VirOS 4.1

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Alexander Drews





VirOS 4.1





© 2017 Begedia Verlag



© 2016 Alexander Drews





Umschlagbild – Begedia



Lektorat, Satz und ebook-Bearbeitung – Harald Giersche





ISBN-13 – 978-3-95777-096-7 (epub)





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Prolog - Montag, 4. Dezember 2017



Als wolle er dem grauen Novemberhimmel drohen, ragte an diesem Tag der anthrazitfarbene Turm der Hamburger Nikolaikirche in die Höhe. Dabei war er längst zu einer beliebten Tourismusattraktion geworden. Der Förderkreis der Nikolaikirche hatte vor zehn Jahren einen Aufzug in Hamburgs höchsten Kirchturm einbauen lassen, einen Aufzug, der zu einer Aussichtsplattform in fünfundsiebzig Metern Höhe führte, von der sich ein phantastischer Rundumblick über Hamburg bot. Und genau dieser Aufzug war es, der dem alten Mahnmal, das aus einem filigranen, gotischen Turm und den Resten des 1943 von britischen Bombern zerstörten Kirchenschiffes bestand, neues Leben eingehaucht hatte.



Mit seiner gläsernen Kabine bot der Express-Lift den Passagieren allzeit einen spektakulären Anblick und bereits, wenn man in ihm nach oben schwebte, machte sich in einem das Gefühl breit, ganz neue Eindrücke von dieser Stadt zu gewinnen.



Heute allerdings schauten die wenigen Touristen, die sich bei diesem Wetter auf die Plattform gewagt hatten, nur auf eine regennasse Stadt, vor allem aber auf eine sich aus dem Westen nähernde unheimliche schwarzgraue Wolkenfront.



Längst umtoste der Wind die Besucher, ließ sie Krägen hochschlagen und Mützen bis über beide Ohren ziehen. Aber das half weder gegen die Kälte noch den Nieselregen. Und als der Wind schließlich zum Sturm wurde, der durch die Säulen und Streben drückte, hielt es niemanden länger als nur ein paar Minuten auf der Plattform.



Fotoapparate klickten und Handys machten im Eiltempo Schnappschüsse, obwohl auf den Bildern nur ein unwirtlicher Himmel und eine regennasse Stadt zu sehen sein würde. Zwar wurden auch ein paar Selfies geschossen, dann aber hatte auch der Standhafteste aus der Gruppe genug. Durchgefroren und durchnässt sammelte man sich um das Fahrstuhlportal und wartete zitternd darauf, dass die Türen sich öffneten und der Aufzug einen wieder mit nach unten nahm.



Vor dem Hinauffahren hatte niemand den schmächtigen Mann gesehen, der allein unten in der Mitte der Ruinen stand und jetzt zu ihnen hinaufblickte - und falls ihn jemand gesehen hätte, so hätte er ihm keine Beachtung geschenkt. Denn der Mann, der in seinem Wintermantel wie eine graue Statue wirkte, schien auch nur ein Passant zu sein, der den Nicolai-Turm bewunderte.



Nur, dass er eben kein Passant war.



Und auch nicht den Turm bewunderte, sondern wartete.



»Na, du bist ja immer noch da!«



Er fuhr herum und sah in das Gesicht seines Kollegen, der ihn vor fünfzehn Minuten am Eingang zum Turm abgelöst hatte.



»Oh«, Tim nahm beide Hände hoch. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.«



»Schon gut«, stieß er hervor. »Ich war nur gerade in Gedanken.«



»Hätte ich mir denken können«. Tim lachte. »Du stehst wirklich so steif rum, als wolltest du selbst zu einem Denkmal werden.«



»Ja, hm, manchmal führt ein Gedanke einen eben zum anderen und dann immer so weiter. Nichts mehr los, wie?«



»Klar, bei dem Wetter? Und um diese Uhrzeit?«



Tim rollte demonstrativ mit den Schultern. Wie immer bei solchem Wetter trug er seine dicke Lammfelljacke, die so aussah, als würde sie seit Jahren als Kleinstlebewesenbiotop fungieren.



