E. T. A. Hoffmann. 100 Seiten

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E. T. A. Hoffmann. 100 Seiten
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Alexander Kluy

E. T. A. Hoffmann. 100 Seiten

Reclam

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2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net

Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing

Bildnachweis: CC BY-SA 4.0 / Staatsbibliothek Bamberg; Autorenfoto: © Filippo Cirri.

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961902-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-20555-1

www.reclam.de

Inhalt

  Bild: E. T. A. Hoffmann im Selbstporträt.

  Riss und Riss

  Wege und Umwege. 1776–1808

  Windbeutel und Lebensliebe. 1808–1813

  Dresden und Leipzig. 1813–1814

  »In dem teuern Berlin«. Ab 1814

  Serapiontisches

  Die Katze, die spricht

  Komödie? Tragödie? Tod? Ewigkeit

  Lektüretipps

  Bildnachweis

  Zum Autor

  Über dieses Buch

  Leseprobe aus Theodor Fontane. 100 Seiten


E. T. A. Hoffmann im Selbstporträt. Hier in einem Kupferstich von Karl Ludwig Buchhorn nach der im Original nicht erhaltenen Kreidezeichnung (1823)


Riss und Riss

Diese Aussicht gibt es nicht mehr. Niemand kann mehr den Kopf herausstrecken. Keiner kann aus dem Hausfenster im zweiten Stock schauen, begierig auf Neues, auf die Welt, auf Neues aus und in der Welt. Denn das Gebäude steht nicht mehr. Es wurde im Jahr 1905 abgerissen.

90 Jahre zuvor.

Taubenstraße No. 31, Ecke Charlottenstraße. Berlin 1815. Auf einer Skizze, als »Kunzischer Riss« bekannt geworden, skizzierte Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, 39, seinem Bamberger Weinhändler-und-Verleger-Freund Carl Friedrich Kunz, 30, seine neue Wohnung in der noblen Friedrichstadt. Bezogen hatte er sie kurz zuvor, am 1. Juli 1815. Vier Zimmer besaß das repräsentative Appartement in 1-a-Lage, »in dem besten schönsten Theil der Stadt, am GensdarmesMarkt gerade [gegen]über dem neuen Theatergebaüde und ganz hübsch eingerichtet«, so Hoffmann stolz. 126 Quadratmeter maß sie, hatte wie damals üblich keinen Abort, das Haus ungewöhnlicher Weise auch keinen Abtritt im Hof, dafür gab es Nachttöpfe, die aus dem Fenster auf die Straße entleert wurden.

Bei dem gezeichneten Brief, einer Art Grundriss, ging Hoffmann die Phantasie durch. Kunz kannte das zur Genüge von dem phantasievollen Erzähler und Pokulier-, also Zechrunden-Unterhalter. Hoffmann schaute über das Gewirr von Straßen und Plätzen, er erblickte reale Gestalten und Figuren aus seinen eigenen Dichtungen. Der Zeichner wurde zum Erfinder wirklicher wie unwirklicher Begebenheiten und Geschichten.

Diese Bleistiftzeichnung, 25 cm auf 39,5 cm messend, war Hoffmann in nuce. Aber sie war nicht naiv – einige Wochen zuvor hatte Hoffmann ähnliche Einblicke in Der Dey von Elba in Paris bereits vor- und nachgestellt. Ein Türmer »in der Hauptstadt« (Berlin? Berlin!) erkundet mit einem magischen Fernrohr von erhöhtem Standort die Wohnungen und beschreibt, was er darinnen sieht und was er hört. Diese Darstellungsweise übertrug Hoffmann, der diese Perspektive aus einem seiner Lieblingsromane, aus Le diable boiteux (Der hinkende Teufel, 1707) des bretonischen Notarsohnes Alain-René Lesage (1668–1747), kannte, auf die Zeichnung (300 Jahre nach Lesage, 1910, sah man auf dem Umschlag des ersten Fantômas-Romans von Pierre Souvestre und Marcel Allain: den Superverbrecher über den Dächern der Stadt; und 1975 hieß ein Jean-Paul Belmondo-Film Peur sur la ville, Angst über der Stadt).


