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Will Gmehling

NÄCHSTE RUNDE

Die Bukowskis boxen sich durch

Peter Hammer Verlag

„High intensity!“

A. N.

1 Wir waren auf dem Weg zum Boxstudio, Papa und ich, um uns das anzugucken. Es war gleich auf der anderen Seite des Flusses und hieß Butterfly Gym.

„Butterfly …“ Papa lachte. „Schmetterling! Prima Name!“

Er hatte heute frei und musste nicht Taxi fahren.

Ich war aufgeregt. Einmal war ich ja schon da gewesen, allein, um zu sehen, was sie da machten. Und ich hatte sofort gewusst, dass ich genau das auch machen wollte: kämpfen. Mit Armen und Beinen, beides.

Das war schon ein paar Monate her. Das war, bevor wir jeden einzelnen Tag im Freibad waren. Jetzt war der Sommer vorbei, wir hatten schon Ende September. Trotzdem war es noch warm wie im August. Es war so warm, dass die Luft wie ein Mantel war.

In der Halle roch es heftig nach Schweiß. Ein Mann kam auf uns zu, er hatte einen Boxerhaarschnitt. So eine Frisur wollte ich auch haben, so bald wie möglich.

„Ich bin Hamid“, sagte der Mann und gab uns die Hand. Uns beiden. „Ich bin der Chef hier.“

Ich fand ihn sofort gut. Wie er mit Papa redete. Und auch mich immer wieder anguckte, ernst, aber freundlich. Es war klar, er war ein Profi.

Wir setzten uns auf eine Bank an der Wand und guckten zu. Eine Menge Leute trainierten hier, fast alles junge Männer, aber auch ein paar Frauen. Zwei Jungs in meinem Alter. Überall hingen Boxsäcke von der Decke, verschieden große, manche extrem schwer. An der hinteren Wand war der Boxring aufgebaut. Zwei Männer machten Sparring. Das ist, wenn du einen Kampf trainierst.

Alle waren konzentriert und taten, was sie zu tun hatten: auf Boxsäcke einschlagen zum Beispiel, oder seilspringen, Dehnübungen. Hamid zeigte zwei Frauen, wie sie aus der Hüfte heraus schlagen mussten. Sie nickten und versuchten, sich alles zu merken.

Papa saß entspannt neben mir und beobachtete alles genau.

Dann kam Hamid. Er setzte sich zu uns.

„Gefällt mir, was Sie hier machen“, sagte Papa.

„Mir auch“, sagte ich.

Hamid sollte nicht denken, ich wäre ein kleiner Junge, der keine eigene Meinung hat.

„Hier sind Leute aus neunundzwanzig verschiedenen Nationen“, sagte er. „Aus Russland, Argentinien, Schweden, Marokko, Ghana, Afghanistan, Syrien, von überallher sozusagen …“

„Sehr gut“, sagte Papa.

Mir war das mit den Nationen egal, mich interessierte nur, wann ich anfangen konnte.

„Was muss man mitbringen, um hier mitzumachen?“, fragte ich.

„Eine Menge Ausdauer“, sagte Hamid. „Du solltest aber vorher ein- oder zweimal ein Probetraining machen.“

„Und Handschuhe?“

„Das hat Zeit. Komm erst mal zum Probetraining.“

Das brauchte ich eigentlich nicht. Ich war absolut sicher, dass das Butterfly wie geschaffen für mich war. Weil ich aber noch keine Handschuhe hatte, war Probetraining vielleicht gar nicht so dumm. Papa würde mir nämlich erst welche kaufen, wenn sicher war, was ich wollte. Wir hatten ja nicht viel Geld und mussten uns immer genau überlegen, wofür wir es ausgaben.

Auf dem Nachhauseweg pfiff Papa vor sich hin. Das war ein gutes Zeichen.

„Ich hab mir die Preise angeguckt“, sagte er. „Das könnten wir uns leisten.“

„Ich geh gleich morgen wieder hin“, sagte ich.

„Langsam, langsam. Erst müssen wir noch was klären …“

Ich wusste nicht, was es da noch zu klären gab. Es war doch alles geregelt.

„Du bist jetzt in der fünften Klasse“, sagte Papa. „Und wie ich die Sache sehe, wird es nicht leicht werden für dich.“

Das stimmte. Schon in der Grundschule hatte ich eine Menge Probleme gehabt. Auf der neuen Schule würde es garantiert nicht besser laufen. Im Gegenteil.

