Das wirkliche Leben beginnt jetzt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Diese Art Respekt, Wertschätzung und Anerkennung muß sich nicht nur gegenüber der inneren Arbeit oder nur mir als Lehrer gegenüber manifestieren, sondern sie muß sich auch im Kontakt miteinander manifestieren. Wenn wir lernen, echte Menschen zu sein, dann sollten wir uns auch gegenseitig reif verhalten und uns nicht als Rivalen, Feinde oder Quellen von Befriedigung behandeln, was die übliche Art und Weise ist, wie Menschen miteinander umgehen. Wenn wir lernen wollen, menschlich zu sein, müssen wir an dieser Stelle beginnen.

Ich meine, daß es nicht reicht, einfach zu verstehen, was in euch geschieht; euer Verstehen muß sich in euren Handlungen und in euren Interaktionen mit anderen manifestieren. Das ist der Ort, wo die Arbeit der Integration stattfinden kann, und wo die Wirkung der verfeinerteren Elemente eurer Natur eure Persönlichkeit transformieren wird. Ohne diese Integration wird die innere Arbeit nicht vollständig sein und kann sogar alle möglichen Arten von Abnormitäten und Entstellungen hervorrufen. Wir müssen darauf achten, wie wir uns verhalten und wie wir interagieren, und zwar aus der Perspektive der höheren Elemente in uns.

Ihr könnt nicht echte Menschen sein, wenn euer äußeres Leben nicht eurem inneren Leben entspricht. Wenn ein Widerspruch zwischen eurer inneren Erfahrung und eurem Verhalten gegenüber anderen besteht, dann ist das eine schwere Entstellung. Wenn ihr etwas Bestimmtes wißt, aber euch anderem Wissen entsprechend verhaltet, wenn ihr bestimmte Teile der Wirklichkeit wertschätzt, aber wenn es um das wirkliche Leben geht, diese Werte aus dem Fenster werft, dann findet da eine sehr seltsame Art von Spaltung statt. Dies führt zu Frustration für euch und zu Ärger für eure Umgebung. Bei dieser inneren Arbeit geht es nicht darum, euch selbst zu verwirklichen, euch ganz toll zu fühlen und euch um alle anderen nicht zu kümmern. Es gehört zum Wesen eines reifen Menschen, auch die anderen als reale Menschen zu achten.

Wenn ihr wirklich erfahren wollt, was es heißt, ein echter Mensch zu sein, dann müßt ihr euch die nötige Mühe machen, wie einer zu leben, ganz gleich wie schwer das ist. Wie gesagt, zu einem großen Teil der Arbeit hier gehört die Reibung zwischen den Prinzipien, Vorstellungen und Überzeugungen, mit denen ihr gekommen seid, und den Prinzipien der inneren Arbeit. Durch diesen Prozeß werdet ihr bisher unbekannte Teile von euch selbst verstehen und verwirklichen. Das wird zu Veränderungen in eurem Verhalten führen, auf die ihr bewußt und beständig hinarbeiten müßt.

Ihr solltet euch echt menschlich verhalten, nicht nur mir oder eurem Lehrer gegenüber, sondern gegenüber allen Menschen in eurem Leben. Sonst perpetuiert ihr den infantilen Teil in euch; ihr handelt dann weiter wie ein Tier. Ihr solltet euch also bei jedem hier und bei allen Menschen in eurem Leben bewußt Mühe geben, im Einklang mit diesen feineren Elementen zu leben, die ihr versteht und verwirklicht, statt den alten Mustern nachzugeben. Idealerweise übt ihr wechselseitigen Respekt und wechselseitige Wertschätzung, wechselseitige Freundlichkeit und wechselseitiges Verstehen. Ein anderer Mensch ist ein Ausdruck des Sublimsten, was es gibt, genauso wie ihr ein Ausdruck dessen seid. Wenn ihr nicht einem jeden Menschen mit Hochachtung, Wertschätzung und Anerkennung begegnet, dann respektiert ihr dieses sublime Element in euch selbst nicht und erkennt es nicht an.

Wir sind nicht voneinander getrennt. Unser Gefühl von Getrenntsein ist oberflächlich und existiert nur in der physischen Dimension. In unserem menschlichen Element sind wir nicht getrennt; wir sind eng verbunden. Jeder andere Mensch ist genauso kostbar wie wir und verdient ebensoviel Respekt, Liebe und Rücksicht. Dieses Verständnis muß sich in unserem Benehmen jeden Augenblick manifestieren. Dies ist der Teil der inneren Arbeit, der euch transformieren wird.

