Lola auf der Erbse

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Lola auf der Erbse
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Annette Mierswa

Lola auf der Erbse


Mit Bildern von Stefanie Harjes


»In Liebe meinen Kindern Adrian und Carlo.«

Annette Mierswa

»Für meine kleine Lotti und die große Charlotte.

Mögest Du mutig Deinen Weg gehen.«

Stefanie Harjes

»Wunder werden wahr,

wir müssen sie schauen lernen.«

Ursa Paul


Lola auf der Erbse


Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Sonntag - Der Donnervogel

Montag - Ein dummer Plan

Dientag - Die wahre Geschichte

Mittwoch - Rêbin Kizilhan

Donnerstag - Geheimniskrämerei

Freitag - Das Gute-Zeiten-Kleid

Samstag - Der Brief

Leinen los!


Lola war nicht gerade ein gewöhnliches Mädchen. Eigentlich hieß sie Loretta Lachmann und wohnte mit ihrer Mutter auf der »Erbse«, einem Hausboot unten am Fluss. Sonderbar waren nicht nur Lolas rosarote Haare. Auch war sie mindestens einen ganzen Kopf kleiner als die anderen achtjährigen Mädchen in ihrer Klasse. Aber besonders ungewöhnlich war, dass sie ihren Hals niemals wusch, weil sie dort einen Schatz aufbewahrte, nämlich den letzten Kuss, den ihr Vater ihr gegeben hatte, bevor er sich in Luft auflöste.

Sie trug meist Kleider, die zu weit und unten abgeschnitten waren, und Turnschuhe mit einem weißen und einem schwarzen Schnürsenkel. Das sollte sie daran erinnern, dass ihr Vater ihr zuletzt gesagt hatte, alles habe zwei Seiten und sie solle immer darauf achten, beide zu sehen. Denn es gebe keinen Schatten ohne Licht, keinen schönen Tag ohne einen trüben und keine Mama ohne einen Papa. Lola hatte sich eine Weile gefragt, ob Mama nun, da Papa verschwunden war, keine Mama mehr wäre. Doch dann hatte Mama ihr erklärt, dass Papa im Gegenteil noch da sei, auch wenn sie ihn nicht mehr sehen könne. Deshalb sprach Lola mindestens einmal am Tag mit ihm. Es war ihr gleich, wo sie sich gerade aufhielt und was die Leute über sie dachten.

Außer ihrem Meerschweinchen Nadu hatte Lola nur einen einzigen guten Freund, und das war der alte Solmsen, der vom Frühjahr bis zum Herbst immer auf einer Holzbank vor seiner Hütte saß und auf den Fluss schaute. »Ich bin sicher, dass er irgendwann wiederkommt«, sagte er, wenn Lola sich nach der Schule zu ihm setzte und in die gleiche Richtung schaute. Sie wusste, dass er von seinem alten Kutter sprach, der eines Tages nach einem schweren Sturm spurlos verschwunden war und von dem man nie auch nur eine Planke gefunden hatte. »Morgen vielleicht«, freute er sich, »und dann kannst du erleben, wie viele Fische der alte Solmsen noch aus dem Wasser zieht.« Nur im Winter kam er nicht heraus, und Lola sah ihn erst im folgenden Frühjahr wieder auf seiner Bank sitzen. Er habe Winterschlaf gemacht, sagte er dann, und Lola freute sich, dass er zurück war.


Ihre Mutter hatte eine kleine Wäscherei in der Stadt und arbeitete vom Morgen bis zum späten Nachmittag. Sie war eine zierliche Frau mit einer energischen Nase und langem dunkelblondem Haar, das sie meist hochsteckte und mit einer Blüte verzierte. Sie hatte kräftige Arme und roch immer ein wenig nach Chlor. Glücklicherweise liebte Frau Lachmann Blumen. Sie überwucherten das Boot, sprossen aus unzähligen Kübeln und Töpfchen und waren in allen Räumen zu finden, sogar im Badezimmer. Der Duft der Blumen milderte den Chlorgeruch.

Noch bis vor Kurzem war Lola nach der Schule immer zu ihrer Mama in die Wäscherei gegangen, wo eine Leiter hinauf in ihr kleines Reich führte. Die für sie eingebaute Hochebene war so niedrig, dass Lola sich dort nur sitzend und liegend aufhalten konnte. Hier hatte sie an einem kleinen Tisch ihre Hausaufgaben gemacht und sich Brettspiele ausgedacht, die sie auf große Bögen Papier malte und anschließend alleine spielte.