„Na ja“, murmelte ich.

„Also“, sagte Papa und legte seinen Arm um meine Schultern. „Boxen ist gut. Sehr gut sogar. Aber du wirst trotzdem deine Hausaufgaben machen und all das. Einverstanden?“

„Klar“, sagte ich.

„Und nicht nur so nebenbei. Sondern richtig.“

Ich nickte.

Papa guckte zufrieden.

2 Als wir nach Hause kamen, fühlte ich mich schon fast wie ein Kickboxer. Stark und unbesiegbar. So ähnlich hatte ich mich gefühlt, nachdem ich endlich vom Zehner gesprungen war. Ich, Alfred Bukowski, genannt Alf.

Mama wollte wissen, wie es gewesen war im Boxstudio, und wir erzählten ihr alles.

Katinka hing im Sessel herum und lernte Französisch. Freiwillig. Obwohl sie erst acht war. Das tat sie jeden Tag. Schon seit Monaten.

Robbie saß in der Ecke und sah sich sein Lieblingsbilderbuch an, das mit den Kindern in den Wolken.

Sie interessierten sich überhaupt nicht für mich und meine Boxerkarriere.

„Nu mongschong ün Bujabäß“, las Katinka laut vor. „Das heißt, wir essen eine Südfrankreich-Fischsuppe. Kannst du das auch mal machen, Mama? Und nicht immer so langweilige Sachen wie Spaghetti mit Tomatensauce?“

„Sonst noch was, Fräulein?“, rief Mama aus der Küche.

„Und tu ganz viel Knoblauch rein“, rief Katinka zurück. „Sonst ist es nämlich gar nicht richtig französisch.“

„Da muss man Sit-ups machen, im Butterfly“, erzählte ich. „Und seilspringen. Nicht nur boxen …“

„Ich will zum Fluss und gucken, ob Konrad noch da ist“, sagte Robbie. Wir hatten Konrad im Sommer kennengelernt, auf dem Weg zum Freibad. Er wohnte unter dem Torbogen am Fluss und hatte ein richtiges Bett und auch ein Regal mit Büchern drin. Er sammelte leere Flaschen und holte sich dann bei Penny das Pfand.

„Machen wir, Robbie.“ Das war typisch Papa. Er überlegte nicht lange und fand es auch nicht komisch, dass sein kleiner Sohn einen Obdachlosen besuchen wollte.

Ich wollte Konrad auch gerne wiedersehen, aber das Boxstudio war jetzt tausendmal wichtiger.

„Da war so ein Fitnesstrainer“, erzählte ich, „der war krass gelenkig. Der konnte aus dem Stand zwei Meter hoch springen.“

„Scha noar!“, sagte Katinka und guckte dabei arrogant in ihr Französischbuch. „Schwarze Katze!“

Sie ging mir auf die Nerven mit ihrem Französisch. Alle naselang fing sie damit an, ob man wollte oder nicht. Einmal im Freibad hatte sie versucht, sich mit drei Jungs aus Mali zu unterhalten, aber die hatten sie nur ausgelacht. Seitdem lernte sie noch härter als vorher.

„Sserpong dongscheröh! Gefährliche Schlange!“

Ich setzte mich aufs Sofa und guckte vor mich hin, so wie Robbie das oft machte. Aber das hielt ich nicht lange durch. Jetzt wäre ein Smartphone gut, dachte ich, doch das bekam ich frühestens in zwei Monaten, zum elften Geburtstag. Unser Computer war abgestürzt, und Onkel Carl konnte erst in ein paar Tagen kommen, um ihn zu reparieren. Sonst hätte ich mir jetzt Kickbox-Videos reinziehen können, echte Kämpfe.

Ich dachte an Johanna. Sie fand es bestimmt gut, dass ich ein Boxer wurde. Sie war die Tochter vom Freibad-Chef. Als ich sie zum ersten Mal sah, blendete sie mich wie eine Sonne. Ich reparierte ihr Rad und lud sie sogar einmal ein, in den Kiosk. Ich wollte Johanna gerne wiedersehen. Katinka hatte ihre Telefonnummer, das wusste ich.