Zuerst geht es um die essentielle Verwirklichung. Der nächste Schritt, der schwerer ist, besteht darin, zu lernen, wie ihr diese Verwirklichung in eurem Leben umsetzt. Ihr müßt euch der Frage stellen, wie ihr diese Verwirklichung leben werdet. Wie werdet ihr sie euer Leben beeinflussen lassen, sodaß euer Leben ein wahrhaft reifes menschliches Leben wird? Es verlangt große Anstrengung, euch eurer selbst und dieser feineren Elemente zu erinnern, über die ihr lernt, damit ihre Perspektive eine Wirkung auf euer Leben und eure Beziehungen mit anderen und mit eurer Umwelt hat. Die Prinzipien und die Werte, nach denen ihr lebt, müssen sich von Besitzstreben, Konkurrenz, Eifersucht und Ablehnung zu einer Haltung von Freundlichkeit, Großzügigkeit, Respekt und Dankbarkeit verändern. Wenn ihr wirklich reife Menschen sein wollt, dann werdet ihr euch diesen Werten entsprechend verhalten, auch wenn andere das vielleicht nicht tun. Ihr gesteht euch selbst nicht die Ausrede zu, weil ein anderer Mensch sich wie ein Lump verhalten hat, verhaltet ihr euch auch nicht anständig. Tut ihr dies, verratet ihr euer menschliches Element. Ihr seid respektlos gegenüber dem, der ihr seid und was ihr werden könnt.

Wenn ihr daran interessiert seid, wahrhaft reife Menschen zu werden, dann müßt ihr euch den höchsten Werten entsprechend verhalten, die ihr kennt, und zwar immer. Wenn man ein reifer Mensch sein will, gehört die Anstrengung dazu, sich so zu benehmen. Wenn ihr daran glaubt, daß die Integration eurer Verwirklichung einfach von selbst geschehen oder daß sie leicht sein sollte, dann versteht ihr nicht, worum es im Leben geht und ihr verhaltet euch wie Kleinkinder. Um ein freundlicher, großzügiger, respektvoller, liebevoller und klarer Mensch zu werden, müßt ihr daran arbeiten. Es geschieht nicht einfach so. Gott wird es nicht für euch tun. Ihr müßt selbst euch dafür anstrengen, Minute für Minute, sonst werdet ihr euch nicht transformieren.

Natürlich sagt niemand, ihr müßt das tun; niemand muß die innere Arbeit machen. Es ist eure Entscheidung. Wenn ihr sie tun wollt, dann ist dies dazu nötig. Ihr könnt sagen: „Es ist zu schwer. Ich ärgere mich darüber und ich mag das nicht.“ Es ist also schwer. Wenn ihr als Mensch reif werden wollt, dann müßt ihr euren Ärger, eure Verletztheit und eure Frustration einsehen und sie ertragen und trotz dieser Gefühle wie ein reifer Mensch leben. Wenn ihr sagt: „Es ist zu schwer, deshalb werde ich mich verstecken oder weglaufen und das Ganze vergessen,“ dann verhaltet ihr euch wie ein kleines Kind, das nach seiner Mama ruft, wenn es schwierig wird. Wenn ihr erwachsen werden wollt, dann müßt ihr euch erwachsen verhalten.

Die verfeinerten Werte von Liebe, Mitgefühl und Wahrheit werden nicht Teil von euch werden und sich in eurem Leben manifestieren, wenn ihr nur auf eurem Hintern sitzt und meditiert oder versucht, euch selbst zu verstehen. Wenn ihr glaubt, daß es reicht, wenn ihr bloß in der Gruppe sitzt oder eine Stunde Atemarbeit macht und diese feineren Elemente von euch erfahrt, dann arbeitet ihr mit der falschen Perspektive. Ihr müßt daran arbeiten, euer Leben im Einklang mit diesen Werten zu leben, bis dies zu eurer zweiten Natur wird. Um das zu tun, müßt ihr euch selbst respektieren. Sonst verwöhnt ihr euch wie ein Kind, setzt euer wahres Potential herab und verratet so den tiefsten Teil von euch selbst. Unser Problem besteht darin, daß wir weiter verraten, wer wir sind, wenn wir auf eine Weise leben, die nicht zu unserer wirklichen Natur paßt.