Doch da sie viel lieber zum alten Solmsen ging, um mit ihm den Fluss zu beobachten und seinen Geschichten zu lauschen, hatte Frau Lachmann ihrem Drängen nachgegeben. Nun würde Lola nur noch im Winter in die Wäscherei kommen, die daher einen neuen Namen bekam: Winterquartier.

Von der Schule zum »Winterquartier« brauchte Lola zu Fuß eine Viertelstunde, bei der Hütte vom alten Solmsen war sie schon in zehn Minuten, obwohl es bergauf ging. Von dort oben hatte man den schönsten Blick auf den Fluss. Rechter Hand lag der Ort, umrahmt von einer Allee aus großen alten Pappeln. Das höchste Bauwerk war der Kirchturm, dessen Glocken alle fünfzehn Minuten läuteten. In Blickrichtung wurde der Ort durch den Fluss begrenzt, der ein paar Kilometer weiter ins Meer mündete. Das konnte man jedoch nur erahnen, denn der große Wald, der sich hinter dem Ort über eine Anhöhe erstreckte, versperrte die Sicht. Linker Hand lag der Hafen. Zwei Dutzend Fischkutter, ein paar größere Flusskähne und eine Handvoll Segelschiffe hatten dort ihren Liegeplatz. Und geradeaus, am Fuße des Hügels, lag die »Erbse« fest vertäut, auf der Lola die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Sie sah aus wie ein schwimmender Blumenladen. Die leuchtenden Punkte der Blüten spiegelten sich bei Windstille im Wasser und ließen einen Garten daraus werden. Ursprünglich war das Boot ein Flusskahn gewesen, der mit kaputtem Motor nutzlos im Hafen gelegen hatte. Bis Herr Lachmann ihn günstig gekauft und zum schwimmenden Haus umgebaut hatte. So wurde Lola an einem sonnigen Sommertag auf dem Kahn geboren, bei leichtem Wellengang und mit den Füßen voran. Die sanften Bewegungen des Bootes, das Schaukeln und Plätschern waren ihr so vertraut, dass sie nur schwer einschlafen konnte, wenn sie die Ferien mit ihrer Mutter an Land verbrachte. Es beunruhigte sie, wenn es starr und still um sie war.


Wenn Frau Lachmann gegen Abend nach Hause kam, hatte Lola den Tisch schon gedeckt und die Hausaufgaben gemacht. Zumindest sagte sie das, denn dann freute sich Frau Lachmann. Und das war Lola besonders wichtig. Deshalb erzählte sie ihr auch meistens nichts davon, wenn die anderen Kinder sie gehänselt hatten. Derlei Vorkommnisse machte sie gewöhnlich mit sich selbst aus, damit ihre Mutter keinen Grund hatte, schlechte Laune zu bekommen. Denn wenn sie schlechte Laune bekam, dann ging es auch Lola schlecht, schließlich liebte sie ihre Mutter.

Lola war eine gute Schwimmerin. »Wer auf dem Wasser lebt, muss schwimmen können wie ein Fisch!«, hatte ihr Vater gesagt und es ihr beigebracht, als sie gerade fünf Jahre alt gewesen war. Aber der Fluss war kein Schwimmbad, und es gab Gefahren durch die Strömung oder vorbeifahrende Schiffe, die unvorhersehbar waren. Deshalb hatte Frau Lachmann ihr strengstens verboten, an der Reling herumzuturnen. Nur gut, dass der alte Solmsen immer auf seiner Bank saß und zum Fluss hinunterblickte. Er hatte zwar kein Telefon, aber eine sehr durchdringende Trillerpfeife, die jeder im Umkreis von einem Kilometer hören konnte. Und die Leute wussten: Wenn Solmsen pfiff, dann musste etwas Ernstes passiert sein.

Das Fenster zu Lolas Zimmer konnte man schon von Weitem erkennen, denn es war mit goldener Farbe ein Rahmen darum gemalt. Wenn Lola aus dem Fenster schaute und sich nicht bewegte, hätte man meinen können, jemand habe ein Bild an der Außenwand der »Erbse« aufgehängt.