»Und? Über was denkt man denn so nach bei so nem Wetter?«



»Über Linux.«



Tim prustete los. »Du stehst hier in der Kälte, um über Computer nachzugrübeln? Dann bist du ja echt voll der Nerd, weißt du das?«



Er sagte nichts. Stattdessen schaute er zu, wie der Aufzug nach unten fuhr. »Tim?«



»Ja?«



»Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass es immer die Größten sind, die auf die Knöpfe drücken?«



Tim warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Wie bitte?«



»Ich meine, da oben zum Beispiel. Ich wette mit dir, dass der, der den Knopf gedrückt hat, der Größte gewesen ist. Es ist immer der Größte, der den Knopf drückt.«



»Hab ich mir noch nie nen Kopf drüber gemacht, ehrlich gesagt.«



»Sollten wir aber. Schließlich sind wir beide ja nicht gerade Riesen. Hat es dich nie genervt, wieso immer die Großen auf die Knöpfe drücken dürfen und niemals du?«



Tim sah ihn an, als keimte in ihm der Verdacht auf, es mit einem Geisteskranken zu tun zu haben. »Ist alles okay mit dir?«, fragte er, jedes Wort langsam aussprechend.



»O ja!« Er sah wieder zum Turm hoch. Der Fahrstuhl war inzwischen auf halber Höhe.



»Alles bestens!«



Er lächelte.



Und er hatte alles im Griff.



Was die Fahrstuhlinsassen genau sechs Sekunden später zu spüren bekamen.




1. Kapitel - Dienstag, 5. Dezember



Soledad klopfte leicht an das Glas.



Natascha schrak auf und kurbelte die Scheibe ihres Uralt-Wohnmobiles herunter. »Ach, du bist ein Engel«, seufzte sie und nahm den dargeboteten Pappbecher mit dem heißen Kaffee dankbar an. »Willst du nicht reinkommen?«



Soledad schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.« Sie deutete auf die Aral-Tankstelle, die gegenüber von Nataschas Liebesmobil auf der anderen Straßenseite lag. »Zigarettenpausen sind das eine, aber wenn mein Chef sieht, dass ich die auch noch im Warmen und Trockenen verbringe, streicht er mir die glatt. Raucher sollen gefälligst leiden, wenn sie ihrer Lust frönen.«



Natascha runzelte die Stirn: »Aber du rauchst doch gar nicht.«



»So? Wer sagt das?«. Soledad griff in ihre Kitteltasche und zog ein Päckchen Kaugummizigaretten hervor, von denen sie sich eine zwischen ihre vollen Lippen steckte. »Auch eine?«



»Nein, danke«. Natascha grinste. »Ich hab keinen Chef, dem ich was vortäuschen müßte, um eine Pause zu kriegen. Ich täusch auch so schon genug vor.«



Soledad sah zur Windschutzscheibe, vor der eine rote Herzchengirlande hing. Heute abend würde sie blinken, aber momentan wirkte sie genauso lustlos wie alles andere auch, wie der graue Dezembertag, die kahlen Bäume, das an einigen Stellen schon angegrünte Wohnmobil und der leere, pfützenübersäte Platz daneben - der keine frischen Reifenspuren aufwies.



»Nicht viel los, was?«



Natascha hob die Arme über ihre blondgefärbten Haare und machte eine theatralische Geste, bei der Soledad erst einen Augenblick später erkannte, dass sie wohl Regen darstellen sollte.