Der »Kunzische Riss«, Feder auf Papier, 1815

Was sieht man nun?

Da steckt Hoffmann seinen Kopf aus dem Fenster seines Arbeitszimmers heraus und bläst eine Rauchwolke in Richtung seines besten Freundes und liebsten Trinkkumpans, des populären Schauspielers Ludwig Devrient (1784–1832), der gleich nebenan wohnte. Auf dem Gendarmenmarkt tratschen ihre Waren feilhaltende Gemüseweiber miteinander. Von der Taubenstraße nähert sich ein Gefährt, darinnen der Baron Fouqué (1777–1843), namhafter Schriftsteller und Verfasser des Undine-Märchens, das Hoffmann vertonte und das als Oper ein Jahr später, 1816, im Nationaltheater, das damals seit fünf Jahren auf den Theaterzetteln als »Königliches Schauspiel« aufschien, direkt gegenüber, uraufgeführt werden sollte. Ganz rechts oben hat – ein derbvulgärer Kontrast – ein »Anonymus« die Hose auf die Knöchel sinken lassen und entleert seinen Darm vor dem Kammergericht. Justament dort! Denn ebenda ging der Richter Hoffmann nicht wirklich lustvoll, aber gewissenhaft, penibel und, wie seine Vorgesetzten alljährlich lobten, beflissen wie effizient seinen Amtsgeschäften nach. Weiter links sieht man drei Dichter, Clemens Brentano (1778–1842), Ludwig Tieck (1773–1853) und dessen Schwager August Ferdinand Bernhardi (1769–1820), im Hauptberuf Direktor des zwei Querstraßen entfernten Friedrichwerderschen Gymnasiums, die Markgrafenstraße entlanggehen. Unter den Gestalten links kann man zwei Figuren aus Hoffmanns Erzählung Die Abenteuer der Sylvester-Nacht ausmachen, und zwar an der Ecke Jägerstraße, wo sich einer ihrer Schauplätze, die Kellerkneipe, befindet: Peter Schlemihl, den sich Hoffmann aus dem Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) seines Freundes Adelbert von Chamisso (1781–1831) ausborgte, und Erasmus Spikher. Links vom Glöckner auf der Französischen Kirche windet sich die Schlange Serpentina um einen Zweig, unbeachtet vom an seiner Pfeife ziehenden Studenten Anselmus wie vom biederen Konrektor Paulmann. Alle drei beamte Hoffmann aus seinem in Dresden spielenden Märchen Der goldne Topf nach Berlin. Am linken Rand zechen in der Restauration Lutter & Wegner zwei Gäste, unschwer als Hoffmann und Devrient auszumachen, Stammgäste ebendort. Und es gibt andere Weinstuben: die »Restaurat[ion] u: Große Weinstube bey Schonert«, die »Italiänische Handl[ung] bey Thiermann«, mit »Austern, Caviar pp« und »Extrafeine[m] Raum« im Angebot; die »Italiänische Weinhandlung Moretti«, wo es ebenfalls »Extrafeine(n) Raum« gibt. Unweit davon der höllische und wie stets grimmig daher blickende Doktor Dapertutto mit Giulietta aus Die Abenteuer der Sylvester-Nacht.

Im Gebäude, das die obere Mitte der Zeichnung einnimmt, wird geprobt, neben dem dicken Kapellmeister Weber der spindeldürre Musiker Kreisler, das dichterische Spiegel-Gegen-Bild von Hoffmanns Ich. Kreisler mit den verschränkten Armen: das eigentliche Gravitationszentrum der Zeichnung. Auf ihn steuern die Bereiche und Segmente zu, von ihm scheinen sie auszugehen. Nebenan im Direktionszimmer legen vier Dichter dem Theaterintendanten Carl Graf von Brühl ihre Manuskripte vor.