In der ersten Klasse war Lola von ihren Mitschülern noch dauernd gehänselt worden: weil ihr Hals so gräulich schimmerte, ihre Kleider so komisch aussahen, weil sie immer ein dickes Kissen auf ihrem Stuhl brauchte, damit sie die Lehrerin sehen konnte, und weil sie oft so seltsam vor sich hin brabbelte. Es gab genug Gründe, sich über Lola lustig zu machen, denn sie war einfach anders als die anderen. Aber da sie sich nie etwas daraus gemacht hatte, was die anderen über sie sagten, verloren die Mitschüler bald den Spaß daran und beachteten sie einfach nicht mehr. Auch der Klassenlehrerin fiel es schwer, Lola genauso zu behandeln wie ihre Mitschüler. Sie musste sich eingestehen, dass sie dem Mädchen einfach nicht so viel zutraute, weil Lola so klein war und sich so sonderbar benahm. Dabei fiel sie nie unangenehm auf und war auch keine besonders schlechte Schülerin. Das Rechnen bereitete ihr zwar große Mühe, denn dass beim Malnehmen von zwei bestimmten Zahlen immer das Gleiche herauskam, fand sie langweilig. Und auch der Sportunterricht machte ihr keinen Spaß, weil sie nicht so schnell laufen, nicht so hoch springen und nicht so weit werfen konnte wie die anderen Kinder. Sie dachte sich so oft wie möglich Entschuldigungen aus, die der Sportlehrer nie infrage stellte. Er war froh, wenn er nicht auf Lola achtgeben musste, denn so kam er mit dem Unterricht schneller voran. Aber Fächer wie Kunst, Deutsch oder Religion machten ihr Spaß. Dort wurden Fragen gestellt, die mit »Glaubt ihr, dass …« oder »Was würdet ihr tun, wenn …« anfingen. Dennoch konnte man nicht gerade sagen, dass Lola gerne zur Schule ging.

 

Viel lieber saß sie neben dem alten Solmsen auf seiner Bank, hielt nach seinem Kutter Ausschau und dachte nach. »Meinst du, Papa erinnert sich noch an den Fluss? An das Rauschen und an die fischige Luft?«, fragte sie zum Beispiel, ohne den suchenden Blick vom Horizont abzuwenden. »Klar!«, antwortete der alte Solmsen dann. Ja, das waren die Momente, in denen Lola wirklich glücklich war.

Bis eine Woche alles veränderte.



Es war ein Sonntag im August, und der Himmel war blau, als Frau Lachmann ihrer Tochter einen Karton überreichte. »Überraschung!« Lola öffnete den Karton und blickte auf ein rotes Paar Sandalen. »Zieh sie an!«, sagte ihre Mutter, »wir werden heute etwas Besonderes unternehmen.« Lola sah ihre Turnschuhe mit den schwarz-weißen Schnürsenkeln lange an und schüttelte dann den Kopf.

»Deine Schuhe sind dir doch zu klein geworden«, sagte Frau Lachmann, »und diese hier sind auch viel schöner.«

»Sie haben aber Schnallen.«

»Findest du nicht, du könntest mal was Neues ausprobieren?«

»Nein.«

Frau Lachmann nahm Lola den Deckel aus der Hand und schloss den Karton wieder.

»Also gut«, sagte sie, »aber mach nicht so eine Schnute, wenn wir heute in den Zoo gehen!«

»In den Zoo?!« Lola strahlte ihre Mutter an, kletterte auf einen Stuhl und fiel ihr um den Hals. »Dafür würde ich sogar ausnahmsweise die neuen Schuhe anziehen. Aber morgen trage ich wieder die Turnschuhe.«

»Abgemacht.«

Lola zog sich die Sandalen an und hüpfte auf dem Boot herum. Sie konnte es kaum erwarten! Das letzte Mal war sie vor über drei Jahren in den Zoo gegangen. Damals war Papa noch dabei gewesen. Er hatte sich vor dem Orang-Utan-Käfig die Mütze ins Gesicht gezogen, den Kopf nach vorne gestreckt und mit hängenden Armen, laut brüllend und auf der Stelle hüpfend die Affen nachgemacht, die sich genauso verwundert angesehen hatten wie Lola und ihre Mutter. Erst als Frau Lachmann ihm eine Banane gab, mit der er auf eine Bank hüpfte, waren alle in ein lautes Gelächter ausgebrochen. Ja, das war ein wunderschöner Tag gewesen, vielleicht sogar der schönste des ganzen Jahres.


»Wann gehen wir endlich?«, fragte Lola alle paar Minuten, bis ihre Mutter sagte: »Wir werden gleich abgeholt.«

»Abgeholt?? Aber wer holt uns denn ab?«

»Kurt. Er ist sehr nett. Du wirst ihn mögen. Er ist Tierarzt. Er hat einen Hund, zwei Katzen und Hühner. Die legen richtige Eier, und er will uns ein paar mitbringen.«

Lola war sprachlos. Ein Mann, den sie nicht kannte, kam, um sie und ihre Mutter abzuholen und in den Zoo zu gehen. Und er wollte Eier mitbringen. Das gefiel ihr überhaupt nicht. So was tun doch nur Papas! Sofort zog sie die Sandalen aus und ihre alten Turnschuhe wieder an.