Wenn ihr euer wahres Selbst seid, dann strebt ihr nicht nach Angenehmem, dann vermeidet ihr Schmerz oder Unangenehmes nicht, dann versucht ihr nicht, Bestätigung zu bekommen, und auch nicht, jemanden dazu zu bringen, euch zu bewundern. Ihr seid nicht darauf aus, jemand anders zu kritisieren oder jemandem eine Niederlage beizubringen, und ihr seid nicht auf Ansehen oder Macht aus. Ihr lebt natürlich und spontan als echte Menschen, die für andere Menschen Respekt und Rücksicht empfinden. Ihr versucht nicht, jemanden zu lieben; ihr liebt einfach, ohne auch nur darüber nachzudenken. Wenn ihr reife Menschen seid, dann ist es eure zweite Natur, daß ihr liebt, daß ihr gebt, daß ihr respektvoll und rücksichtsvoll seid und daß ihr euch auf eine verfeinerte und reife menschliche Art verhaltet und entsprechend handelt.

Um diese Werte und Manifestationen zur zweiten Natur zu machen, müßt ihr euch bewußt anstrengen. Ihr müßt sie zu eurer Arbeit machen. Das bedeutet nicht, daß ihr todernst, verbissen und humorlos sein müßt. Darum geht es nicht. Es geht darum, aufrichtig zu handeln und sich bewußt darum zu bemühen, eurer selbst und anderer bewußt zu sein, damit ihr euch und andere mit Respekt behandelt. Das bedeutet auch nicht, daß ihr alles Angenehme aufgeben müßt; es bedeutet, nicht nach Angenehmem zu streben. Es bedeutet nicht, Schmerz hervorzurufen; es bedeutet, Schmerz nicht zu vermeiden.

Leben soll mit der Integrität, mit der Würde und mit der Selbstachtung eines Menschen gelebt werden, der weiß, daß es nicht darum geht, ob sich etwas gut oder schlecht anfühlt. Der Punkt ist, eure Selbstachtung nicht zu verlieren, eure wahre Wirklichkeit, die höchsten und reinsten Elemente in euch nicht aufzugeben. Ganz gleich wie wunderbar etwas ist und wie schmerzhaft etwas ist, euer Selbstrespekt ist stark genug, euer Gefühl von Integrität aufrechtzuerhalten. Diese Integrität bedeutet nicht, daß es nach eurem Willen geht oder daß ihr gewinnt oder Erfolg habt oder so etwas. Es bedeutet, aufrichtig in Bezug darauf zu sein, wer ihr seid, und auf eine Weise zu handeln, die eure essentiellen menschlichen Werte widerspiegelt.

Selbstrespekt, Selbstbeachtung und Selbstliebe haben bedeutet alles zu tun und zu lernen, um diese Integrität und diesen Selbstrespekt aufrechtzuerhalten. Es heißt, wenn ihr etwas lernen müßt, dann macht ihr euch an die Arbeit und lernt es; und wenn etwas gesagt werden muß, dann geht ihr es an und sagt es. Selbstrespekt und Integrität zu haben bedeutet, sich nicht darüber zu beschweren, wie etwas ist. Es bedeutet, anderen gegenüber mit Respekt und Rücksicht zu handeln, unabhängig davon, was ihr fühlt. Selbstrespekt haben bedeutet, daß ihr, sogar wenn es ans Sterben geht, weiter rücksichtsvoll und respektvoll zu euch selbst und anderen Menschen seid, weil viel wichtiger ist, wer ihr seid, als ob ihr sterben werdet. Es ist viel wichtiger als die Möglichkeit, daß ihr eure Firma oder euren Freund oder eure Freundin verliert. Menschliche Würde ist viel kostbarer als alle diese Dinge.

 

Das ist der Grund, weshalb wir manchmal den Nichtausdruck von automatischen Emotionen üben. Wenn ihr das tut, dann seid ihr nicht nur aufmerksam auf euch selbst, indem ihr euch ständig spürt, sondern ihr seid auch aufmerksam, damit ihr nicht irgendeine automatische Emotion ausdrückt, die ihr empfindet. Haltet sie bei euch selbst, fühlt sie, versteht sie und benutzt sie als Nahrung für eure Präsenz und euer Verstehen. Ihr seid vielleicht nicht dauernd dazu in der Lage. Wichtig ist, daß ihr euch selbst nicht beschuldigt, wenn ihr es nicht perfekt könnt; der Punkt ist, soviel bewußte Anstrengung und Entschlossenheit wie möglich einzusetzen.

