Das wirkliche Leben beginnt jetzt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Ein reifer Mensch ist nicht jemand, der keine Probleme hat; ein reifer Mensch ist jemand, der mit Problemen wohl überlegt umgeht, alles in Betracht zieht, was er weiß, und dann entsprechend handelt. Dieses Verhalten ersetzt ein Verharren in infantilen Tendenzen, die nur zu Frustration und noch mehr Problemen führen. Der reife Mensch kann Schwierigkeiten als Teil des Lebens akzeptieren und ist bereit, mit ihnen angemessen umzugehen. Es gibt Dinge, um die man sich kümmern muß, aber ihr könnt auch Freude an den Dingen haben, die man tun muß. Das Leben beginnt nicht erst, wenn die Hausarbeit erledigt ist. Wenn jemand reift und sich glücklicher und erfüllter fühlt, dann nicht weil er seine Probleme gelöst hat. Vielmehr, weil er akzeptiert hat, wie die Dinge eben sind. Probleme existieren und Arbeit muß getan werden, um mit jedem einzelnen dieser Probleme oder Themen umzugehen. Zur Reife gehört, daß man alles Wissen findet, das man braucht, um die Könnerschaft zu entwickeln, um zu tun, was nötig ist. Ein reifer Mensch macht sich in Ruhe an die Arbeit, als Teil seines Lebens.

Mit der Zeit macht es einem reifen Menschen Freude, wenn er alles mit ganzem Herzen anpackt, was im Leben auftaucht. Leben ist eine viel größere Sache; dies sind nur beiläufige Teile davon. Wenn ihr das lernt, dann seht ihr, daß dieses Annehmen eine bestimmte Integrität impliziert, und daß ihr euch an eurer eigenen Fähigkeit, damit umzugehen zu können, freuen könnt. Aus dieser Haltung von Annehmen und Wertschätzen des Lebens entsteht eine Art Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Wir müssen nicht mehr dauernd wie Kinder gestillt werden.

Der integrierte Mensch

Das menschliche Leben kann in Schönheit, Grazie und Würde gelebt werden. Aber diese verfeinerte Lebensweise ist nicht leicht anzunehmen. Der Sinn des Menschseins besteht nicht darin, Erfolg, Reichtümer, ein bequemes Leben oder Sicherheit zu erlangen. Diese Dinge sind vielleicht wichtig oder notwendig, aber nur für die gröbere Seite des menschlichen Lebens. Wenn Disharmonie oder Ungleichgewicht in jemandes Bewußtsein herrscht, dann tendieren die Werte dieses Menschen zur gröberen Seite der menschlichen Natur. Die Verfeinerung des menschlichen Bewußtseins verlangt Harmonisieren und Ausbalancieren aller menschlichen Elemente. Je mehr Harmonie und Ausgewogenheit im eigenen Bewußtsein und im eigenen Leben sind, um so mehr wird es ein Leben in Schönheit, Grazie, Würde und Effizienz.

Wir sagen nicht, daß an gewöhnlichem menschlichem Leben etwas Schlechtes ist, noch daß man etwas Besseres suchen sollte. Es geht um Harmonisierung und Ausgewogenheit. Das Fehlen dieser Ausgewogenheit oder Harmonie macht uns für bestimmte Annahmen, bestimmte Erwartungen empfänglich, wie unser Leben sein sollte. Dann wird unser Bewußtsein mit den Idealisierungen bestimmter Elemente unter dem Ausschluß von anderen stabilisiert, was nur zu mehr Ungleichgewicht und Disharmonie führt. Das ist der Grund, warum ein Bewußtsein, das nicht ausgeglichen ist, gewöhnlich nicht weiß, wie es sich ausgleichen kann, denn dieses Bewußtsein kann Dinge nur aus einer unausgeglichenen Perspektive sehen. Andererseits bestimmt diese Perspektive das Gefühl dieses Bewußtseins dafür, was es braucht und möchte. Das Bewußtsein muß zuerst ausgeglichen und harmonisiert werden, bevor es sehen kann, was wahrhaft notwendig ist.

Ein Element unausgeglichenen Bewußtseins ist der Traum von einem magischen Ereignis, einer idealisierten Intervention, einer romantischen Erfahrung oder einem Menschen, der alles plötzlich ganz wunderbar macht. Natürlich ist die phantasierte Situation nur aus der Perspektive dieses unausgeglichenen Bewußtseins wunderbar. Da Wirklichkeit im Allgemeinen nicht so ist, entwickeln sich die Dinge meistens nicht entsprechend unseren Erwartungen, und dann sind wir enttäuscht. Die hoffnungsvolle Erwartung eines wunderbaren Ereignisses oder einer wunderbaren Person zeigt sich im gewöhnlichen Leben typischerweise als eine Idealisierung von Erfolg und Ruhm oder manchmal als Idealisierung einer Person, vielleicht eines strahlenden Prinzen, der daherkommt und es uns ermöglicht, von nun an und für alle Zeit glücklich zu leben.