»Bei dem Wetter? Da fährt doch jeder lieber gleich nach Hause. Ich hoffe ja auf heute abend, vielleicht braucht da dann noch einer eine schnelle Feierabendnummer. Ansonsten ... sieht es eher düster aus. Wann machst du denn heute Schluss?«



Soledad seufzte. »Um fünf.« Das waren noch geschlagene vier Stunden, in denen sie hinter der Kasse stehen und Benzinverkäufe abrechnen würde. Und zwar durchgehend, denn eine weitere Zigarettenpause gab es nicht. Sie zog an ihrer Kaugummizigarette und hielt sie dann demonstrativ in ihrer rechten Hand, während sie weitersprach. Falls ihr Chef von der Tanke rüberschauen würde, sollte er sehen, was er zu sehen erwartete. »Dann noch schnell einkaufen und Lisa vom Kindergarten abholen und ... tja, das war es dann auch. Und du?«



Natascha deutete auf ihr Tablet, das auf dem Beifahrersitz lag. »Ich surf eben so im Internetz herum. Und freue mich, dass ich hier bin und nicht in Abakan. Dreißig Grad haben wir da.«



Anfangs, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten, hatte Soledad sich immer gewundert, warum Natascha nie über die Kälte hier in Deutschland jammerte. Sie selbst war aufgrund ihrer südspanischen Herkunft nämlich ebenfalls eher an dreißig Grad gewöhnt, und Kälte und Schnee war etwas, das man in Almería mehr vom Hörensagen kannte. Es hatte sie böse überrascht, als Leon ihr nach dem ersten Winter in Deutschland erklärte, dass das eigentlich jedes Jahr so sei, Schnee vielleicht nicht immer so viel wie in jenem Jahr, aber auf jeden Fall Regen, Wind, Kälte, Wolken und keine Sonne. Sonne gar nicht.



Natascha hatte sich darüber immer amüsiert, schließlich hatte sie Soledad irgendwann mal verraten, dass sie mit ihren dreißig Grad eigentlich Minusgrade meinte - und aus Sibirien stammte. Der Liebe wegen nach Deutschland zu ziehen hatte für Natascha nur insofern etwas Gutes gehabt, als dass es hier nicht ganz so kalt war. Der Rest war Schweigen, das hieß, sie schwieg sich über ihre gescheiterte Beziehung sorgfältig aus.



Soledad rieb sich die Schultern.



»Willst du nicht doch rein?«



Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du, dass ich dich manchmal beneide?«



Natascha riss ihre braunen Augen auf: »Echt? Wieso denn das?«



»Na, ich stelle mir manchmal vor, ich hätte so ein Wohnmobil ...«



»Ist ja cool. Du, ich könnte durchaus eine, äh, Aushilfe gebrauchen, und bei deiner Figur würdest du mit Sicherheit auch anständig was verdienen. Glaub mir ...«



Soledad verschränkte die Arme vor ihren Brüsten. »Nein, das doch nicht. Ich stelle mir vor, wie ich dann mit Lisa hier im Wohnmobil sitzen würde. Dann würde ich der Tanke da drüben einen letzten Gruß zuwerfen, den Motor starten und einfach wegfahren.«



»Und wohin?«



»Na, nach Almería natürlich. Zurück nach Hause.«



»Dann mach das doch. Ein Auto hast du doch.«



»Ja, aber nicht das alleinige Sorgerecht. In dem Moment, wo ich hier verschwinde, was meinst du, was Leon dann macht. Ich hab dann den einzigen Sprößling der stolzen Familie von Dingsda gekidnappt.«

 



Natascha grinste. »Wie heißt die Familie noch gleich?«



»Du Luder«, antwortete Soledad. Sie wusste genau, dass Natascha bloß Soledads ulkige Aussprache hören wollte. Aber dann lächelte sie auch.