»Bei all dem berührt es zunächst seltsam, wie das Phantastische nicht etwa im Theater, sondern außerhalb desselben stattfindet – und umgekehrt innerhalb des Theaters das Profane: die demütig bittenden Dichter, der verfressene Kapellmeister, die Sänger, die sich mit ihrer Übung offenbar genau nach der Uhr zu richten haben.« (Klaus Deterding)

Das von Karl Gotthard Langhans entworfene Schauspielhaus sollte übrigens fast genau zwei Jahre später, am 29. Juli 1817 abbrennen. Und Hoffmann davon eine Karikatur anfertigen, denn wieder war er Zuschauer, diesmal auch mehr. Denn nun musste er aktiv werden, bei sich beziehungsweise bei seinem Meublement, war doch das Feuer auf das Dach seines Wohnhauses übergesprungen, und er hatte seinen Hausstand auf die Straße zu schaffen. Und vielleicht nicht ganz zufällig mietete sich der dänische Schriftsteller, Kritiker und Herausgeber Per Daniel Amadeus Atterbom (1790–1855), ein begeisterter Hoffmann-Leser und Hoffmann-Verehrer, der zwischen 1817 und 1819 Deutschland, Italien und Österreich bereiste inklusive eifriger Treffen mit Autoren, Philosophen und Intellektuellen – auch mit E. T. A. Hoffmann –, am Berliner Gendarmenmarkt in nahezu identischer Blickhöhe ein. In seinen Reisebeobachtungen notierte er:

 

»Ich hatte von meinen Fenstern eine ziemlich gute Aussicht auf den größeren Teil des Gendarmenmarkts, der einer der größten und schönsten Plätze Berlins ist. Mir gerade gegenüber auf der weitgestreckten Fläche lag eine Kirche, welche vermutlich ein Meisterstück des architektonischen Geschmacks Friedrichs des Zweiten ist, aber trotzdem aussieht, als ob sie vom Zuckerbäcker gebaut worden wäre.«

Diese rasch ausgeführte Zeichnung (ein Tintenklecks platschte aufs Papier) ist eine Arabeske aus Wirklichkeit und Phantasie. Und führt zu allen Werk- und Lebens-Themen Hoffmanns. Ja, vereint sie auf diesem einen Blatt:

 Sehen – die bildende Kunst;

 Hören – die Musik;

 Fühlen – Sinne, Sinnlichkeit, Genuss;

 Denken – Reflexivität, Humor, Zeitspiegelung, Zeitverzerrung;

 sowie

 Vorstellen – alle phantasmagorischen Möglichkeiten von Literatur.

Kein anderer Romantiker war ein derart großer Synästhetiker, ein Sinnesallvereiner und Universalsinnlichkeitsschilderer wie Hoffmann. In den Kreisleriana heißt es:

»Ich sah den Stein – seine roten Adern gingen auf wie dunkle Nelken, deren Düfte sichtbarlich in hellen, tönenden Strahlen emporfuhren. In den langen, anschwellenden Tönen der Nachtigall verdichteten sich die Strahlen zur Gestalt eines wundervollen Weibes, aber die Gestalt war wieder himmlische, herrliche Musik!«

Und:

»Es ist kein leeres Bild, keine Allegorie, wenn der Musiker sagt, daß ihm Farben, Düfte, Strahlen als Töne erscheinen und er in ihrer Verschlingung ein wundervolles Konzert erblickt. So wie nach dem Ausspruch eines geistreichen Physikers, Hören ein Sehen von innen ist, so wird dem Musiker das Sehen ein Hören von innen, nämlich zum innersten Bewußtsein der Musik, die, mit seinem Geiste gleichmäßig vibrierend, aus allem ertönt was sein Auge erfaßt.«

»Hoffmanns Gespenster entstammen dem Leben, das Gespenstische seiner Erzählungen ist jene Erfahrungsrealität des Daseins, die das Räderwerk der Wissenschaft mit dem Wort ›Gespenster‹ gewiss nicht fasst und mit allen Begriffen stets unzulänglich, welchen Tatbestand eine gleichlautende Nomenklatur verwischt.«