Das bedeutet, wenn ihr aus irgendeinem unbewußten Grund wütend seid, dann schreit ihr nicht einfach jemanden an, ihr behaltet es bei euch selbst, für euer Verstehen. Wenn ihr verletzt seid, weil jemand euch ablehnt, dann behaltet ihr das bei euch. Ihr sagt nicht zu dem anderen: „Du lehnst mich ab und ich finde dich abscheulich.“ Ihr laßt zu, daß ihr euch abgelehnt fühlt, ihr arbeitet daran, es allein oder mit eurem Lehrer zu verstehen, wenn ihr mit einem Lehrer arbeitet. Ihr benutzt die Energie, den Brennstoff, die Hitze, die aus dieser inneren Arbeit entsteht, in der Absicht, sie bei euch zu behalten, für eure Präsenz, für euer Verstehen, für die Transformation eurer Persönlichkeit.

Alle möglichen Emotionen können automatisch sein – zum Beispiel Hoffnungslosigkeit oder Verzweiflung. Auf diese Gefühle hin nicht zu handeln bedeutet, auch wenn ihr vielleicht morgens aufwacht und das Gefühl habt, daß euer Leben sinnlos und hoffnungslos ist, daß ihr aufsteht und trotzdem zut Arbeit geht. Nicht auf automatische Emotionen hin zu agieren bedeutet, wenn ein Freund vorbeikommt und ihr euch einsam und bedürftig fühlt und eine Umarmung wollt, daß ihr dann nicht auf diesen Wunsch hin handelt – ihr fühlt einfach nur, weil ihr wißt, daß dieser Wunsch ein automatisches und elementares Bedürfnis befriedigen soll.

Es kann vielleicht eine Weile dauern, bis ihr versteht, was das Nichtausdrücken von automatischen Emotionen mit sich bringt, und das ist in Ordnung. Wenn man den automatischen Emotionen nicht freien Lauf läßt, erreicht man, daß man dauernd bewußt ist. Wir sprechen nicht über Unterdrücken der Emotionen, wir sprechen darüber, sie nicht auszudrücken. Sie auszudrücken bedeutet, sie zu entladen, und das hält euch davon ab, wirklich zu verstehen und tiefer zu gehen. Emotionen auszudrücken hält den Prozeß der Transformation an, weil ein wahrhaft reifer Mensch nicht auf diese Emotionen hin handelt. Diese Übung ist äußerst wichtig; wenn wir sie machen, lernen wir eine Menge. Es ist vielleicht schwer zu verstehen, was das mit sich bringt, aber ihr müßt ohnehin ausdauernd sein. Wenn ihr zu dem heranwachsen wollt, der ihr in Wahrheit seid, dann müßt ihr diese Dinge lernen. Schonung hilft euch nicht weiter. Schonung nährt einfach die elementaren Bedürfnisse und Werte und perpetuiert sie.

Um diese Übung zu machen, müssen wir alles an Bewußtheit und an Willen aufbieten, was wir entwickelt haben. Wir müssen unsere Transformation bewußt in unsere eigenen Hände nehmen. Ein Mensch, der wahren Selbstrespekt hat, verkündet nicht seine Erleuchtung, noch möchte er gesehen werden. Je echter ihr seid, um so unsichtbarer seid ihr, weil ihr eure Verwirklichung für euch behaltet. Wünsche, sie zu zeigen oder zur Schau zu stellen oder andere zu beeindrucken, sind Wünsche nach Befriedigung, elementarer oder kindischer Bedürfnisse. Der wahre Mensch handelt nicht auf diese Bedürfnisse hin und hat sie mit der Zeit nicht mehr. Ein reifer, erwachsener Mensch geht einfach seinen Geschäften nach und versucht nicht, irgendjemandem zu gefallen.

Bei dieser Übung geht es nicht darum, die Emotionen anzuhalten. Es geht eher darum, damit aufzuhören, auf sie hin (oder von ihnen aus) zu handeln, weil wir erkennen, daß sie aus dem Teil von uns kommen, der elementar, primitiv und kindisch ist. Das ist genauso, wie wenn man ein Kind aufzieht. Euer Kind darf nicht alles tun, was es möchte, weil es euer Haus auf den Kopf stellt und sich wahrscheinlich selbst wehtut. Dasselbe gilt für euch selbst. Ihr laßt den kindischen Teil von euch nicht alles tun, was er möchte, weil er euer Leben auf den Kopf stellen und euch schaden würde. So einfach ist das. Ihr müßt ihn disziplinieren. Dieser kindische Teil von euch wird lernen müssen, daß seine Verhaltensweisen nicht erwachsen sind, daß es für sie keine Verwendung gibt und daß sie nur destruktiv sind. Wenn ein Baby wütend ist, dann wirft es vielleicht seine Flasche auf den Boden, macht sie kaputt oder wirft mit Sachen und fühlt sich gut dadurch. Es versteht nicht, warum man will, daß es aufhört, und es wird noch wütender, wenn man versucht, es dazu zu bringen, aufzuhören. Dasselbe gilt für euch: ihr sagt vielleicht, daß es sich gut anfühlt, wenn ihr euren Ärger ausdrückt, und das kann auch wahr sein, aber es ist auch destruktiv euch selbst und der Menschheit im Allgemeinen gegenüber. Wut auszudrücken ist eine automatische Reaktion. Wie ein Baby müßt ihr, um erwachsen zu werden, lernen, dies zu unterlassen. Es spielt keine Rolle, ob sich das Ausdrücken gut oder schlecht anfühlt – darum geht es nicht. Es geht um Integrität, Selbstrespekt, Reife, Menschlichkeit und Wahrheit.