Wenn jemand die innere Arbeit beginnt, wird diese Tendenz auf die innere Arbeit, die Schule, den Lehrer oder die Methode verschoben. Dies geschieht mit jeder Form von Arbeit, essentieller, spiritueller oder psychologischer. Bei psychologischer Arbeit sucht man die magische Heilung. Bei spiritueller Arbeit sucht man die magische Erfahrung, die gewöhnlich Erleuchtung genannt wird. Aus der ausgeglichenen Perspektive sieht man, daß es diese Erfahrungen wirklich gibt, daß sie aber nicht in der Weise magisch sind, wie das unausgeglichene Bewußtsein glaubt. Es gibt wirklich Erfahrungen von Verwirklichung und Erleuchtung und Ähnliches, aber das sind nur ein paar der hinführenden anfänglichen Elemente, die man für ein ausgeglichenes Bewußtsein braucht. Sie sind nicht die einzigen Elemente und auch nicht das Ziel von spiritueller Arbeit. Mit anderen Worten, für ein ausgeglichenes Bewußtsein, das ausgeglichen, harmonisch und reif als Mensch lebt, ist Erleuchtung nicht genug. Es ist ein Anfang. Verwirklichung ist auch nur eine Erfahrung unter vielen anderen, die nötig sind, damit ein Mensch eine Fähigkeit entwickeln kann, richtig zu leben. Viele Menschen, die spirituelle Arbeit machen, können erkennen, daß ihre Erfahrungen ihre Lebensweise nicht notwendigerweise transformiert haben. Eine Möglichkeit, die Führung (guidance) in unserer inneren Arbeit hier zu sehen, ist, daß es eine kontinuierliche Bewegung des Ausgleichens und Wiederausgleichens des Individuums, der Gruppen und der Schule als ein Ganzes gibt. Wann immer ein Ungleichgewicht in eine bestimmte Richtung auftritt, muß etwas aus der anderen Richtung geschehen, um dieses auszugleichen. Was geschehen könnte, wenn die Dinge unausgeglichen bleiben, entspricht einer bösartigen Wucherung.

Aus der Perspektive unserer inneren Arbeit müssen, allgemein gesprochen, drei Elemente ausgeglichen sein oder im Gleichgewicht bleiben, wenn sich ein Mensch auf diesen Prozeß der Entwicklung einläßt. Diese drei Elemente sind Verstehen, Sein und Tun. Die meisten Menschen neigen dazu, eines gegenüber den anderen zwei überzubetonen. Manche Menschen sind in Bezug auf den Verstehensaspekt menschlicher Erfahrung ausgeglichener. Manche Menschen sind mehr im Hinblick auf das Seinselement ausgeglichen, den Teil aktuell gefühlter Erfahrung. Und andere Menschen sind mehr bezüglich dem Handeln ausgeglichen, dem Teil menschlicher Erfahrung, bei dem es um das Tun geht. Diese Unausgewogenheit bewirkt eine Disharmonie, die sich auf alle drei Elemente auswirkt. Zu unserer Arbeit gehört, daß diese drei Elemente zu einer harmonischen Einheit entwickelt werden, und dazu gehört, daß sie in eine Balance gebracht werden. Ein ständiges Ausgleichen muß jedes Mal immer wieder stattfinden, wann immer eine Unausgewogenheit zum Vorschein kommt, entweder beim Einzelnen oder in der Gruppe. Sonst kann Entwicklung unausgeglichen sein. Es ist möglich, daß ein Mensch nur einen Teil entwickelt, aber nicht die anderen. Das kann zwar an sich in Ordnung sein, aber es führt nicht zu einem integrierten menschlichen Leben. Es führt nicht zum Zustand der Reife.