»Was hast du denn?«, fragte Frau Lachmann.

Aber Lola gab keine Antwort. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie hatte so ein komisches, mulmiges Gefühl. Und sie wollte unbedingt mit Papa reden. Deshalb lief sie in ihr Zimmer und schloss die Tür.


»Papa, gleich kommt ein Mann, den ich nicht kenne. Der heißt Kurt. Du musst unbedingt auf Mama aufpassen. Sie kann doch nicht einfach mit einem Fremden mitgehen. Und dass er Eier mitbringen will, ist bestimmt nur ein Trick, weil ich die doch so gern esse. Ich will nicht, dass Mama ihm Sachen von mir erzählt! Das geht doch niemanden etwas an, ob ich gerne Eier esse oder nicht. Nur Mama und dich natürlich. Ich werde ihm einfach sagen, dass ich Eier nicht ausstehen kann. Vielleicht geht er dann ja wieder. Er muss ja irgendwohin mit den Eiern. Und dann können Mama und ich mit dem Bus zum Zoo fahren.«

Es klopfte.

»Lola, mach bitte auf. Kurt ist da. Er möchte dich kennenlernen. Und wir wollen doch gleich los.«

Lola öffnete die Tür und machte eine finstere Miene. Neben ihrer Mutter stand ein großer Mann mit strahlend blauen Augen, einem weiten, bunt gemusterten Hemd und einem kleinen Päckchen in der Hand. Er roch nach Hund, und Lola fragte sich einen Moment lang, ob sie wohl nach Meerschweinchen roch. An seiner Hose hafteten unzählige kurze dunkle Haare. Er selbst hatte blondes Haar, das am Vorderkopf in die Höhe stand, als hätte er zu viel Wind abbekommen. An seinem linken Ohrläppchen glänzte ein silberner Ohrstecker in Form eines Vogels mit ausgebreiteten Flügeln. Er streckte Lola die freie Hand entgegen und beugte sich zu ihr herunter. »Hallo, gnädiges Fräulein. Ihr Chauffeur steht zu Diensten.« Er grinste breit. Sein Mund war so groß, dass das Grinsen von einem Ohrläppchen zum anderen reichte.

»Sie können Ihre Eier behalten«, antwortete Lola, ohne ihm die Hand zu geben.

»Lola!«, mahnte Frau Lachmann.

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Kurt und hielt Lola das kleine Päckchen vor die Nase. »Das ist für dich. Glücklicherweise sind es keine Eier, denn mein Auto ist als Eiertransporter untauglich. Es eignet sich höchstens als Rührei-Transporter.« Er lachte mit kräftiger Stimme. »Aber ich hoffe, das hier wird dir gefallen!«

Lola rührte sich nicht. Kurt stellte das Päckchen auf einem kleinen Tisch in ihrem Zimmer ab und sagte: »Dann wollen wir mal losfahren! Ich habe den Motor laufen lassen. Man weiß bei meinem Schätzchen nie, ob es wieder anspringt.«

Schweigend folgte Lola den beiden an Land. Doch mitten auf dem Steg blieb sie wie vom Donner gerührt stehen. Für einen Augenblick vergaß sie zu schmollen und starrte gebannt das riesengroße Auto an, das am anderen Ende der Brücke stand. Es ähnelte nicht im Entferntesten den Fahrzeugen, die Lola kannte. Es sah aus wie ein Papagei im Sturzflug. Die obere Hälfte war gelb, die untere rot lackiert. Am hinteren Ende und an den Seiten hatte es Fortsätze, die an Flügel oder Flossen erinnerten, und von vorn schien es, als ob das Auto ein riesiges Maul aufsperrte und große runde Augen hervorquollen. Das Verdeck war zurückgeschlagen und die Sitze mit dunkelrotem Leder bespannt. Es knatterte und spotzte und hüllte einige Passanten, die herangekommen waren, um das Auto aus der Nähe zu betrachten, in eine dunkle Wolke. Kurt bemerkte Lolas Erstaunen und sagte, während er einen Kotflügel streichelte: »Das ist neben meinem Hund mein liebstes Haustier – ein ›Thunderbird‹, auf Deutsch ›Donnervogel‹. Er ist zahm, aber sehr gefräßig, stinkt und macht Krach. Am schönsten ist es, mit ihm Gassi zu fahren.«


Beinahe hätte Lola sich anmerken lassen, dass sie den »Donnervogel« sehr aufregend fand, aber ihre Mundwinkel blieben starr, und sie schaute schnell in eine andere Richtung.