»Ernsthaft«, fuhr Natascha fort. »Du hast so einen geilen Akzent. Mein russischer ist einfach nur dunkel und schwerfällig. Aber dein Deutsch klingt gleichermaßen niedlich und geil. Allein die Sache mit dem E am Anfang! Oder dein R, man hört förmlich, wie deine Zungenspitze dabei flattert. Was meinst du, was das für Phantasien anregt. Endgeil. Ich kenne einen, der würde schon dafür zwanzig Euro blechen, nur um dir zuhören zu dürfen ...«



Soledad winkte ab. Ja, das E. Wenn sie Worte wie »Stern« oder auch »Spanien« sagte, sprach sie die immer als »Es-tern« oder »Es-panien« aus. Darüber hatte sich schon Leon aufgeregt. Anfangs hatte er das noch so herrlich exotisch gefunden, am Ende war er nur noch genervt davon gewesen. Und mit ihren langen schwarzen Haaren war es dasselbe gewesen. Zuerst hatte er es klasse gefunden, ihr beim Haarewaschen zuzusehen - Männer! Aber ab und an verlor sie auch mal eines, das war nur normal, und das zeichnete sich in der weißen Wanne immer so ab wie ein feiner Riss in dem noch feineren Porzellan. Das hatte Leon für ein gemeinsames Zusammenleben nicht nützlich gefunden.



Nützlich. Das war auch so ein unaussprechliches Wort. Bei ihr klang das immer wie »nutes-lik« - was Natascha stets für eine Nougatcreme hielt.



»Natascha, ich weiß, du meinst das gut, aber - das ist nichts für mich. Echt nicht.«



»Hab ich anfangs auch gedacht, aber weißt du, wie Kindern in meiner Heimat das Schwimmen beigebracht wird?«



»Ihr habt doch gar kein Meer?«



»Nein, aber Seen. Und da wartet man einfach bis zum Sommer und dann wirft man sie rein. Gibt anfangs großes Geschrei, aber dann kriegen die das sehr schnell mit, was man machen muss, um nicht unterzugehen. Weißt du, was ich sagen will?«



»Dass ich Glück hatte, nicht in Sibirien zur Welt gekommen zu sein?«



»Dass man einfach ins kalte Wasser springen muss. Und, eh, keine Sorge. Die Väter haben natürlich aufgepasst, dass kein Kind wirklich im Dorfteich ersoff, ist ja klar.«



»Wie beruhigend.«



»Soledad, wirklich. Mit deinem Aussehen, deiner Herkunft, deiner Oberweite, die, nebenbei, sogar größer als meine ist, wenn ich das richtig sehe - doch, das wäre was. Und in dem Wohnmobil fällt auch gar nicht auf, dass du etwas zu groß bist.«



Soledad zog die Stirn kraus: »Ich bin was?«



»Zu groß. Du bist bestimmt, na, so eins fünfundsiebzig?«



»Eins Siebenundsiebzig.«



»Männer mögen lieber Frauen, die kleiner sind als sie. Aber bei der Enge hier drin«, Natascha deutete nach hinten in den Fond, »würdet ihr ja eh nicht viel nebeneinander stehen, und im Liegen würdest du die langen Beine ja einfach anziehen.«



»Vergiss es. Ich bin dafür nicht gemacht. Ich weiß das. Und außerdem ...«



Das Geräusch eines herannahenden Wagens unterbrach sie. Sie drehte sich um - ein roter VW Golf fuhr an dem Wohnmobil vorbei, wendete und näherte sich dann erneut. Der Fahrer bremste ab und ließ das Beifahrerfenster herunter.



»He ihr beiden. Kann man euch vielleicht zugucken?«



»Ich sag doch, du bist ein Kundenmagnet«, feixte Natascha.



»Ich zahl auch extra«, rief der Typ rüber und hielt sein Smartphone hoch. »Wenn ich ein paar Fotos machen darf, versteht ihr?«



»Denk nicht mal dran«, raunte Soledad ihrer Freundin zu.



Natascha beugte sich aus dem Fenster: »Sie ist nicht vom Fach, tut mir leid.«



»Ach mensch. Ich war so scharf auf zwei Lesben. Naja, kann man nix machen. Schönen Tag noch«. Die Fensterscheibe hob sich wieder, der Golf bretterte davon.



