auftreten können«, erzählt sein Vater.
Leopold Mozart war selbst ein Musiker auf hohem Niveau. Er war in der damaligen Zeit recht bekannt und als Musiker vermutlich weit besser als Henrik Carlsen als Schachspieler. Dennoch hatten sie die gleiche Leidenschaft, wenn es um ihre Söhne ging. Obwohl Henrik Carlsen Schach nie auf Spitzenniveau gespielt hat, ist seine Liebe zum Spiel zweifellos ein wichtiger Faktor. Dazu kommt, dass elterliche Liebe und Fürsorge für alle Kinder sowohl in der Familie Mozart wie in der Familie Carlsen einen sehr hohen Stellenwert hatten.
Leopold Mozart bestand 1736 das Abitur mit hervorragenden Noten. Später gab er sein Studium auf und widmete sich ausschließlich der Karriere seines Sohnes. Dies ist durchaus vergleichbar mit den Ideen und Plänen, die Henrik Carlsen für Magnus hatte. Als Magnus zwölf Jahre alt war, und die Familie sich zu einem schulfreien Jahr für die Kinder entschloss, geschah dies vor allem mit Blick auf den Sohn.
Wolfgang Amadeus Mozart ging bereits als Fünfjähriger mit seinem Vater auf Reisen, um aufzutreten und zu spielen. Vater und Sohn Mozart reisten mit Pferden und Kutschen durch ganz Europa. Auch die Familie Carlsen hatte ihre »Hauskutsche« – einen Kleinbus, mit dem sie von Turnier zu Turnier fuhr. Beiden Vätern ging es darum, die Bedingungen zu schaffen, damit ihre Söhne sich optimal entwickeln konnten. Amadeus besuchte nie eine Schule. Er lernte Latein, Englisch und Französisch vom Vater. Sowohl Leopold Mozart wie Henrik Carlsen begriffen, dass sie zu außerordentlichen Maßnahmen greifen mussten, wenn ihre Söhne etwas Außerordentliches werden sollten.
Frederic Friedel, der Erfinder der Schachdatenbank ChessBase, ist zugleich einer der erfahrensten Schachjournalisten. In einem Gespräch, das wir 2013 in Zürich führten, erklärte er: »Fraglos ist Magnus ein Genie. Aber … Henrik ist klüger.«
Beide Väter hatten verstanden, dass Inspiration ein wichtiger Schlüssel ist. Wolfgang Amadeus musste die großen europäischen Städte wie München, Paris und London besuchen und dort auftreten. Das anspruchsvolle und empfängliche Publikum war nur außerhalb der Kleinstadt zu finden, aus der sie stammten – Salzburg in Österreich. Amadeus lernte die großen Komponisten seiner Zeit kennen. Damals wurde die Musikwelt von Johann Sebastian Bachs jüngstem Sohn, Johann Christian Bach, dominiert. 1764 begegneten sich die beiden in London und spielten vierhändig. Wolfgang Amadeus Mozart saß auf Johann Christian Bachs Schoß, sie spielten zwei Stunden für das englische Königspaar.
Sollte Magnus richtig gut werden, musste er hinaus in die Welt, er musste an den großen Turnieren teilnehmen und auf die besten Spieler treffen. Inspiriert werden.
Amadeus verdiente viel Geld. Er hatte ein unkompliziertes Verhältnis zum Geld und war gewöhnt, dass sich das meiste von allein regelte. Was nicht immer der Fall war.
Seit Magnus Carlsen ein Weltstar im Schach ist, führt er ein Luxusleben. In den letzten fünf, sechs Jahren hat er Millionen verdient, Geldsorgen sind kein Thema. Im Gegenteil, er fährt die schicksten Autos, fliegt Business Class, wohnt in den teuersten Hotels und besucht zwischendurch die Finanzelite. Seine Begegnungen mit Milliardär Bill Gates oder Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und sein Auftritt in einer populären norwegischen Talkshow erinnern an Mozarts Einladungen bei Hofe.
Amadeus wurde von den meisten europäischen Höfen eingeladen. Sein ohnehin großes Selbstvertrauen wurde dadurch nicht unbedingt kleiner. Immer wieder wies er darauf hin, wie gut er komponieren und spielen konnte.
Auch Magnus verhehlt nicht, wie gut er ist. Nachdem er 2009 in China eines seiner besten Turniere gespielt hatte, erklärte er: »Ich will das Schachspiel auf ein neues Niveau heben.«
Beide Söhne gehorchten ihren Vätern. Über Magnus lässt sich sagen, dass sein Vater die wichtigste Person in seiner Karriere war und ist, aber er legt großen Wert darauf, dass die ganze Familie ihm sehr viel bedeutet.
Leopold Mozart wollte streng genommen immer die volle Kontrolle über seinen Sohn haben. Das wurde mehr oder weniger unmöglich, nachdem Amadeus erwachsen geworden war. Leopold Mozarts Ambitionen waren extrem hoch, und er wusste, was er verlangte. Vielleicht sind auch Henrik Carlsens Ambitionen extrem hoch gewesen. Dann allerdings hatte er die ungewöhnliche Eigenschaft, sie gut verbergen zu können. Im Gegensatz zu vielen Eltern, die oft weit größere Ambitionen haben als ihre Kinder, ist Henrik Carlsen ungewöhnlich gelassen. So sieht es zumindest aus. An dieser Stelle muss eine Episode aus dem Film Searching for Bobby Fischer erwähnt werden, bei der mehrere Eltern bei einem Kinderschachturnier einen geradezu hysterischen Eindruck hinterlassen. Leider ist es tatsächlich so, dass viele junge Schachspieler wie dressierte Hunde wirken. Die Eltern wollen, dass sie gut werden.
Da es eine Reihe von Publikationen gibt, die auf Wolfgang Amadeus Mozarts Briefen basieren, ist die Quellenlage sehr gut, um sein musikalisches Genie zu beurteilen. Die Briefe belegen, dass er sich jahrelang in einem geradezu euphorischen Zustand befand, sie beschreiben eine tiefe Freude und beweisen, dass er sich als unabhängig und souverän wahrnahm.
Magnus Carlsen hat seit seinem dreizehnten Lebensjahr nahezu nichts anderes getan, als Schachpartien zu gewinnen, und seine Freude, Schach spielen zu dürfen, ist ganz offensichtlich. Sein Selbstvertrauen scheint unübertroffen.
Einer der größten Feinde des Musikers ist die Nervosität. Dasselbe lässt sich von Schachspielern sagen. Beim Schach ist Selbstvertrauen für den Erfolg von entscheidender Bedeutung. Mozart strahlte auf der Bühne Selbstsicherheit aus, und das gilt auch für Magnus, wenn er sich bei wichtigen Partien in Zeitnot befindet und von tausenden Zuschauern beobachtet wird. Auch auf diesem wichtigen Gebiet gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen ihm und Mozart.