Reife und Wahrheit

Manchmal denke ich, daß viele von euch aus den falschen Gründen hier sind. Viele von euch bestehen auf einer Erwartungshaltung gegenüber der inneren Arbeit und versuchen, etwas zu bekommen, was zu verschaffen nicht Aufgabe der inneren Arbeit ist. Schüler bringen Probleme vor und möchten, daß ich sie löse. Sicher muß jeder von uns seine Probleme lösen, aber das ist nicht der Zweck der inneren Arbeit, und es ist auch nicht mein Interesse, wenn ich mit Menschen arbeite. Wenn ich mit jemandem arbeite, dann geht es mir im Allgemeinen nicht darum, Probleme zu lösen. Vielmehr finde ich die Situation, daß man von mir erwartet, für Leute oder sogar mit ihnen Probleme zu lösen, sehr langweilig und undankbar. Es geht am Entscheidenden vorbei. Bestimmte Probleme zu lösen ist nicht das Wichtigste, weil immer neue Probleme entstehen werden. Das Leben ist voller Probleme. Wenn ihr euer Leben dem Lösen von Problemen widmet, dann habt ihr den Rest eures Lebens alle Hände voll zu tun. Sicher gibt es im Leben einen Platz für das Lösen von Problemen. Aber Schüler glauben oft, daß das Lösen von einem Problem nach dem anderen schließlich alle Probleme beseitigen wird und zum Glück führt. Aber so läuft es nicht.

Die Haltung, die eigenen Probleme beseitigen zu wollen, stärkt das Anhaften an Probleme. Man erzeugt weiter ein Problem nach dem anderen, da man dies zu tun versteht und auch erwartet. Es ist leicht, Probleme und Themen zu erzeugen. Wenn dieser Mechanismus eure Arbeit beherrscht, bleiben Probleme der Schwerpunkt eurer Aufmerksamkeit, während andere Dinge an Bedeutung verlieren.

Ich verstehe, daß jemand ab und zu etwas sehr Dringendes hat, ein Problem, das gelöst werden muß. Das ist in Ordnung und ich bin manchmal bereit auf diese Weise zu helfen. Aber das ist nicht die Funktion des Lehrers oder unserer Arbeit hier. Ich bin mehr am Ablauf des Prozesses interessiert, wenn ich mit jemandem arbeite, und am Verstehen der Vorgänge des Prozesses als am Ergebnis. Ich schaue nicht auf die Lösung; eher schaue ich darauf, wie der Schüler mit dem Problem oder der Situation umgeht. Wie setzt er sich mit dem Problem oder der Situation auseinander? Was für eine innere Haltung nimmt er ein? Daran kann ich sehen, wieviel jemand gelernt hat. Ich finde es viel lohnender mit einem Schüler zu arbeiten, wenn er nicht so sehr an der Lösung des Problems interessiert ist als vielmehr neugierig auf die Wahrheit der Situation.