Soledad sah ihm nach. »Und auf genau solche Typen habe ich echt keinen Bock.«



»Die musst du ja nicht nehmen. He, ich bin Freiberuflerin. Ich such mir die Kerle schon selber aus.«



»Naja.« Soledad wollte das Thema nicht weiter vertiefen. Da hatten sie einfach unterschiedliche Ansichten - und zugegeben, wer weiß, wie sie in ein paar Jahren darüber denken würde, wenn sie endgültig den Traum aufgegeben hätte, doch noch den Mann für´s Leben zu finden. Ob sie dann die Welt doch mit Nataschas Augen sah?



»Nein. Bevor es soweit ist, muss ich hier weg.«



Natascha sah sie an: »Was sagtest du?«



»Eehhm«, machte Soledad, als ihr klar wurde, dass sie den Satz eben tatsächlich laut ausgesprochen hatte. »Ich meinte, ich muss dann hier mal wieder weg. Pause vorbei. Ich hab auch meine Zigarette schon ganz durchgekaut.«





Eine dunkelgraublaue Wolke kündigte den nächsten Schauer an. Soledad verabschiedete sich und ging über die Straße zurück zum Tankstellengelände. Nicht nur Nataschas Dienste waren an diesem Dezembertag nicht gefragt, auch an der Tanke herrschte gähnende Leere. Nicht ein einziger Wagen wurde betankt, selbst der LKW-Rastplatz hinter der Anlage war weitgehend leer. Umso besser eigentlich. Dann würde der Nachmittag ziemlich entspannt und ruhig. Ab und an hat so ein Mistwetter auch seine Vorteile, dachte Soledad, als die Glasflügel auseinanderglitten und sie das Tankstellengebäude betrat.



Und wirklich verlief der Tag in ruhigen Bahnen, sogar in so ruhigen, dass ihr Chef fand, er könne sich selbst einen frühen Feierabend gönnen und irgendwann am Nachmittag nach Hause fuhr. Das kam Soledad natürlich sehr gelegen, mit ein bisschen Glück würde Susica, ihre ungarische Kollegin, etwas früher aufschlagen und sie eher ablösen, sodass sie noch kurz beim Supermarkt vorbeischauen könnte, ehe sie Lisa abholte. Gerade als sie die Kasse dann an Susica übergeben hatte, schaute Natascha noch mal herein und erklärte, sie habe die Nase voll für heute, es kämen ja doch keine annehmbaren Kunden, und sie würde nach Hause fahren. Ob sie vorher noch mal kurz die Toilette aufsuchen dürfe?



»Klar«, sagten Soledad und Susica unisoni, sahen sich anschließend an und kicherten los. Ohne Aufsicht konnte man einfach viel ungezwungener arbeiten.



Als Soledad zu ihrem Wagen ging, sah die Welt zwar noch immer grau aus, sie wirkte aber aufgrund des Feierabends etwas rosiger. Soledad pfiff sogar leise vor sich hin. »Canta y sé feliz«, sing und sei glücklich, hieß die Melodie, die ihr in den Sinn gekommen war, und eigentlich hatte Peret, der die Nummer ursprünglich gebracht hatte, ja Recht. Was brachte es schon, sich immer und überall Sorgen zu machen.





*





»Von hier sieht das aus wie eine Raumstation«, schoss es ihm durch den Kopf.



Nebeneinander lagen sie auf dem feuchten Erdboden und sahen zur Tankstelle hinüber, die mit ihren ausladenden Dächern und den blau leuchtenden Umrandungen wie ein Raumschiff wirkte, das hier draußen vor der Stadt, nahe der Autobahnauffahrt, auf einem Acker gelandet war.



Er grinste. Der Vergleich traf genau ins Schwarze: Die da waren die bösen Außerirdischen, und sie beide die furchtlosen Helden, die die bereits begonnene Invasion zurückschlagen würden. Und das da drüben war das Alien-Schiff, mit dem sie anfingen.