Einige der Aktivitäten in unserer Arbeit sind auf das Verstehen unserer persönlichen Situation hin orientiert und durch diesen Prozeß hin auf ein Wissen von Wirklichkeit und Wahrheit. Lange Zeit wird Verstehen zum großen Teil enthüllen, daß die Persönlichkeit, die falsche Persönlichkeit, und das Leben dieser Persönlichkeit leer sind. Die Entdeckung, daß die normale Persönlichkeit, die die Erfahrung des konventionellen Lebens beherrscht, eigentlich leer ist, wird zu dem Bewußtsein der Fülle des Seins führen, das das zweite Element ist. Wir gelangen dahin, die eigentliche Erfahrung von Sein, das Gefühl von Seiendheit (beingness), den Zustand von Sein (being), die Verwirklichung von Präsenz, zu kennen. Für diesen Zustand gibt es verschiedene Bezeichnungen – Erleuchtung oder Selbst-Verwirklichung oder Zustand der Einheit (unity) oder des Einsseins von Sein (oneness of being). Wir stellen dann fest, daß der Seinszustand, obwohl wunderbar, immer noch nicht das vollständige menschliche Bewußtsein ist. Dieser Seinszustand und das Verstehen, das ihn begleitet, müssen verkörpert werden, müssen in das eigene Leben integriert werden.

An dieser Stelle wird die Rolle des Handelns wichtig. Es ist nicht genug, Verstehen von sich selbst zu haben. Es ist nicht genug, die Präsenz von Sein (Being) zu verwirklichen. Für eine volle Integration müssen sie sich im Handeln in eurem Leben manifestieren. Sie müssen in euren Handlungen sichtbar sein, damit ihr euer Leben im Einklang mit diesem Verstehen und von diesem Zustand des Seins aus lebt. Natürlich sind manche Menschen mit dem reinen Verstehen der Dinge zufrieden und machen nur weiter, um Einsichten und Verwirklichungen zu suchen. Es ist absolut notwendig, diese Einsichten, Verwirklichungen, Wahrnehmungen und alles Wissen von den verschiedenen Zuständen und Bedingungen menschlichen Lebens zu haben. Doch besteht eine Notwendigkeit für wirkliche Erfahrung von Sein (Being) selbst, und das hat letztlich mit den essentiellen Zuständen zu tun und mit einem Zustand von Sein. Sein ist wirklich der zentrale Teil dieser drei Elemente, es ist das Herz der Sache. Eigentlich hat es mit dem Herzen zu tun. Obwohl Sein primär ist, reicht es nicht für das Leben auf der Erde aus, weil zum Leben auch Handeln und Tun gehören. Ein reifes Leben leben bedeutet nicht einfach nur zu leben, sondern im Einklang mit diesem Zustand von Sein zu leben. Wenn ein Mensch nicht dem Wissen gemäß lebt, das aus der Verwirklichung von Seiendheit (beingness) kommt, dann ist die Verwirklichung oder Entwicklung auf bestimmte Erfahrungen beschränkt und berührt die Seele des Menschen nicht tief genug, um die Integration zu ermöglichen, die für Reife nötig ist.

 

Natürlich existieren alle drei Elemente auch auf einer konventionellen Ebene. Das gewöhnliche, unentwickelte, nichtverfeinerte menschliche Leben enthält Verstehen, Sein und Tun, aber sie sind falsch. Das gewöhnliche Verstehen und konventionelle Weisheit sind die gewöhnlichen Überzeugungen, Annahmen, vorgefaßten Meinungen und die gewöhnliche Information der Persönlichkeit. Die Erfahrung, ein Mensch zu sein, wird mit den gewöhnlichen emotionalen, mentalen und physischen Erfahrungen gleichgesetzt. Das Handeln auf der Ebene der Persönlichkeit ist einfach die Art, wie Menschen ihr Leben leben. Wenn ich von essentiellem Tun oder Handeln spreche, dann meine ich nicht einfach alles Handeln; viele Menschen, eigentlich die Mehrheit der Menschheit, sind handlungsorientiert. Menschen tun alle möglichen Dinge, aber das meine ich hier nicht. Wir sprechen von Handeln, das Sein (Being) verkörpert, von Tun, das wirkliches Handeln ist. Dieses wirkliche Handeln ist das, was einen entwickelten Menschen von einem unentwikkelten unterscheidet.