Unsere innere Arbeit ist von bestimmten Werten motiviert, und sie hat ihre eigenen Prinzipien und ihre eigene Ästhetik. Diese Prinzipien, Werte und Ästhetik sind andere als die, um die es beim Beseitigen von Schwierigkeiten geht. Wenn es meine Aufgabe wäre, Menschen dabei zu helfen, Probleme zu lösen, würde ich nicht länger als ein oder zwei Jahre in dieser Arbeit aushalten. Ich wäre wie eine Mutter mit hundert Kindern, die sich um sie kümmern und jedesmal, wenn sie weinen, trösten muß. Ich bin keine Mutter, und auch wenn ich mit Kindern zu tun habe, erwarte ich von ihnen ein gewisses Maß an Verantwortungsbereitschaft. Auch einem Kind versuche ich nicht automatisch, jedesmal zu helfen, wenn es weint und Hilfe verlangt. Manchmal ist das Liebevollste, was man tun kann, ein Kind so weit gehen zu lassen, wie es allein kann, um ihm das Reifen zu erlauben. Dasselbe gilt für Erwachsene. Es ist herabsetzend, ständig mit Problemen beschäftigt zu sein; Menschen haben mehr Würde als das und eine höhere Aufgabe. Wenn Probleme alles sind, womit ihr beschäftigt seid, dann seht ihr alles unter diesem Blickwinkel. Das ist eine Verschwendung unseres menschlichen Potentials. In unserer inneren Arbeit betonen wir das Arbeiten daran, uns selbst und die Natur der Wirklichkeit zu verstehen. Es ist richtig, daß manche Probleme vielleicht gelöst werden können, wenn wir objektiver und freier werden. Doch das ist eine Nebenwirkung davon, daß wir mit der Wahrheit dessen, wer wir sind, mehr in Übereinstimmung kommen, da so viele unserer Probleme aus der Unwissenheit davon hervorgehen, wer wir sind.

Wenn aber unser Motiv ist, Probleme und Leiden loszuwerden, dann machen wir sie nur schlimmer, und ihr werdet noch mehr frustriert. Leiden und Frustration gibt es aufgrund der Motivation, sie loszuwerden. So hat das Leiden begonnen und so perpetuiert es sich selbst.

Ein reifer Mensch mit Selbstachtung und Würde wird lernen, manche Probleme zu dulden und anzunehmen, mit manchen Frustrationen zu leben und es dabei doch fertig bringen, die schöneren Dinge, die es gibt, wertzuschätzen. Es ist unreif und kleinlich, wenn jemand eine subtile Wahrnehmung, einen essentiellen Zustand oder ein Verstehen erfährt, aber nur die Möglichkeit von Lust oder Befriedigung sieht und die Substanz der Erfahrung oder des Prozesses verpaßt. Das ist üblich. Eine solche Reaktion ist Erregung, weil es sich gut anfühlt, eine andere Reaktion kann die Erfahrung verwerfen, weil sie nicht das ist, was man erwartet hat. „Ist mir egal, denn mein Freund liebt mich immer noch nicht.“ Es gibt dann keine Offenheit für den Augenblick, nur der Wunsch eines Kleinkindes nach Befriedigung. Die innere Arbeit ist kein Zauberstab.

Worauf ich abziele, ist eine bestimmte Wertschätzung für den Prozeß dessen, was wir zusammen erarbeiten, nicht das Ergebnis. Die Interaktion hat eine bestimmte Qualität, eine Vorzüglichkeit; sie besitzt eine eigene Schönheit, abgesehen von Befriedigung. Sich gut fühlen ist nur eines der Elemente, die ich in der Situation wahrnehme; im Grunde wird das Ergebnis einfach nur interessant. Ich sehe, wie ich mich in diesem Zustand fühle und wie es mir damit geht, daß mein Freund oder meine Freundin mich nicht liebt. Ich finde es faszinierend, wenn ich einen Zustand wie diesen erfahre, und mir ist es gleich, ob jemand mich liebt oder nicht. Das ist sehr bezeichnend. Das heißt nicht, daß es da keine Emotionen von Verlust oder Trauer gibt, wenn eine Beziehung endet; Gefühle werden wie gewöhnlich da sein. Aber die Bedeutsamkeit der inneren Arbeit liegt jenseits von Verlust oder Gewinn. Die Bedeutsamkeit liegt in der Freiheit, die aus dem aufrichtigen Wunsch nach Wahrheit hervorgeht.