»Das ist kalt. Und nass«, quengelte jemand neben ihm.



Er verdrehte die Augen und wandte sich Burkhard zu, der eigentlich Unit A hieß, was ein viel zu eleganter Deckname für ihn war. Was hatte der denn erwartet? Es war Anfang Dezember, es war kurz vor Mitternacht, und sie lagen nebeneinander in einem kleinen Graben auf der anderen Seite der Stichstraße, die als Tankstellenzufahrt diente - natürlich war es da kalt und nass. Was denn sonst?



»Reiß dich zusammen«, zischte er. »Bernd wird es an der Nikolaikirche auch nicht viel wärmer gehabt haben«.



»Du meinst Paranoimia«, warf Burkhard ein.



»Ist doch egal. Wärmer war es trotzdem nicht.«



»Das war aber am Tag. Jetzt ist Nacht.«



»Nass war´s trotzdem.«



»Ich halte das nicht mehr lange durch«, jammerte Burkhard.



»Wieso hast du auch nicht die Thermowäsche angezogen?«

»Die war so unbequem. Du, wie kalt ist das eigentlich? Ich hab gehört, dass schon Leute am Boden festgefroren sind.«



Er ballte die Fäuste. Festfrieren? Im Nieselregen? In ihm stieg unbändige Lust auf, diesem Japperlappen eine reinzuhauen. Schon auf dem Weg hierher hatte der Kerl nur geplärrt. Wieso man denn über das dunkle Feld stolpern müsse? Wieso sie denn nicht mit dem Wagen direkt an die Tankstelle gefahren seien? Und, als sie dann an der Tankstelle angekommen waren, wieso sie denn nicht einfach reingingen?



Geduldig hatte er ihm noch erklärt, dass es vielleicht etwas auffällig sein könnte, wenn zwei Typen in einem Auto gegenüber einer Nachttanke warten würden, dass sie sich also von jenseits des Feldes anschleichen und nun noch warten müßten, bis Toni sein Ablenkungsmanöver startete. Als Zeit dafür war genau Mitternacht vorgesehen, und die paar Minuten würde er ja wohl aushalten können.



Bloß, dass Burkhard genau das eben anscheinend nicht konnte. Seitdem sie hier lagen - und das waren vielleicht gerade mal fünf Minuten gewesen - hatte er nicht aufgehört, darauf hinzuweisen, dass ihm kalt und nass sei. Und dunkel sei es außerdem.



Er ballte die Fäuste so stark, dass seine Fingernägel sich in die Handinnenflächen gruben. Das hier war eine echte Geduldsprobe. Wenn er die Aktion mit Burkhard durchstand, dann würde der gesamte Rest ein Spaziergang werden. Die größte Herausforderung war einfach, nicht dem Verlangen nachzugeben, Burkhard eine reinzuhauen. Oder zwei. Oder drei. Vier. Fünf ... sechs ... nein, wenn er einmal damit angefangen hatte, würde er nicht mehr aufhören können. Er würde so oft zuschlagen, bis Burkhard wirklich einen Grund zum Jammern und Klagen hätte. Wenn der Typ doch bloß nicht so firm im Umgang mit dem Computer wäre. Aber gut, irgendwann würde der Tag kommen, wo sie Burkhard, den Superprogrammierer, nicht mehr benötigten.



»Ich friere jetzt echt, ehrlich! Mir ist schon ganz kalt. O Gott, sag mal, spürst du deine Zehen noch? Ich spüre meine Zehen nicht mehr, spürst du deine noch?



Diesen Tag begann er herbeizusehnen!





Ein bronzefarbener Opel Kadett, der seine besten Jahre offenkundig bereits hinter sich hatte, rollte an die Tankstelle heran, ein junger Mann mit einem schwarzen Wuschelschopf stieg aus und begann, seinen Wagen zu tanken. Toni. Er grübelte kurz über Tonis Zweitnamen nach, aber der wollte ihm nicht einfallen. War auch schnuppe. Gab Wichtigeres.