Franz Fühmann

Romantik war bei ihm urban. War nicht Landschaftszeichnung, Mittelaltervignette oder schwärmerische Metaphysik à la Novalis’ (1772–1801) »Was quillt auf einmal so ahndungsvoll unterm Herzen, und verschluckt der Wehmut weiche Luft?«. E. T. A. Hoffmann war der erste Großstadtbeobachter der deutschen Literatur. Seine Augen flanierten und phantasierten und imaginierten und nahmen das Flaneur-Genre eines Franz Hessel, eines Siegfried Kracauer um 100 Jahre vorweg. In Kracauers Erinnerung an eine Pariser Straße, einem Feuilleton aus dem Jahr 1930, vermischten sich Geschichte und Gegenwart, der Gang führte nicht nur durch den Raum, er führte auch durch die Zeit. Kracauer schrieb, dass »in Paris die Gegenwart den Schimmer des Vergangenen hat.« Der Text verrückt sich zum Traum, so bewegten sich denn auch Häuserwände auf den Straßenflaneur zu:

»Was immer sie seien: enge Schluchten, die in den Himmel einmünden, ausgetrocknete Flussläufe und blühende Steintäler – ihre Bestandteile sind ineinander gewachsen wie die Glieder von Lebewesen.«

Blühende Steintäler, arabeskes Figurengetümmel, die Gegenwart eine schimmernde Historie – alles schon da gewesen. Bei E. T. A. Hoffmann, 115 Jahre zuvor. Bei diesem, ein Jahr nach der letzten Hexenverbrennung in Deutschland geboren, als in Russland noch Leibeigene als »Ware« verkauft wurden, der später in Berlin die ersten großen Eisengießereien sah, 1818 das erste Dampfboot auf der Spree und 1821 den Beginn der industriellen Entwicklung Berlins miterlebte.

Kein anderer deutscher Schriftsteller ist in aller Welt so berühmt gewesen und so berühmt geworden wie E. T. A. Hoffmann aus Königsberg, und das nicht nur dem Namen nach wie Goethe, Zelebrität eher vom Hörensagen. Und keiner ist so wie Hoffmann seit mehr als 200 Jahren derart »modern« gewesen. Und geblieben. Um beispielsweise die Leserschaft von Achim von Arnims (1781–1831) Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores (1810) zu zählen, bräuchte man wohl nicht einmal eine Hand; zwei Finger für die weltweite Leserschaft von Tiecks Vittoria Accorombona (1840) und wohl nur den digitus minimus, den kleinen Finger, für jenen einen Menschen, der (in den Vatikanischen Grotten unter dem Petersdom?) für Clemens Brentanos tiefkatholisches Spätwerk entflammt. Hoffmanns kunstvoll chaotische Lebens-Ansichten des Kater Murr (1819–1821) hingegen, wie viele sind noch heute davon begeistert! Und verzaubert! (Und nutzen den Kater als Nickname für Postings im Internet.) Edgar Allan Poe las Hoffmann. Balzac las ihn. Alexandre Dumas père übersetzte Nussknacker und Mausekönig (1816; Piotr Tschaikowski las die Arbeit, eine Umarbeitung, und adaptierte sie seinerseits als Ballett, er nannte sein Opus Der Nussknacker). Maupassant, Baudelaire und Dostojewskij wie auch Gogol bewunderten Hoffmann, der wie kein anderer deutscher Autor der Jahre 1800 bis 1820 bis ins 20. und ins 21. Jahrhundert hineingewirkt hat. Jacques Offenbach komponierte 1881 die sehr erfolgreiche Operette Les contes d’Hoffmann (Hoffmanns Erzählungen) nach einer Collage mehrerer seiner Erzählungen. 100 Jahre später – das zwischenzeitlich erstaunlich bis erschreckend schwache Interesse an ihm in Deutschland (Klaus Günzel: »Fürwahr: Was sollte eine Ära mit ihm anfangen, der die Kulturhistoriker das harmlose Etikett vom ›Biedermeier‹ angehängt haben?«) war erst in Neoromantik und Expressionismus neu entflammt, durch Autoren wie Gustav Meyrink, Komponisten wie Paul Hindemith und Künstler wie Alfred Kubin und Paul Klee. Und auch in der Filmkunst haben Hoffmanns Werke Spuren hinterlassen: Beispielsweise griff Ingmar Bergman in seinem letzten Kinofilm Fanny och Alexander (Fanny und Alexander, 1982) auf Hoffmann’sche Erzählmotive zurück. Der russische Regisseur Andrej Tarkowskij wollte wenig später unter dem Titel Hoffmanniana E. T. A. Hoffmanns letzte Tage verfilmen; sein vorzeitiger Tod 1986 durchkreuzte diesen Plan. Und Science-Fiction- und Fantasy-Literatur-Exegeten diskutieren bis in die Gegenwart, ob Hoffmanns Einfluss auf ihr Genre nun bis heute groß sei oder sehr groß.