»Ihr müsst euch wohl noch etwas beschnüffeln«, sagte Kurt und machte eine einladende Handbewegung zur Tür hin, die er ihr aufhielt. Schweigend stieg Lola ein, und schweigend verbrachte sie die Stunde Fahrt bis zum Zoo. Der Wind zerzauste ihr das Haar, und wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich vorstellen, mit dem alten Solmsen den Fluss hoch zu schippern. Das war wunderbar. Öffnete sie aber die Augen, sah sie ihre Mama, die heute besonders hübsch war. Ihre frisch gewaschenen Haare wehten im Wind, sie hatte die Lippen geschminkt, und ihre Bluse duftete nach etwas, das Lola das letzte Mal vor langer Zeit gerochen hatte. Sie schien sich blendend zu unterhalten. Sie lachte und erzählte, und ihre Hände waren die ganze Zeit in Bewegung, um mit großen Gesten das, wovon sie gerade sprach, zu beschreiben. Es sah tatsächlich so aus, als ob es ihr so gut ging wie schon lange nicht mehr.

»Warum habt ihr mich eigentlich mitgenommen?«, fragte Lola, als sie aus dem Auto stiegen.

Ihre Mama beugte sich zu ihr herunter, legte ihre Hände auf Lolas Schultern und sah ihr in die Augen. »Weil ich dich liebhabe, du Dummerchen.«

Lola machte sich ganz steif und sah zu der Schlange an der Kasse hinüber. Kurt schob sich in ihr Blickfeld. »Der Tiger hat heute Geburtstag, und du bist eingeladen«, sagte er. »Eigentlich hat er sich eine neue Badehose gewünscht, aber ich …«

»Ich bin fast neun, Herr Donnervogel, und ich glaube nicht mehr an den Weihnachtsmann.«

Lola marschierte zum Zooeingang und reihte sich in die Schlange der wartenden Personen ein. Ihre Mama sah mit einem Mal gar nicht mehr so glücklich aus. Sie richtete sich auf, folgte Lola und knuffte sie in die Seite: »Nun komm schon, Lola. Wir gehen in den Zoo. Der Himmel ist blau. Es ist ein wunderbarer Tag. Lass uns ein wenig Spaß haben, ja?«

Lola wurde wieder ganz steif. Sie sagte nichts, aber sie musste an Papa denken. Es war eben doch einer von den trüben Tagen.

»Ich lade euch ein«, sagte Kurt. Und mit Blick auf Lola: »Auf eigene Gefahr.«

Als die Frau an der Kasse Lola sah, sagte sie lächelnd zu ihr: »Na, meine Kleine, du kostest noch nichts.«

»Ich bin acht Jahre alt, und auf der Tafel da oben steht, dass Kinder ab sechs Jahren fünf Euro Eintritt zahlen.«

Die Frau an der Kasse war so überrascht, dass sie sich an Kurt wandte, der schon den Geldbeutel in der Hand hatte: »Also entschuldigen Sie, Ihre Tochter …«

»Sie hat ja recht«, sagte er lachend, »wir wollen doch niemanden betrügen.«

Die Frau an der Kasse räusperte sich, als ob sie einen Krümel im Hals hätte, und sagte dann: »Also achtzehn Euro bitte.«

Kurt bezahlte, immer noch grinsend.

Lola ging schon ein paar Meter voraus, damit man ihr nicht ansah, wie verärgert sie war, und murmelte vor sich hin.

»Hast du das gehört, Papa? Und Mama hat gar nichts gesagt. Sie stand einfach daneben und hat geschwiegen, als ob alles in Ordnung wäre. Das geht doch nicht. Sie muss doch sagen, dass ich nicht Kurts Tochter bin. Das war doch eine Lüge. Wie kann sie nur so gemein sein … Ich werde immer zu dir halten, Papa, das verspreche ich dir. Wir werden es denen schon zeigen.«

Schweigend liefen sie durch den Zoo. Jedes Mal wenn Frau Lachmann ihrer Tochter über das Haar streichen wollte, wie sie es sonst immer tat, wich Lola aus und ging ein paar Meter voraus oder blieb ein Weilchen stehen. Die vielen Familien um sie herum schienen heute besonders laut zu reden und zu lachen.