»Jetzt«, er stieß Burkhard an und sprang auf. Sein Kollege brauchte einen Moment, um hochzukommen, schließlich waren seine Beine aber sowas von, aua, total eingeschlafen.



Er packte Burkhard am Arm und zog den Fettsack hoch. »Komm jetzt«, stieß er hervor, »wir haben nicht ewig Zeit.«



Sie liefen ein Stückchen die Straße entlang, bis der Asphalt endete, dann sprinteten sie über den leeren LKW-Parkplatz und drückten sich an die rückwertige Wand des Tankstellengebäudes.



»Mann«, keuchte Burkhard. »Solche sportlichen Einlagen bin ich gar nicht gewohnt.«



»Ist dir denn jetzt wieder warm?«



»Warm? Alter, ich schwitze.« Demonstrativ hob er den Arm und wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn.



»Okay, komm jetzt«.



Er stieß seinen Kumpel an, dann schlich er um die Ecke, bis sie das Fenster zum Büroraum der Tankstelle erreicht hatten. Um diese Zeit würde hier niemand sein; die völlige Dunkelheit hinter dem Fenster bewies es. Und Toni würde mit seinem Tankvorgang schon dafür sorgen, dass die Nachtkassiererin den Raum auch nicht rein zufällig betrat. Das fehlte noch, dass sie vorzeitig entdeckt würden, nur weil eine dumme Nachtwächterin aus unerfindlichen Gründen meinte, mal eben kurz im Zimmer des Chefs nach dem Rechten sehen zu müssen. Allerdings, wenn er das Personal richtig einschätzte, wäre die Wahrscheinlichkeit dafür eh gering gewesen. Ohne Toni würde die Tussi vermutlich auch bloß gelangweilt hinter der Kasse am Nachtschalter sitzen und darauf warten, dass die Zeit vergeht. Andererseits, lieber einmal zu vorsichtig als zu unvorsichtig sein. Es stand zuviel auf dem Spiel.



Natürlich, die Überwachungskameras würden alles brav aufnehmen, was sie hier taten, aber das kümmerte ihn nicht - das Problem würde sich von selbst erledigen.



Er drückte leicht gegen den Fensterrahmen und spürte, wie sich das Fenster öffnete. Gut. Hatte Olga von der Wolga also ganze Arbeit geleistet. Er drückte das Fenster einen Spalt auf, sodass er nach innen um die Scheibe herumgreifen konnte, und schob den Sicherheitsbügel über den Zapfen. Das Fenster schwang auf.



»Hereinspaziert.«

 



Burkhard besah sich das offene Fenster und warf dann einen ängstlichen Blick zur Straße. »Und wenn uns genau jetzt jemand sieht?«



»Sollten wir uns also besser beeilen.« Er kletterte in das Innere des Gebäudes. »Jetzt mach hinne«, fauchte er, als Burkhard noch immer sich furchtsam nach allen Seiten umsehend draußen herumstand wie ein Leuchtturm.



»Ja doch«, stöhnte er, stemmte sich auf dem Fensterbrett auf und wuchtete seinen Körper hinein. Natürlich verlor er beim Hereinsteigen den Halt und fiel auf den Boden. Das Poltern - und Burkhards Schmerzenslaut - dröhnten in seinen Ohren wie ein Kanonenschlag. Er hielt den Atem an und lauschte, während Burkhard auf dem Fußboden in seiner Position verharrte und nicht wagte, sich zu rühren.



Erleichtert atmete er aus, als auch nach zwei endlosen Minuten keine Schritte vom Flur an sein Ohr gedrungen waren. Glücklicherweise hatte der dicke Teppich den Fall gedämpft, und Burkhards Quieklaut mochte als Katzengejammer durchgegangen sein, falls es überhaupt jemand gehört hatte.



Wütend starrte er auf den Fettkloß zu seinen Füßen herunter.