Mit anderen Worten, menschliche Entwicklung hat drei Elemente oder drei Stufen. Eine ist die von Verstehen und Wissen, wie in Einsichten und Intuitionen. Die nächste ist Verwirklichung, das ist die Orientierung an Seiendheit (beingness). Danach kommt der Zustand des Tuns, und dies ist die Verkörperung der Seiendheit und des Wissens in eurem Leben, so wie ihr euer Leben lebt. Wenn ihr zu der Gruppe oder zu eurer Sitzung kommt und wunderbare Einsichten und Verwirklichungen habt und Erfahrungen von grenzenloser Liebe und unendlicher Präsenz, aber dann zu eurem sonstigen Leben zurückgeht und der gewöhnlichen Persönlichkeit entsprechend lebt, dann ist das so, als wäre nichts geschehen. Essentielle Erfahrungen oder Erfahrungen von Verwirklichung müssen sich auf euer ganzes Leben auswirken, alles durchdringen, bis sie verkörpert sind. Ein reifender Mensch muß diesen Erfahrungen und diesen Einsichten gemäß leben. Ein Mensch, der diese Erfahrungen und Einsichten nicht hat, ist eines reifen Lebens nicht fähig. Alle drei Elemente sind also notwendig. Wenn ein Mensch nur auf Handlung hin orientiert ist, daraufhin, sein Leben zu leben und erfolgreich zu sein, dann spielt es keine Rolle, was er tut. Wenn er keine wahre Seiendheit (beingness) und kein wirkliches Verstehen erlangt, dann verfehlt sein Handeln sein Ziel, sein Leben ist nicht in Harmonie, und er wird daraufhin orientiert sein, die Begierden des Traums, die magischen Erwartungen der Persönlichkeit, zu befriedigen.

Wir tun hier unsere Arbeit, damit im Lauf der Zeit in eurem Bewußtsein viele Einsichten und viel Verstehen eurer Persönlichkeit, eures Lebens, eurer Vergangenheit und des Denkens entstehen. Dieses Verstehen wird die falschen Elemente aufdecken und die Dimension von Essenz enthüllen. Zusammen mit diesem Prozeß von Einsicht und Verstehen wird der Weg in vielfachen Erfahrungen Sein (Being) offenbaren. Man wird eine ganze Reihe von Erfahrungen verschiedener Dimensionen und verschiedener Ebenen von Verwirklichung machen. Alle diese Einsichten und alle diese Erfahrungen sind Voraussetzung für eine volle Entwicklung, und müssen an einem bestimmten Punkt mit Handeln integriert werden. Wenn das nicht spontan geschieht, wird man sein Leben absichtlich demgemäß leben müssen, was man gelernt und erfahren hat. Das geschieht nicht notwendigerweise von selbst.

Manche Einsichten, Erfahrungen von Verwirklichung und sogar Handlungen werdet ihr als Geschenke erhalten, aber für manche werdet ihr arbeiten müssen. Ihr werdet die Mühe dafür aufwenden müssen, euch selbst zu regulieren und auszugleichen. Das ist die Wirklichkeit menschlichen Lebens. Wenn ihr offen seid, wenn ihr an der Wahrheit interessiert seid, dann werden euch Dinge einfach passieren, aber nicht alles. Für manche Dinge werdet ihr handeln müssen, werdet ihr euch mehr anstrengen müssen. Beide Elemente sind nötig: das spontane Entstehen und die Anstrengung, der Einsatz von Energie. Der erste Teil des Verstehens ist der leichteste Teil. Es ist manchmal schwierig, die Bedeutung von Seinszuständen zu erfassen und sich selbst zu erlauben, bei diesen verschiedenen Zuständen zu bleiben. Danach besteht die schwierigste Aufgabe darin, Sein (being) im Handeln zu verkörpern.

Das Verstehen und Sein in Handeln zu übertragen ist der primäre und mächtigste integrative Prozeß sowohl von Verstehen als auch von Sein. Wenn ihr nicht handelt, wenn ihr nicht versucht, euer Leben gemäß dem zu leben, was ihr gelernt habt, gemäß dem, was ihr erfahren habt, dann zeigt sich es eine Neigung, die verschiedenen Elemente nicht zu integrieren. Diese Tendenz erzeugt eine Spaltung zwischen verschiedenen Teilen. Es gibt einen wunderbaren Teil von euch, und dann gibt es den Rest eures Lebens, er ist ein einziges Durcheinander – voller Frustrationen, Problemen, Klagen oder Nachlässigkeit.