Kurt war keine Verstimmung anzumerken. Hin und wieder deutete er auf die Tiere, an denen sie vorbeiliefen, und erklärte zum Beispiel, dass Koalas keine Bären, sondern Beuteltiere seien, wie die Kängurus, oder dass das Meerschweinchen Meerschweinchen heiße, weil es ursprünglich aus seinem Heimatland über das Meer nach Europa gebracht worden war und außerdem wie ein Ferkel quieke.

Als sich ihre Blicke trafen, lachte Kurt Lola an und sagte: »Na, junge Dame, wollen wir Orang-Utans kitzeln gehen?«

 

Lola schüttelte den Kopf und sah in eine andere Richtung. Sie dachte an Papa, wie er hüpfend den Affen nachgeahmt hatte. Ein paar Tage später war er verschwunden. Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung. Auch an jenem Tag war der Himmel blau gewesen. Nur aus Mamas Augen hatte es geregnet. Sie hatte eine Sonnenblume im Haar gehabt, und ihr Mund hatte Lola angelächelt. Aber aus ihren Augen hatte es den ganzen Tag geregnet. Jetzt waren schon drei Jahre vergangen, und Papa war immer noch nicht zurückgekommen. Und nun platzte dieser Kurt herein und tat so, als wäre er Papa. Was wollte der eigentlich? Warum war er so an Mama interessiert? Und was um alles in der Welt wollte er von ihr, Lola? Warum hatte er ihr ein Geschenk mitgebracht? Sie hatte doch gar nicht Geburtstag. Was wohl in dem Päckchen drin war? Neugierig war sie schon, aber sie wollte lieber nichts von Kurt annehmen, sonst müsste sie ihm womöglich etwas zurückgeben. Er sollte sich bloß nicht einbilden, dass er sie so leicht für sich gewinnen konnte. Sie musste vorsichtig sein! Und auf Mama würde sie auch aufpassen müssen. Wer weiß, womit er die rumgekriegt hatte? Sie war ja wie ausgewechselt.

Sie standen zu dritt vor dem Käfig der Orang-Utans und beobachteten ein Affenbaby dabei, wie es mit einem alten Sack spielte und dabei auf dem Bauch eines ausgewachsenen Affen herumtollte. Kurt sagte: »Die Menschen aus Malaysia, wo die Orangs frei leben, dachten früher, dass diese rothaarigen Wesen mit dem dicken Bauch und den langen Armen Menschen seien. Darum gaben sie ihnen den Namen Orang-Utan, das heißt Waldmensch.«


»Er redet wie ein Lehrer«, dachte Lola, sah sich die Affen aber genauer an, wie sie über den gekachelten Boden rutschten und in Autoreifen schaukelten, die an langen Seilen befestigt waren.

»Diese hier müssten ›Käfigmenschen‹ heißen«, dachte Lola.

»Ob Kurt wohl weiß, wie man das übersetzt?«

Aber sie fragte nicht. Eher hätte sie sich die Zunge abgebissen.

»Schaut mal!«, rief Kurt plötzlich. »Der Pfau da vorne auf der Wiese schlägt ein Rad.«

Lola drehte sich rasch um, sah den Pfau und vergaß darüber alles, was ihr gerade durch den Kopf gegangen war. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen. Der Pfau stolzierte genau vor ihr auf einer umzäunten Wiese herum, und sein Federrad stand wie ein leuchtendes Feuerwerk in die Höhe. Unzählige türkise Augen schillerten in der Sonne. Lola war wie verzaubert.

»Oh, hat der schöne Federn«, sagte sie, »so eine hätte ich gerne.«

Sofort sprang Kurt über den Zaun und näherte sich gebückt dem Pfau, der flügelschlagend zurückwich und dabei einige Federn verlor. Kurt sammelte sie auf und kehrte strahlend mit den Trophäen zurück.

»Hier, Lola, die schenke ich dir.«

Lola zögerte, doch dann nahm sie die drei Federn. Dabei machte ihr Herz einen Hüpfer, so wundervoll waren sie. Sie musste sehr aufpassen, damit sie nicht noch anfing, Kurt zu mögen. Denn das hatte sie Papa versprochen. Sie lief vor ihrer Mutter und Kurt her, damit diese ihre Augen nicht sehen konnten, die vor Freude glänzten, und betrachtete das wechselnde Farbspiel der Pfauenfedern.

»Ach Papa, sind die nicht schön?!«, seufzte sie.