Wenn aufrichtiges Interesse am Verstehen der Wahrheit besteht, dann erleben der Lehrer wie der Schüler Schönheit und Wertschätzung im Prozeß. Meine eigene Essenz reagiert und antwortet nicht, wenn jemand nur daran interessiert ist, etwas Unangenehmes loszuwerden. Die Stunde wird langweilig und für mich ästhetisch gesehen nicht einladend. Wenn der Schüler reif und am Prozeß interessiert ist, aufrichtig und neugierig, dann findet eine Art Tanz statt, ein Austausch, der real und intim ist. Die reale Welt wird mehr zum Zentrum als die Welt der Persönlichkeit. Auch wenn Anliegen der Persönlichkeit aufkommen, werden sie aus der Perspektive der Wahrheit gesehen. Die Persönlichkeit hört sogar auf, eine Quelle der Irritation zu sein. Es entsteht eine Wertschätzung der Kompliziertheit und Komplexität, die der Prozeß des Verstehens ist, mit Liebe zum Tanz und zum Prozeß, und nicht der Intention, etwas loszuwerden. Diese Wertschätzung resultiert in wahrer Würde und Integrität durch die Bewußtheit der Persönlichkeit, ohne mit ihr mitzugehen. Ein Mensch, der sein Leiden erfährt, ohne ihm nachzugeben und in ihm verloren zu gehen, gewinnt an Schönheit. Wahrheit führt manchmal zur Beseitigung von Leiden, aber sie kann auch zu Schmerz führen. Wenn der Schüler die Perspektive von Liebe und Wertschätzung für die Wirklichkeit, für Wahrheit zuläßt – gleich ob sie Freude oder Leid bringt –, das Ergebnis wird ein Gefühl tiefer Intimität im Inneren sein. Ihr könnt intim mit euch selbst sein, was befriedigend und erfüllend ist, unabhängig davon, ob das Problem am Ende in Schmerz oder etwas Angenehmem resultiert. Entweder Schmerz oder Lust, Grollen darüber, daß ihr nicht bekommen habt, was ihr wolltet, oder ein gehobenes Gefühl, weil ihr euren Willen bekommen habt, können euch von der tieferen Bedeutsamkeit der Arbeit an euch selbst ablenken. Das ist die tiefere Befriedigung innerer Intimität. Diese innere Haltung der Wahrheit befreit uns von unseren gewöhnlichen kindlichen Begierden, Bedürfnissen, Träumen und Wünschen. Wenn man die Wahrheit und sich selbst in diesem Prozeß wertschätzt, dann übt man diese Intimität mit sich selbst, eine Fähigkeit und eine Erfüllung, die man vielleicht nicht für möglich gehalten hat. Diese Erfüllung ist ganz deutlich so viel wesentlicher, als gesehen zu werden, wichtig zu sein, sich besser als andere zu fühlen, Macht und Reichtümer zu haben – all die Dinge, nach denen wir gewöhnlich streben. Je mehr ihr diese Intimität fühlt, um so mehr versteht ihr, daß diese Begierden hohl sind. Auch wenn ihr all diese Ziele und die Befriedigung dieser Begierden erreichen würdet, wären sie niemals mit den Reichtümern des Herzens vergleichbar, eben dieser Intimität mit euch selbst.

 

Diese Perspektive von Liebe und Wahrheit ruft auch Demut hervor, nicht weil ein Mensch demütig sein möchte, sondern weil Demut ein Teil dieser Intimität ist, und sie ist sehr menschlich und befriedigend. Den eigenen Willen bekommen, Recht haben oder etwas bekommen, was man möchte, sind Teil des Lebens, aber diese Dinge stehen bei unseren tieferen Interessen nicht im Mittelpunkt, weil sie einen der Wahrheit nicht näher bringen, und auch nicht zu sich selbst.

Es liegt an jedem von uns zu entscheiden, welche Werte unser Leben beherrschen. Wir können unserem Leben erlauben, von dem Streben nach Lust beherrscht zu werden, Schwierigkeiten zu vermeiden oder zu versuchen sie loszuwerden, oder wir können zulassen, auf liebevolles Verstehen und auf Wahrheit konzentriert zu sein. Wenn wir darauf warten wollen, daß der Schmerz verschwindet, bevor wir Wahrheit wertzuschätzen oder Realität zu lieben bereit sind, wird es selten dazu kommen.

Ihr habt sicher Probleme, Themen, Konflikte und Mißverständnisse in eurem Leben und bei eurer Arbeit hier. Diese sind als nur ein Teil des Bildes zu sehen, nicht als den Brennpunkt und Kern unserer inneren Arbeit. Diese Dinge müssen behandelt werden, wenn sie eine Sperre bilden. Auch wenn ihr ein Thema anschaut, ist es wichtiger, sich auf die Mechanismen der Psyche (mind) zu konzentrieren, und zwar mit einer Haltung der Wertschätzung für den Prozeß des Verstehens. So geht es mehr um die Wahrheit, die das Thema für einen enthält, statt darum, das Problem loszuwerden. Das kann wie eine unbedeutende oder subtile Unterscheidung aussehen, aber es hat große Auswirkungen auf das Ergebnis der Arbeit. Die eine Perspektive ist dynamisch und lebendig, die andere bleibt statisch und langweilig.