Aber wenn ein Mensch anfängt, im Einklang mit dem zu handeln, was er weiß und was er erfahren hat statt aus Routine und automatisch, wie seine Konditionierung und seine Muster es vorgeben, dann werden diese Einsichten und Erfahrungen in die Seele selbst integriert. Die Seele wird sich durch Verarbeiten der alten Muster der Persönlichkeit transformieren und auf diese Weise reifen. Die Persönlichkeit ist nicht etwas, das sterben oder weggeworfen werden muß; die Persönlichkeit muß sich mit der Zeit entwickeln, verfeinert und mit dem Gefühl von Seiendheit (beingness) integriert werden. Diese Integration ist für Ganzheit und Vollständigkeit, für eine integrierte Seele, in der Sein und Persönlichkeit nicht miteinander Krieg führen, notwendig. Die gewöhnliche Persönlichkeit ist nichts anderes als ein konditionierter Teil der Seele. Dieser konditionierte Teil kann nur als das Ergebnis der Wirkung von Einsichten und Zuständen von Sein transformiert werden, was zur Integration und Reife der Seele führt. Sonst ist es möglich, daß jemand die Persönlichkeit beiseite schiebt und nur den Zustand von Seiendheit (beingness) entwickelt. Einige spirituelle Systeme sind so orientiert, daß wenn jemand das Verstehen, die Verwirklichung und alle möglichen wunderbaren Erfahrungen erreicht hat, diese Zustände auch bestehen bleiben. Aber das sind Menschen, die nicht in der Welt sind. So ein Mensch hat vielleicht einen reifen Zustand von Sein erreicht, aber er muß auf seinem Hintern sitzen, um ihn zu erfahren. Er kann damit nicht auf den Marktplatz gehen.

Den weiteren notwendigen Schritt könnt ihr nicht machen, wenn ihr nur auf eurem Hintern sitzt, oder wenn ihr nur meditiert, euch von allen fernhaltet, oder indem ihr einfach in Sitzungen mit eurem Lehrer einen Teil von euch selbst versteht. Ihr müßt tatsächlich handeln. Und eure Handlungen müssen echte Handlungen sein, die alles berücksichtigen, was ihr gelernt habt: alle Einsichten, das ganze Wissen und alle Erfahrungen. Nur dann werden alle Elemente integriert, sodaß ihr integriertere und ausgeglichenere Menschen werden könnt.

In einem gewisse Sinn ist diese innere Arbeit also wie eine Art Bauen, eine Entwicklung des eigenen Selbst und des eigenen Lebens. Ihr werdet nicht eine bestimmte Art Arbeit machen und dann automatisch mit wunderbaren Dingen belohnt; dies ist die Erwartung vieler Menschen. So laufen die Dinge nicht. Jemand kann Einsichten und Erfahrungen haben und sie als Belohnungen, als Süßigkeit, als etwas Wohlschmeckendes betrachten. Aber wenn ihr nur das Wohlschmeckende eßt, dann seid ihr ein abhängiges Kind, das wieder in die Sitzungen kommt, nur um mehr Süßigkeiten zu bekommen. Jemand, der daran interessiert ist, wirklich Verstehen zu entwickeln, als ein reifer, ausgeglichener Mensch vollständig zu werden, wird diese Erfahrungen im Leben benutzen, um sich zu transformieren.

Was mir auffällt und was bedauerlich und frustrierend, aber unvermeidlich ist, ist die Tatsache, daß Menschen lange Zeit, wenn sie Zustände von Sein erfahren, diese Zustände als eine Art Nahrung, eine Art Belohnung oder Anerkennung von Erfolg sehen. Diese Erfahrung von Essenz (Essence) oder Sein (Being) ist eine Art Nahrung, aber diese Erfahrungen entstehen aus etwas viel Fundamentalerem und Wichtigerem. Diese Erfahrungen sind dazu da, euch zu transformieren. Sie entstehen nicht, damit ihr sie bloß konsumiert, sondern damit ihr sie verdaut und verarbeitet. Es reicht nicht aus, die Erfahrung zu haben: „O wie schön, wie wunderbar, ich habe jetzt so ein süßes Gefühl. Ich fühle mich jetzt so voll.“ Lange Zeit hat mich das beschäftigt. Nicht bei jedem findet sich dieses Muster, aber ich würde sagen, die Mehrheit hat es. Wenn ein Schüler einen bestimmten Zustand erfährt, zum Beispiel einen Zustand von Willen, vermittelt dieser ein Gefühl von Stärke, Solidität und Unterstützung. Der Mangel an Willen und Unterstützung ist vorbei. Das kann wunderbar sein, aber es ist nicht genug. Wenn ich einen Zustand von Unterstützung, einen Zustand von Willen erfahre, ist das gewöhnlich nicht mein Hauptaugenmerk: es gibt eine Menge andere Dinge, die man sehen und verstehen könnte, und man könnte anderen Nutzen aus dieser Erfahrung ziehen. Es ist nicht nur so, daß ein kleiner Teil meines Leidens vorbei ist. Ich frage mich: „Was bedeutet das, wenn sich plötzlich ein bestimmter Zustand einstellt und mein Mangel an Unterstützung oder meine Schwäche ganz weg ist? Wie ist das gekommen? Was bedeutet das für mein Leben? Welche Bedeutung hat das für meine Lebensweise? Was ist das, das macht, daß ich mich stark fühle?“ Ihr müßt so neugierig darauf werden, daß ihr eine gewisse Zeit damit verbringt, es unter dem Mikroskop anzuschauen und zu versuchen, jedes seiner Atome zu erforschen: „Was ist das? Es ist etwas Neues, was ich noch nie gesehen habe.“ Ich habe allerdings bemerkt, daß für viele Menschen, wenn sie eine neue Erfahrung machen, zum Beispiel die Erfahrung essentieller Stärke, das Einzige, was sie daran mögen, ist, daß sie sich stark fühlen, das Angenehme daran, und das ist alles. So jemand war dann nur daran interessiert, seinen Zustand von Schwäche zu beseitigen. Er ist nicht an der Wahrheit der Situation interessiert, und auch nicht an der Wahrheit der Erfahrung. Wenn ein bestimmter Zustand entsteht, dann enthält er eine Wahrheit, eine Nahrung für eure Seele; er ist nicht nur dazu da, einen bestimmten Hunger in euch zu stillen, obwohl er das tun kann. Wahrheit kann euch auf vollkommene Weise ernähren, die euch von Grund auf und permanent transformiert, wenn ihr euch wirklich für sie interessiert.