Während sie weiter durch den Zoo spazierten, trug Lola die drei Federn stolz vor sich her, sodass alle Menschen, die ihnen entgegenkamen, die schillernden Pfauenaugen bewundern konnten. Lola zeigte sie den Giraffen, die ihre Köpfe über die Absperrung streckten, dem Faultier, das sich kaum merklich bewegte, und den Ziegen, die neugierig zum Zaun kamen, bis der Bock sie auseinanderscheuchte.

Als sie wieder im »Donnervogel« saßen, schloss Kurt die Federn im Kofferraum ein, damit sie nicht davonfliegen konnten. Aber als er den Zündschlüssel herumdrehte, sprang das Auto nicht an, es gab lediglich ein jämmerliches Kreischen von sich. Kurt pfiff durch die Zähne. Dann lehnte er sich zurück und sagte mit Blick auf das Armaturenbrett: »Madame hat wohl einen schlechten Tag. Wahrscheinlich ist es ihr zu stickig heute.« Er stieg aus, ging um das Auto herum und strich zärtlich über die Kotflügel. »Komm schon. Das Stündchen Fahrt schaffst du doch locker. Lass uns nicht hängen.« Noch ein Klaps auf die Motorhaube, dann stieg er wieder ein und versuchte es erneut. Und tatsächlich: Der Motor sprang an. Lola grinste in sich hinein. Ihre Mutter lachte und klopfte Kurt auf die Schulter. Aber während der Fahrt musste Lola wieder an ihren Vater denken. Sie schloss die Augen, ließ sich vom Wind streicheln und stellte sich vor, dass er hinter dem Steuer saß und ab und zu in den Rückspiegel sah, um Lola zuzuzwinkern.

Als sie an der »Erbse« ankamen, sagte Lola zu ihrer Mutter: »Ich muss noch zum alten Solmsen. Der wartet bestimmt auf mich. Leg die Federn bitte auf mein Bett!«

Lola gab ihr einen Kuss auf die Wange und sprang aus dem Auto. Sie zögerte einen Augenblick, drehte sich um, winkte Kurt zu, und schon rannte sie den Hügel hinauf zum alten Solmsen, der vor seiner Hütte auf der Bank saß. Sie setzte sich zu ihm, rückte dicht an ihn heran und blickte wie er auf den Fluss.

»Na, mein Mädchen, bist heute spät dran. Die Fischer sind schon draußen«, sagte der alte Solmsen.

»Ich war im Zoo«, antwortete Lola und seufzte, als ob es schrecklich gewesen wäre.

»Ich glaube, ich hab euch wegfahren sehen. Meine Augen sind allerdings nicht mehr die besten. Und? Alles in Ordnung?«

»Nein, nichts ist in Ordnung.«

Nach einer Weile sagte der alte Solmsen: »Sieh dir den Fluss an, wie aufgewühlt der heute ist, als würde er sich über die Menschen ärgern, die auf ihm fahren und in ihm fischen.«

»Kann ich verstehen.«

»Dabei lieben die Menschen hier den Fluss. Sie brauchen ihn und wollen nur sein Bestes. Sie wehren sich dagegen, ihn begradigen zu lassen, und setzen sich für ihn ein, wenn jemand sein Wasser verschmutzt.«

»Na, da hat’s der Fluss ja ganz schön gut.«

»Eben.«


Lola kam nach Hause, als der Himmel sich im Licht der sinkenden Sonne rosa färbte. Die »Erbse« schwebte in einem Meer aus Sonnenfunken, die auf dem Wasser tanzten. Ihre Mutter saß auf dem Oberdeck inmitten eines Blütendschungels im Liegestuhl. Ihre Haare waren wieder hochgesteckt und mit einem Lavendelzweig verziert. Sie hatte ein großes Fotoalbum auf dem Schoß. Lola setzte sich zu ihr, und ihre Mama legte den Arm um sie.

»Schau mal, Lola, wie süß du auf diesem Foto aussiehst. Diese dicken Bäckchen, und hier dein erster Zahn. Damit hast du mich manchmal in die Hand gebissen, und stell dir vor, es tat richtig weh.«

Frau Lachmann lächelte und hob eine Hand, so als könne man immer noch den Abdruck des Zahnes darauf erkennen.

Wo ist er jetzt?«, fragte Lola.

»Ich glaube, in der alten Zuckerdose, in der ich auch ein paar Locken von dir aufbewahre.«

»Nein, ich meine Kurt«, sagte Lola unwirsch.

»Ach so.« Ihre Mama blätterte die Seite des Fotoalbums um. »Er ist nach Hause gefahren. Er wollte seinen Hund nicht so lange alleine lassen.«

»Hast du die Federn?«, fragte Lola.