Eines geht durch Hoffmanns Schaffen – ein Riss. Denn erst mit 32 Jahren debütierte er, der Jurist, Komponist, Musiker und Kapellmeister, als Schriftsteller. Ein Alter, das ein anderer dichtender Jurist, der um drei Jahre ältere Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773–1798), gar nicht erreichte – er war 1798 mit 24 Jahren gestorben (noch um 1875 betrug die Lebenserwartung für Männer in Deutschland durchschnittlich 35 Jahre). Ein dritter, der Frankfurter Friedrich Maximilian Klinger (1752–1831) – er hatte mit Sturm und Drang das Theaterstück geschrieben, das einer Literaturströmung den breitbeinigen Namen gab –, war mit 32 ausgeschrieben und hatte auf Ordonanzoffizier im russischen Heer umgesattelt. Ein anderer Stürmer und Dränger, Jakob Michael Reinhold Lenz (1751–1792), 23-jährig Autor des Stückes Der Hofmeister, war mit 32 ein hoffnungsloser Hofmeister. Hingegen hatte Christoph Martin Wieland (1733–1813) mit 32 Jahren bereits 43 Einzelpublikationen vorzuweisen plus sieben Bände mit Shakespeare-Übersetzungen.

Hoffmanns Werk ist Ausdruck einer Zerrissenheit zwischen einander entgegengesetzten Polen. Zwischen Künstler und Bürger (ein Thema, das Thomas Mann auf- und übernahm), Realität und Traum, Tag und Nacht, Trauma und Lebendigkeit, Tiefe und quecksilbriger Ironie, Satire und peinigendem Schmerz, abgründiger Romantik und exaktem Realismus. »War er«, fragte Klaus Günzel sanft ketzerisch,

»denn mehr als ein geschäftiger, auf hektischer Jagd nach Honoraren begriffener Verfasser trivialer Taschenbuchgeschichten? Und wenn ja: Wohin gehörte er dann, wo ließ er sich einordnen? War er, der so gerne Lichtenberg und Rousseau zitierte, der mit spöttischem Rationalismus des Spießers duselige Feierstunden verhöhnte, etwa ein später Sohn des 18. Jahrhunderts? Oder war er nicht vielmehr der Vollender romantischen Kunstwollens, der Erzromantiker schlechthin, da er doch wie kein anderer seiner Generation die Nachtseiten der menschlichen Existenz und den Einbruch des Wunderbaren in die irdische Welt zu gestalten versuchte?«

Hoffmann – der Erzromantiker. Hoffmann – der Vollender. Hoffmann – der Moderne. Ein Autor, der Rätsel aufgab und bis heute auf staunenswert fesselnde wie hochartistische Art und Weise aufgibt. Der hochbegabt war und lange auf Erfolg warten musste. Als sich dieser schließlich einstellte, in einem Segment, das er anfangs gar nicht mit allertiefstem Ernst oder überschäumendem Ehrgeiz beackerte, blieben ihm nur wenige, rasend hektische, enorm produktive Jahre.