Oder jemand erfährt vielleicht einen Zustand Persönlicher Liebe (Personal Love), fühlt sich süß, weich und zart und sagt: „O gut, jetzt empfinde ich Liebe. Mir ist egal, ob mich jemand liebt, nur daß ich mich nicht abgelehnt oder verletzt fühle,“ und mehr nicht. Ihr verlaßt die Sitzung. Das tun viele Menschen, im Grunde, aber mir scheint, ihr könntet auch fragen: „Was ist das? Was ist Liebe? Ich erfahre einen Zustand von Liebe, aber was ist das?“ Ihr schaut diesen Zustand an. Es fühlt sich so zart an. „Wie kann etwas in meiner Brust süß schmecken? Süß ist gewöhnlich ein Geschmack in meinem Mund.“ Das erste Mal in eurem Leben empfindet ihr Süße in eurem Herzen. Aber ihr fragt nicht, warum ihr Süße in eurem Herzen empfindet oder warum ihr sie bisher noch nie gefühlt habt. Ihr glaubt, es sei völlig unwichtig; wichtig ist, daß ihr jetzt Liebe empfindet. Warum nicht euch fragen: „Wie kommt es, daß ich etwas erfahren kann, was fundamental wahr zu sein scheint und allen meinen Vorstellungen und Annahmen von den Dingen widerspricht, aber ich schaue mir das nicht einmal an?“ Wie kommt es, daß ihr gewöhnlich glaubt, daß es so etwas wie Erfahrung von etwas Süßem in eurer Brust nicht gibt, auch wenn diese Annahme von eurer Erfahrung widerlegt worden ist? Was bedeutet das? Was bedeutet das für eure Überzeugungen und Vorstellungen, für die Art und Weise, wie ihr euer Leben lebt?

Neben der eigentlichen Untersuchung, dem eigentlichen Interesse, dem eigentlichen Engagement in der Erfahrung, müßt ihr in sie hineingehen, sie fühlen und sie verstehen, um zu erkennen, wie sie sich anfühlt, wie sie schmeckt, wie sie sich auf euer Denken auswirkt, wie sie sich auf euer Handeln auswirkt, wie ihr sie in euer Leben hineinnehmen könnt. Es gibt eine Menge Dinge zu verarbeiten, auch bei einer einfachen Erfahrung. Fünf Minuten einer Erfahrung kann einen Menschen viele Monate kosten, bis er wirklich Nahrung daraus gewinnt. Wenn diese Erfahrung noch nicht verdaut ist, glaubt jemand sonst vielleicht: „Nein, ich hatte die Erfahrung. Nächste Woche komme ich wieder und bekomme eine neue“. Nach einer Weile ist das Resultat ein Zustand der Verstopfung, man ist aufgebläht und verstopft, mit einer großen Frustration, weil man keine neuen Erfahrungen von Verwirklichung macht, während jede einzelne dieser Erfahrungen das Bewußtsein auf fundamentale Weise transformieren könnte.