»Ja, Auftrag ausgeführt. Sie liegen auf deinem Bett.«


Lola lächelte, kuschelte sich an ihre Mama und vergrub den Kopf unter ihrem Arm. Aus dem Augenwinkel betrachtete sie die Fotos, die sie gut kannte. Als sie die Bilder von ihrem Urlaub am Meer sah, seufzte sie tief. Damals war sie gerade drei Jahre alt gewesen. Papa, wie er in die Kamera lachte, Mama, wie sie mit Lola auf dem Arm im Wasser stand. Papa, wie er mit Lola auf dem Rücken herumgaloppierte und wie er bis zum Hals im Sand eingegraben war und Mama ihm mit ihren Händen Hasenohren machte. Sie seufzte noch einmal.

»Man fotografiert immer nur, wenn man glücklich ist«, sagte ihre Mama. »Und man erinnert sich auch lieber an die schönen Momente. Aber du weißt doch, was Papa gesagt hat, es gibt kein Licht ohne Schatten und keinen schönen Tag ohne einen schlechten …«

»Einen trüben. Einen trüben hat er gesagt«, verbesserte Lola. »Außerdem sagst du das nur, damit ich nett zu deinem Kurt bin.« Sie sah ihre Mutter aus zusammengekniffenen Augen an. »Heute haben wir keine Fotos gemacht.«

Sie drehte sich um, ging in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie öffnete den Deckel von Nadus Käfig und legte eine Hand sachte auf den weichen Körper des Meerschweinchens, das leise fiepte. Vor ihrem Fenster verschmolz die Sonne mit der Wasseroberfläche, und durch das goldene Licht zog ein Fischkutter mit gerafften Netzen, dem kreischende Möwen folgten.


Auch in Lolas Zimmer war das Fenster mit einem gemalten Rahmen verziert. Früher hatten ihre Eltern es als Kasperletheater benutzt, denn direkt unterhalb des Fensters verlief die Reling um das Boot herum. Man konnte sich gut dahinter verstecken und Handpuppen in die Öffnung halten. Papa hatte immer den Zauberer gespielt, der alles und jeden verschwinden ließ.

»Hokus lokus fidibus,

dreimal schwarzer Rabenfuß,

viermal grüner Haferschleim,

bist nicht hier, bist nicht daheim.

Zauber, nehme deinen Lauf:

Schnell in Luft löse dich auf!«

Dabei hatte er mit der freien Hand an die Schiffswand gedonnert und seine Stimme erhoben. Am Ende hatte der Kasper immer dafür gesorgt, dass alles Verschwundene wieder auftauchte: der Seppel, die Zauberblume, der Luftballon oder die Prinzessin.

Aber das Fenster wurde schon lange nicht mehr als Kasperletheater genutzt. Jetzt stellte Frau Lachmann immer Blumentöpfe davor, die wie ein Stillleben im Rahmen standen. Es sah aus, als ob der Fischkutter am Horizont gerade von den Margeriten zu den Vergissmeinnicht unterwegs wäre. In einem Regal hatte Lola eine Sammlung kleiner Kakteen aufgestellt. Einige von ihnen blühten. Lola gefiel es, dass sie selten gegossen werden mussten. Und dass sie Stacheln hatten, fand sie sehr schlau. So würde niemand auf die Idee kommen, ihnen wehzutun.

»Warum haben Kinder keine Stacheln, wo man ihnen doch so leicht wehtun kann?«, hatte sie Mama einmal gefragt.

»Kinder können auch Stacheln haben, man kann sie nur nicht sehen«, hatte Mama geantwortet.

Lola war daraufhin sehr vorsichtig gewesen, damit sie anderen Kindern nicht zu nahe kam. Aber da bei zufälligen Berührungen nie etwas passiert war, vergaß sie die Vorsicht irgendwann wieder.


Neben dem Regal mit den Kakteen stand eine Kommode und darauf ein Bilderrahmen, den Lola mit Muscheln beklebt hatte. In dem Rahmen klemmte ein Foto ihres Vaters, das letzte, das vor seinem Verschwinden aufgenommen worden war. Lola hatte es selbst geschossen. Ihr Papa stand etwas schief im Bild, sein rotbraunes Haar war wild zerzaust von einer lustigen Balgerei kurz zuvor, ein herzhaftes Lachen lag auf seinen Lippen, und in der Hand hielt er ein zerknautschtes Kissen, aus dem die Federn rieselten.

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