»Mann, echt, du Rindvieh.«



»Ich hätte mir beinahe was getan«, wisperte Burkhard und rieb sich den Arm.



»Ich tue dir gleich was«, antwortete er und schloss leise das Fenster. »Und nun fang an.«



Burkhard nickte.



Ihre Augen brauchten nicht lange, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und viel zu sehen gab es in dem kleinen Raum ohnehin nicht. Ein Aktenschrank, eine Kommode, ein Schreibtisch und zwei Stühle - und den Server, der links neben dem Schreibtisch stand und mit zwei grün leuchtenden kleinen Lampen anzeigte, dass alles in Ordnung war.



Er schob Burkhard den Stuhl hin und schlug auf der Computertastatur die Leertaste an. Der Monitor aktivierte sich, und während sich auf dem Schirm das Windows-Logo aufbaute, steckte er den mitgebrachten USB-Stick in den dafür vorgesehenen Anschluss. Der Stick fing sofort an zu blinken, und noch ehe Windows die User dazu auffordern konnte, das Passwort einzugeben, um Zugriff auf den Rechner zu erhalten, hatte sich der Stick bereits selber Zugriff verschafft. Na gut, selbstverständlich war es das auf dem Stick gespeicherte Programm gewesen, das Windows da endlich mal klargemacht hatte, wer hier der Boss war. Das musste man Burkhard lassen, was Computer anging, war er ein Genie. Er selber würde es nicht glauben, dass es so perfekt funktionierte - wenn er es nicht gerade mit eigenen Augen sähe.



Der Windows-Schirm verschwand, stattdessen tauchte ein großes, schräg gestelltes, goldfarbenes »A« vor hellblauem Hintergrund auf dem Monitor auf, und der Computer gab ein kurzes Signal von sich, das wie »Düdeldü« klang.



Er verzog die Mundwinkel. »Ich hatte doch gesagt, keine Soundeffekte.«

»War doch bloß ganz leise«, murrte Burkhard und drückte eine Taste. Das A wurde abgedunkelt, ein Text wurde Buchstabe für Buchstabe in orangefarbener Schrift in den Vordergrund geschrieben:



»PRESS RETURN TO CONTINUE OR HELP TO ABORT«.



Er runzelte die Stirn. »Help? Seit wann haben PCs eine Help-Taste?«



Burkhard grinste. »Darum ja«, sagte er und ließ die Spitze seines Zeigefingers einen Moment lang über der Enter-Taste schweben, ehe er sie zustoßen ließ.



Der gesamte Schirm blitzte einmal rot auf, dann erschien wieder das goldene A mit einem neuen Text:



»PRESS RETURN TO CONTINUE OR SPACE FOR ANOTHER TRANSFER«.



»Wenn wir jetzt auch die anderen beiden Sticks hätten, könnten wir sie jetzt der Reihe nach anschließen und die Dublizierfunktion aktivieren«, sagte Burkhard. »Dann würde es richtig abgehen. Aber dies soll ja nur ein Test sein.« Er schlug wieder die Enter-Taste an, der Schirm blitze einmal komplett blau auf, und dann wurde der ganze Monitor schwarz. Nur noch eine einzige, weiße Textzeile war zu lesen:



»THE END. PRESS RETURN«



Burkhard drückte ein drittes Mal, der Schirm blitzte noch einmal komplett rot auf, und dann war wieder nur der ganz normale Windows-Screen zu sehen, der nach einem Passwort verlangte.



»Und jetzt?«, flüsterte er.

Burkhard stand auf. »Das war´s.«



»Wie, das war´s?«



»Das war alles.« Er bückte sich ächzend und zog den Stick aus dem Port. »Wir sind fertig.«



Er starrte noch immer auf den Monitor. Es sah so aus, als habe es diesen Bildschirm mit dem goldenen A und der dunkelblauen Schrift nie gegeben. Hatte er sich das vielleicht bloß eingebildet? Dann fi

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