 

Obwohl bedauerlich, sind diese Einschränkungen unvermeidlich, und zwar aufgrund der Tendenzen im unausgeglichenen Bewußtsein. Das unausgeglichene Bewußtsein kann nur an Angenehmem oder am Gefühl von Sicherheit in der Erfahrung interessiert sein, und das ist alles. Wir könnten also sagen, daß die Seele einen Tunnelblick hat. Die Seele schaut auf ein Element einer Erfahrung und schließt alles andere aus. Dann entgeht einem natürlich der wahre Nutzen, die vollständige Wirkung dieser Erfahrungen. Nur wenn man in diese fundamentalen Bewußtseinszustände eintaucht, wird die Seele transformiert. Eure Seele ist das Bewußtsein, in dem alle Zustände des Bewußtseins entstehen. Wenn sich tiefe Zustände einstellen, dann können sie eure Seele transformieren. Das bloße Auftauchen einer Erfahrung, und ob man sie mag oder nicht mag, reicht nicht aus, um das Bewußtsein zu transformieren. Das Bewußtsein muß in sie eindringen und berührt, von ihr verbrannt werden. Sonst kann es sich nicht transformieren.

Meiner Erfahrung nach sind die Wirkungen bestimmter Erfahrungen von Person zu Person verschieden. Manche Menschen erleben den Zustand Persönlicher Essenz (Personal Essence) und sehen, daß ihr Leben und ihr Bewußtsein in großem Stil transformiert werden. Manche Menschen erfahren ihn, als wäre überhaupt nichts geschehen. Das kann überraschend erscheinen. Ihr denkt vielleicht: „Wie kann das sein?“ Ich war auch überrascht, aber ich habe gelernt, daß manche Menschen fundamentale Zustände der Existenz nur als noch etwas mehr in ihrem Alltag erfahren. Wie noch einen Hamburger oder einen unterhaltsamen Film. Das ist nicht innere Distanz, sondern ein Mangel an Anerkennung gegenüber der wahren Natur solch einer Enthüllung.

Erfahren eines essentiellen Zustandes berührt manche Menschen auf solche Weise, daß die Erfahrung ihr Leben tief transformiert und ihre ganze Orientierung und Perspektive verändert. Ob das geschieht, scheint mit Erwartungen zu tun zu haben, die jemand hat, oder damit, was jemand schon wertschätzt oder idealisiert. Es hat mit dem Fokus des jeweiligen Menschen zu tun. Manche Menschen suchen nach etwas Bestimmtem, andere suchen nach anderem. Es hängt auch von der Tiefe des Interesses und der Liebe eines Menschen ab, die er für die Wahrheit an sich empfindet. Viele Menschen haben kein Interesse an der Wahrheit. Viele Menschen sind an Erfahrungen von Sicherheit interessiert oder einfach an dem angenehmen Gefühl oder der Stärkung, die diese Erfahrungen von Verwirklichung mit sich bringen. In traditionellen Schulen, in einigen der alten Schulen, wird den Menschen nicht erlaubt, diese Erfahrungen zu haben, weil man das als Verschwendung ansieht. Das Mindeste, was passieren kann, ist daß es eine Verschwendung ist. Das Schlimmste, was passieren kann, ist eine unausgewogene Entwicklung.

Wenn wir Verstehen aus einer Perspektive betrachten, die natürlich und spontan zu Ausgewogenheit und Harmonie tendiert, dann finden wir, daß Verstehen von Liebe zur Wahrheit um ihrer selbst willen motiviert sein muß. Die Erfahrung, oder die Seiendheit (beingness), ist die Erfahrung der Wahrheit. Dies muß man immer wieder lernen. Wenn ihr euch in einem Zustand von Sein befindet, dann ist das, was ihr erfahrt, die Wahrheit: die Wahrheit davon, wer ihr seid. Eure Erfahrung ist keine Süßigkeit, oder ein Leckerbissen, es ist keine Belohnung dafür, daß ihr gut seid oder eure Arbeit gemacht habt. Nein, ihr erfahrt die fundamentale Wahrheit, und diese muß erkannt, verstanden, aufgenommen und absorbiert werden; dann wird Handeln von dieser Wahrheit ausgehen.

Niemand hat gesagt, daß dies leicht sein wird. Wie ihr seht, ist es ein ziemlich anspruchsvolles Vorhaben. Das Erschaffen des schönen, anmutigen, wahren und reifen menschlichen Lebens verlangt Arbeit auf vielen Ebenen. Es verlangt Entschlossenheit, Aufrichtigkeit und eine innere Verpflichtung zu dieser Aufgabe. Diese Art Leben ist möglich, aber nur für jemanden, der es wirklich will. Es geschieht nicht, wenn jemand etwas anderes möchte. So einfach ist das. Es ist nicht so, daß ihr bestraft würdet, wenn ihr dieses Leben nicht anstrebt. Wenn ihr nicht dafür arbeitet, bekommt ihr es nicht.