Wege und Umwege. 1776–1808

Diese Stadt gibt es nicht mehr. Das Königsberg, in das Ernst Theodor Wilhelm Hoffmann am 24. Januar 1776 geboren wurde, existiert nicht länger. Das Königsberg, in dem der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) 53-jährig als Denk-Metronom durch die Stadt schritt – die Kaufleute konnten nach seinem präzisen Tagesablauf die Uhr stellen. Wie so viele andere Orte ging auch das alte Königsberg im Zweiten Weltkrieg zugrunde.

Die Stadt, in deren Schlosskirche sich 1701 der brandenburgische Kurfürst zum König in Preußen gekrönt hatte und in der Hoffmann ein Dreivierteljahrhundert später seine ersten zwanzig Lebensjahre zubrachte, war seinerzeit bemerkenswert intellektuell. Für ihn allerdings weniger. Er war zwei, als sich seine Eltern scheiden ließen. Sein Vater, ein mittelmäßig reputierlicher Anwalt am preußischen Hofgericht, zog mit Ernsts älterem Bruder nach Insterburg, die Mutter mit ihm zurück zu ihrer Mutter, Witwe des angesehenen Anwalts Doerffer am Königsberger Hofgericht, in deren Haus in der Junkerstraße. Dort wohnten bereits seine zwei Tanten und sein Onkel. Es war ein emotional desolater Hausstand. Der gleichaltrige Theodor Gottlieb Hippel, Hoffmanns Freund seit Jugendtagen und bis zu seinem Lebensende, der nur eine Straße entfernt wohnte: »Die Mutter vegetirte nur in krankhaftem Zustande. Schon ihr Äußeres war ein Bild der Schwäche und des Gemüthskummers, der sie tief zu beugen schien.« Die eine Tante, Charlotte, starb mit 24, die zweite, Sophie, kümmerte sich um den kleinen Ernst. Der Onkel Otto Wilhelm Doerffer, genannt »Sir Ott«, war auch Jurist, aber früh gescheitert und frühpensioniert, korpulent, Spießbürger, pedantisch bis zur Lächerlichkeit und begriffsstutzig. Bis auf die Großmutter, die kräftigste von allen, waren die Doerffers klein, fragil, zart gebaut, so auch Ernst. Er erhielt Musikunterricht, lernte Orgel, Klavier, Geige, Komposition, zeigte Begabung. Zudem war er ein auffallend guter Zeichner. Doch der zu erwählende Studien- und Ausbildungsgang war familiär vorgegeben – die Juristerei. In Hoffmanns Rückschau waren Kindheit und Jugend einsam und eher trist, »zwischen den vier Mauern [war ich] mir selbst überlassen«. Darin vermutete er selbst den »Keim mancher von mir hinterher begangene[n] Thorheit.« Für Streiche hatte er eine Ader, wie auch schon früh eine starke Neigung zur Literatur, mit 18, 19 schrieb er, leidenschaftlicher Leser, der er war, zwei Ritterromane, die nie übers Manuskriptstadium hinauskamen.

1794 verliebte sich Hoffmann in die einige Jahre ältere, verheiratete Dora Hatt, der er Musikstunden gab und schwärmerisch-verspielte Episteln schrieb. 1796 schäumten seine Gefühle zum Missfallen seiner Familie unschicklich unstandesgemäß hoch, so dass der Zwanzigjährige nach Schlesien zu einem Patenonkel zwangsverschickt wurde. Dort ging es ihm emotional kaum besser: »Ich bin in Glogau entfernt von allem, was mir lieb war, und ich habe, wie’s Hamlet seiner Mutter tät, die eine kranke Hälfte meines Herzens weggeworfen.« Mit der anderen Hälfte verlobte er sich nach einer Weile bei den Glogau-Doerffers mit Tochter Minna, seiner Cousine.