Wenn ihr ein erfüllenderes Leben leben wollt, müßt ihr einen Geschmack für bestimmte Werte, einen Geschmack für Wahrheit und Verstehen, Tiefe und Bedeutsamkeit, Präzision und Feinheit, Würde und Integrität entwickeln. Die verfeinerten Werte sind eher subtil als grob. Sie führen zu einem verfeinerten menschlichen Leben, erfüllt von natürlicher Schönheit, farbig und reich. Alle diese Dinge sind immer da – ihr müßt sie nicht erlangen, ihr müßt sie nur wertschätzen. Ihr müßt anfangen, sie zu lieben, und euch auf sie hin orientieren, damit ihr euch die Zeit laßt und die Gelegenheit gebt, daß sie auftauchen können.

Es ist auch wichtig zu sehen, daß das Ergebnis der Orientierung auf Lösen von Problemen, Konflikten und Spannungen eine infantile Art Abhängigkeit vom Lehrer ist. Wenn der Schüler lernt, den Prozeß des Verstehens wertzuschätzen, und die Wahrheit unterstützt, dann ist der Schüler ein Erwachsener und steht mit seinem Lehrer auf gleicher Stufe. Sie erleben Zusammenarbeit und eine angenehme Interaktion, ein künstlerisches, kreatives Strömen. Die Welt ist voll von allen möglichen wunderbaren Dingen und schönen Feinheiten. Wenn dieser ganze Prozeß nicht auf die Perspektive, Probleme loszuwerden, fixiert und von ihr begrenzt ist, dann kann er – einschließlich des Problems – eine Quelle von Erfüllung werden.

Oft findet man eine Haltung vor, die man so beschreiben kann: „Nichts Gutes wird geschehen, bevor ich dieses Problem loswerde“. Diese Haltung schließt jede Offenheit für das, was im Moment entstehen kann, aus. Wenn alle Menschen schwermütig werden, die darauf warten, daß sie ihre Probleme lösen, dann bleiben keine glücklichen Menschen übrig. Wir sprechen von einem bestimmten Fokus, einer dauerhaften Sturheit, einer engstirnigen Sicht, nur das zu wollen, was man im Sinn hat, was man für gut hält. Man sagt dann: „Ich weiß, was am besten ist und ich verschließe meine Augen für alles andere, was es gibt.“ Das führt nur zu Leiden, Frustration und Spannung.

Ihr werdet viel mitfühlender und freundlicher, zu euch selbst wie auch zu anderen, wenn ihr einfach lernt zu entspannen. Fragt: „Was ist los? Warum mache ich mich selbst verrückt? Warum nicht entspannen und einen Tee trinken?“ Geht spazieren, vergeßt eine Weile alle Probleme. Warum glaubt ihr, daß es euch nur gut gehen kann, wenn es keine Probleme gibt? Warum müßt ihr warten, bis ihr erleuchtet seid? Wartet nicht darauf, daß der Mantel der liebevollen Freundlichkeit (loving kindness) auf eure Schultern fällt, bevor ihr nett zu euch selbst und anderen sein könnt. Warum darauf warten, daß er spontan fällt, damit ihr anfangen könnt, plötzlich alles richtig zu machen? So ist das menschliche Leben nicht. Ihr müßt an bestimmten Dingen arbeiten, Mühe aufwenden, euch hier und da mit Problemen auseinandersetzen. Es wird Freuden geben, Vergnügen und Erfüllung, was euch dabei helfen wird, mit den Problemen umzugehen.

Wer seid ihr, wenn ihr mit euren Problemen zu tun habt? Wenn ihr eure Mängel und Frustrationen seht, geht ihr mit ihnen mit Würde um oder mit Forderungen und einem Wutanfall? Habt ihr nur Interesse, euch zu beklagen, oder daran, euch die Zeit zu lassen zu lernen, was ihr lernen müßt, um mit Problemen intelligent zu arbeiten. Bestimmte Dinge müßt ihr einfach machen, bei anderen Dingen habt ihr nur die Möglichkeit, sie als Teil eures Lebens anzunehmen. Wenn das Dach undicht ist, dann ist es nicht intelligent, mit einem Wutanfall zu reagieren – man findet niemanden, der Schuld daran hat. Es ist eine Schinderei, aber es gibt bestimmte Dinge, die gemacht werden müssen, also macht man sie mit der richtigen Haltung zur rechten Zeit. Wenn ihr euch selbst unglücklich macht, euer Haus und eure Verpflichtungen haßt und euch fragt, warum Gott den Regen gemacht hat, endet ihr nur in Frustration. Ihr müßt akzeptieren, daß diese Dinge passieren und ihr müßt euch darum kümmern.