„Gib mir mal die Nummer von Johanna“, sagte ich zu ihr. „Ich muss sie was fragen.“

Katinka wollte natürlich wissen, was.

„Was mit Mathe“, sagte ich.

„Glaub ich dir nicht! Mathe interessiert dich doch nicht die Bohne. Bestimmt willst du wieder ein Rendezvous. Oh là là!“

„Geht dich doch nichts an“, murmelte ich.

„Ssänk nöff ssieß troa troa döö ssett“, rief sie und lachte.

„Nicht so schnell“, rief ich zurück. Ich konnte zwar auch schon ein paar Zahlen auf Französisch, aber nur ganz langsam.

„Da kannst du mal sehen, wie wichtig es ist, Französisch zu können“, sagte sie hochnäsig. „Rendezvous geht eben nur für jemanden, der sich da auskennt.“

„5963327“, sagte Robbie. Katinka hatte ihm die Französischzahlen irgendwann im Freibad beigebracht. Und wenn er etwas erst mal wusste, vergaß er es nie wieder.

Ich schrieb die Nummer schnell auf meinen Unterarm, mit Kugelschreiber.

Da kam Mama ins Wohnzimmer. „Katinka“, sagte sie geheimnisvoll, „ich hab eine Überraschung für dich. Am Freitagnachmittag bekommst du Besuch von einer jungen Dame. Sie heißt Lucie.“

Katinka legte ihr Buch zur Seite. „Kenn ich nicht.“

„Sie gibt Nachhilfeunterricht in Französisch“, sagte Mama. „Ich hab mit deiner Klassenlehrerin gesprochen. Sie meint, du bist wirklich begabt, und da haben wir uns gedacht, ein paar Extrastunden könnten bestimmt nicht schaden … Und stell dir vor: Lucie ist eine waschechte Pariserin!“

„Lüßie …“, sagte Katinka und sprach das ganz besonders französisch aus, damit wir alle merkten, wie toll sie das konnte.

Dann guckte sie wieder in ihr Buch und lernte weiter.

3 In meiner neuen Schule war alles ganz anders als in der Grundschule. Mit der Grundschule war ich einigermaßen klargekommen. Ich war nicht gut gewesen in Deutsch, auch nicht in Mathe, ich war in nichts besonders gut außer in Sport. Aber sie ließen mich in Ruhe, weil sowieso klar war, dass ich nicht aufs Gymnasium kam.

Und ich hatte geglaubt, auf der Gesamtschule würde es jetzt so weitergehen. Aber da hatte ich mich getäuscht.

Wir sollten jetzt lernen, selbstständig zu arbeiten. In Eigenverantwortung, so nannten sie das. Ich wusste erst nicht, was sie damit meinten.

Wir mussten uns einen eigenen Stundenplan erstellen und uns selbst überlegen, in welchen Kurs wir wann gehen wollten. Wir mussten in ein Extraheft eintragen, was wir gelernt hatten. Alle zwei Monate sollten wir einen Vortrag zu irgendeinem Thema halten. Und andauernd stand Gruppenarbeit an.

 

Ich hasste Gruppenarbeit.

Papa wollte wissen, warum.

„Weil ich lieber allein was mache“, sagte ich. „Und wenn ich schon in einer Gruppe arbeiten muss, will ich mir die Leute wenigstens selbst aussuchen. Wir werden aber eingeteilt.“

„Und?“, fragte Papa.

„Ich mag die nicht, die in meiner Gruppe.“

„Mmh“, machte Papa. „Das ist schwierig, kann ich mir vorstellen. Ich mag viele von meinen Fahrgästen ja auch nicht. Vor ein paar Tagen war da so ein Schnösel, schicker Anzug, Smartphone in der einen Hand, Laptop in der andern. Sagt, ich soll mich beeilen, er muss seinen Flieger nach Paris noch bekommen. Ich erklär ihm, Stau ist Stau, da kann man nix machen. Man kann immer was machen, sagt er da, fahren Sie doch schneller, Mann.“

„Und dann?“, fragte ich.

„Der Typ regt sich weiter auf, ich aber bleib ruhig wie ein Fels. Bin sogar einen kleinen Umweg gefahren, damit er seinen blöden Flieger garantiert auch verpasst.“

Das fand ich gut.

„Du musst immer der Chef sein, Alf“, sagte Papa. „Auch wenn die Situation gerade mal schwierig ist.“

Ich nickte. Obwohl ich das nur halb verstand.