Denkt an das Leben als ein reifer Mensch im Hinblick auf die Wahrheit – die Wahrheit ist der Grundfaden, das Grundelement, das Vereinigende, weil sie das Herz des Ganzen ist. Wenn ihr die Wahrheit nicht wollt, dann könnt ihr die Wahrheit nicht bekommen. Es liegt in der Natur der Wahrheit selbst, daß ihr euch über die Wahrheit nicht selbst belügen könnt. Ihr könnt nicht versuchen, Wahrheit zu bekommen, denn wenn ihr so tut, als wolltet ihr sie, wenn ihr sie in Wirklichkeit nicht wollt, dann bekommt ihr Falschheit. Jemand, der die Wahrheit bekommt, ist also jemand, der die Wahrheit wert ist. Ein Mensch ist die Wahrheit wert, wenn er die Wahrheit um ihrer selbst willen vorzieht, will und liebt, mehr als alles andere. Sonst bekommt man etwa anderes. Wahrheit ist nicht zugänglich, außer für jemanden, der alles tun will, was verlangt ist. Sonst bleiben die Schleier und Illusionen der idealisierten vorgefaßten Meinungen im Wege. Wer ist daran interessiert, die Zeit, die Energie, die Mühe aufzubringen, ohne Klagen, mit viel Anmut und Großzügigkeit? Nur solch ein Mensch wird in der Lage sein, die Wahrheit zu realisieren. Ohne dieses Maß an Anstrengung, wird es einfach nicht gelingen; es muß nicht gelingen.

Niemand sagt, daß jeder Mensch für die Wahrheit leben sollte. Für viele Menschen ist sie nicht von Interesse, ist sie nicht das, was sie wollen. Sie wollen etwas anderes, und das ist in Ordnung. Wenn ein Individuum mehr daran interessiert ist, eine Art Sicherheit um sich zu stabilisieren, ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder eine Art Anerkennung oder sonst etwas, das ist in Ordnung. Es ist in Ordnung, aber dies ist nicht Sinn der inneren Arbeit. So jemand müßte zu einer anderen Art Lehrer oder Schule gehen, die ihm hilft, dies zu bekommen. Es ist bestimmt legitim, diese Dinge zu wollen und zu haben. Aber eine Schule innerer Arbeit wie unsere ist daraufhin orientiert, etwas Bestimmtes zu erreichen. Sie ist nicht daraufhin ausgerichtet, einem Menschen Lust, Sicherheit, Anerkennung oder Liebe zu verschaffen oder irgendetwas derart. Das ist nicht unser Interesse. Wir beurteilen diese Dinge nicht als gut oder schlecht. Das ist einfach nicht unsere Orientierung. Wenn jemand eine bestimmte Art Anerkennung braucht, dann ist das in Ordnung, aber er sollte verstehen, daß er woanders danach suchen muß. Wenn jemand Angenehmes möchte, dann muß er verstehen, daß es andere Stellen gibt als diese, um nur Angenehmes zu finden.

Was ihr hier bekommt, ist Wahrheit. Das tun wir hier. Unsere Arbeit hat mit dem Verfolgen von Wahrheit zu tun. Wenn ich sage, es gibt drei Elemente, die ausgewogen sein müssen, dann sind diese Elemente nicht notwendigerweise voneinander getrennt und deutlich abgegrenzt. Zum Verstehen gehören Zustände von Sein, und zu Sein gehört Handeln; sie sind alle miteinander verbunden. Aber je nach Zeitpunkt und je nach Mensch liegt die Betonung mehr auf diesem oder jenem dieser Elemente. Jeder von uns muß unsere Arbeit und unsere Haltung aus dieser Perspektive untersuchen. Wie sind wir unausgewogen? Welches dieser Elemente schätzen wir, auf welches gehen wir zu und entwickeln wir automatisch auf Kosten der anderen? Ihr werdet bemerken, daß die Gruppe selbst, oder die verschiedenen Gruppen, sich manchmal mehr auf eines dieser Elemente konzentrieren, je nach Individualität des Einzelnen oder Zusammensetzung der Gruppe. Dazu kommt es, wenn es im Hinblick auf die drei Elemente eine Unausgewogenheit gibt. Manche Gruppen sind mehr auf das eine als auf das andere hin ausgeglichen. Es ist für eine Gruppe äußerst nützlich, wenn sie dahingehend ausgewogen ist. Wenn das nicht der Fall ist, dann wird natürlich diese Gruppe verschiedene Korrekturen vornehmen müssen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?