1797 starb der Vater, was für Hoffmann ohne Belang war, zum Bruder sollte nie eine Verbindung bestehen. Ein Jahr später starb die Mutter, da steckte er schon tief in den von ihm nicht recht geliebten Rechtswissenschaften. Im Juni 1798 bestand er das zweite juristische Examen, im August wurde er ans Kammergericht zu Berlin versetzt. Ende März 1800 legte er das dritte juristische Examen ab und wurde als Assessor am Kammergericht in Posen eingesetzt. Knapp anderthalb Jahre war er dort. Bis zum Karneval 1802.

 

Während der »tollen Tage« kursierten in der Stadt bissige Karikaturen von Honoratioren und höheren Militärs. Diese, enragiert, versuchten, die Verursacher auszumachen. Zwar nicht ganz festgenagelt, nur knapp zur Hälfte, wurde Hoffmann, stadtweit bekannt für seinen frechen Zeichenstrich, dennoch strafversetzt, nach Plock, rund 100 Kilometer nordwestlich von Warschau gelegen, allertiefste neu-ostpreußische Provinz. Noch in Posen hatte Hoffmann das Verlöbnis mit Minna Doerffer gelöst und Maria Thekla Michaelina Rorer-Trzcińska, genannt Mischa, geheiratet. Über sie ist kaum mehr bekannt als: »Mittlere Statur – wohl gewachsen, dunkelbraunes Haar, dunkelblaue Augen«, so Hoffmann, der sie ansonsten exzeptionell wenig in seiner Korrespondenz erwähnt, sie sprach wohl nur mäßig Deutsch, ihren Mann nannte sie »Gemahl meiniges«. Ein Freund Hoffmanns: Sie »war zufrieden mit allem, was er für sie that, und murrte über nichts, was er unterließ, wie eine von einem Brodherrn leidlich gehaltene Magd.«

Das Paar langte im Sommer 1802 in Plock an, der alten überschaubaren, abgelegenen Stadt an der Weichsel mit den zahllosen Kirchen und Klöstern, »wo ich lebendig begraben bin« (Hoffmann). Der Regierungsdirektor A. C. von Holsche bot 1804 in seiner langatmigen Geographie und Statistik von West-Süd- und Neu-Ostpreußen. Nebst einer kurzen Geschichte des Königreichs Polen bis zu seiner Zertheilung eine enervierend langweilige Schilderung dieser Hoffmann enervierend langweilenden Stadt:

»Plock, eine königliche Stadt auf dem hohen Ufer der Weichsel, rechterseits in einer fruchtbaren Gegend belegen, von 389 Häusern, wovon 27 massiv, 20 von Holz mit Ziegeldächern und die übrigen von Holz mit Schindeln oder Stroh belegt sind. Es wird hier stark gebauet und eine besondere Vorstadt für Deutsche, vorzüglich für Offizianten, ganz von massiven Häusern nach einem bestimmten Plane angelegt, und es kommen von Zeit zu Zeit mehrere Häuser hinzu, so daß die Stadt sich weit an der Weichsel herauf ausdehnt. Die Bevölkerung der Einwohner, ohne das Militär, beläuft sich auf 2578 Seelen, worunter 731 Juden sich befinden.«

Dann ging es mit der Aufzählung weiter: 1 Domkapitel mit 9 Prälaten und 21 Domkapitularen, 1 Collegiatsstift mit 2 Prälaten und 5 Canonicis, 1 Dominikaner-Mönchskloster mit 24 Mönchen »nebst einer Kirche«, ein Reformaten-Mönchskloster mit 19 Mönchen »nebst einer Kirche«, weitere Klöster, Kirchen, zwei Landeskollegien, ein Füsilier-Bataillon und eine Kreis-Justizkommission und ein Kreisgericht. »Eine große Unbequemlichkeit«, so von Holsche, »für die Stadt ist dieses, daß sie kein hinlänglich gutes Wasser hat.« Trotz 18 Brunnen tauge das Wasser nicht viel – aber Wasser hatte Hoffmann noch nie interessiert. Wein schon, und in Posen und in Plock immer mehr. Ende 1803 übermittelte er Hippel das resignative Lamento:

»Mein Sinn für die Kunst ist hier so hors de saison, daß ich überall damit anstoße und mich verwunde. – Die Mahlerey habe ich ganz bey Seite geworfen, weil mich die Leidenschaft dafür, hinge ich ihr nur im mindesten nach, wie ein griechisches Feuer unauslöschlich von innen heraus verzehren könnte – […].«

Im Februar 1804 war die Zeit in diesem Nirgendwo beendet. Er wurde nach Warschau versetzt, als Regierungsrat der Südpreußischen Regierung. Wichtig wurde ein neuer Freund, der aus wohlhabender jüdischer Familie stammende Berliner und Jurist Julius Eduard Itzig (1780–1849); 1808 setzte er seinem Familiennamen ein »H« voran und nannte sich seither »Hitzig«. Noch wichtiger von nun an für Hoffmann: Er selbst tauschte seinen dritten Vornamen »Wilhelm« aus für – Verbeugung vor dem verehrten Mozart –»Amadeus«. Im Juli 1805 wurde Hoffmanns einziges Kind, die Tochter Caecilia, geboren, benannt nach der Schutzheiligen der Musik, sie sollte mit zwei Jahren sterben. Da war Hoffmann arbeitslos – die Truppen Napoleons hatten Preußen zum Einsturz gebracht, der König war nach Memel geflohen. Die Beamten der Justiz mussten einen Eid auf den neuen Machthaber ablegen. Hoffmann, obschon lebenslang desinteressiert an Politik, verweigerte sich wie viele andere auch. Und wie viele andere auch wurde er deshalb aus dem Justizdienst verstoßen.

Es gab nur noch Warten. Und dann kam noch Hunger dazu. Und Krankheit. Er war in einem Kämmerchen unterm Dach der Musikalischen Gesellschaft untergekommen, Mischa und Caecilia hatten Zuflucht bei Verwandten in Posen gefunden. Hoffmann erkrankte schwer an Typhus, wurde von Freunden gepflegt, die immer weniger wurden, weil es sie alle nach Berlin zog. Eigentlich wollte er selbst nach Wien, dafür fehlten ihm aber Geld und Visum. Also auch ab nach Berlin. Am 18. Juni 1807 kam er an, Freund Hitzig hatte umgesattelt von Jura auf Buchhandel. Die Stadt, besetzt von den Franzosen, wimmelte von stellungslos gewordenen Beamten. Hoffmann hungerte, wurde wieder krank, niemand wollte – das Spielbein war nun einziges Standbein – seine Kompositionen, keiner Zeichnungen von ihm veröffentlichen. Anfang 1808 gab er eine Annonce auf: »Musikdirektor sucht Compagnie«. Eine Antwort traf ein – aus Bamberg, von Julius Graf von Soden, der ihm einen Posten antrug. Soden, 1754 geboren, entstammte einer alten Hannoverschen Patrizierfamilie, war fürstlich brandenburgischer Regierungsrat gewesen, Geheimrat, preußischer Gesandter beim Fränkischen Reichskreis zu Nürnberg. Seit 1796 Privatier, lebte er auf Gut Sassanfahrt, heute zu Hirschaid im Landkreis Bamberg gehörend, an der Regnitz und stand seit 1804 als Liebhaber der Künste – er schrieb mit rascher Hand und in sorglos schneller Folge Dramen, Erzählungen, historische, philosophische und religiöse Werke und übersetzte Cervantes – dem Bamberger Theater vor. Er hatte ein großes Stadthaus gekauft, dieses zur Bühne umbauen lassen, selbst Theaterstücke inszeniert, etwa Mozarts Opern Don Giovanni und Die Zauberflöte. Die aber durchfielen. Das Publikum wollte Unterhaltung. Sodens Säckel strapazierte das Unternehmen bald allzu stark. Das Haus veräußerte er an eine Gastwirtin, die darin eine Wirtschaft betrieb, er reservierte sich aber das Anrecht auf Aufführungen im Bühnenraum.

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