„Was macht eigentlich Thorben?“, fragte Papa.

Mit Thorben war ich schon in der Grundschule gewesen. Er war der Einzige, den ich da mochte. Ich hatte ihn manchmal auch im Freibad getroffen und ihn einmal zu Hause besucht. Er war oft ziemlich hart drauf. Er sollte erst auf eine andere Schule als ich, auf eine katholische. Das klappte aber nicht. Jetzt saßen wir in derselben Klasse.

„Er ist in einer anderen Arbeitsgruppe“, sagte ich. „Wir sollen nicht in dieselbe, meint Herr Wetzel.“

„Verstehe …“

„Damit wir lernen, uns mit allen auszutauschen …“

„Aha.“

„Morgen geh ich zum Boxen, okay?“

„Okay“, sagte Papa. „Wird echt Zeit!“

Am nächsten Tag brachte ich die Schule hinter mich und auch die Gruppenarbeit. Ich war nur halb bei der Sache, weil ich andauernd ans Boxen dachte. Ich wusste, ab jetzt würde sich einiges ändern. Zum Glück.

Ich machte schnell meine Hausaufgaben. Mama war gerade erst aus der Bahnhofsbäckerei gekommen, in der sie arbeitete. Sie war müde. Trotzdem sah sie sich alles genau an.

„Du hast vielleicht eine Sauklaue“, stöhnte sie. „Wer soll das denn lesen? Und Mahlzeit schreibt man mit h!“

Das war mir völlig egal. Ich tat aber so, als würde es mich interessieren. Ich hatte ja versprochen, mich weiter um die Schule zu kümmern. Ich radierte das ganze Wort weg und schrieb es neu.

Mama fielen noch ein paar andere Wörter auf, die falsch geschrieben waren. Ich korrigierte alles. Dann zog ich los.

Man muss nur kurz über die Eisenbahnbrücke, dann fährt man rechts den Weg rein durch das Industriegebiet. Da ist das Boxstudio. Man macht die schwere Eisentür auf und geht den Gang lang. Man hört, wie jemand auf einen Boxsack einschlägt. Man hört die Leute was rufen. Es riecht nach Sport und fairem Kampf. Sofort bist du, wo du sein musst. Als hättest du immer schon hierher gehört.

Ich war pünktlich. Hamid winkte mir kurz zu, er stand bei zwei Jungs und zeigte ihnen, wie man vor dem Spiegel trainiert. Schattenboxen. Ich ging in den kleinen Umkleideraum und zog mich um.

Jetzt stand ich da, in Trainingshose, T-Shirt und Turnschuhen, und wusste nicht, wie weiter.

Im Ring arbeiteten zwei Männer, der eine mit Pratze, der andere schlug darauf ein.

Ich wollte das auch. Sofort.

Aber es kam anders.

„Du gehst da nach drüben“, sagte Hamid und zeigte in die hinterste Ecke. Dort saßen ein paar Kinder, die meisten kleiner als ich, mit einem jungen Trainer. Sie machten Dehnübungen. Ich setzte mich dazu und machte mit. Aber ich fand das langweilig. Ich wollte kämpfen und nicht Kinderyoga machen.

Ich gab aber trotzdem mein Bestes, ich streckte und reckte mich. Der Trainer war zufrieden. Er hieß Alex und gab mir die Hand.

„Schon ganz okay für den Anfang. Aber du bist noch etwas steif in der Hüfte.“

Das hatte ich nicht gewusst. Um meine Hüfte hatte ich mich nie gekümmert.

„Kommst du jetzt regelmäßig?“, fragte er.

„Ja, klar, immer!“ Ich war mir absolut sicher. Kinderyoga hin oder her.

Danach mussten wir im Kreis laufen, hübsch hintereinander. Endlos. Ich fing an zu schwitzen. Dann sprangen wir aus dem Stand nach oben, zehnmal, zwanzigmal, das war echt hart. Alex beobachtete uns genau, und wenn jemand nicht hoch genug sprang, rief er: „Das ist Ausdauertraining! Gebt euch Mühe! Höher, höher!“

Am Ende durften wir endlich boxen.

Ich war der Einzige, der keine Handschuhe hatte, also holte Hamid welche aus einem Schrank und gab sie mir. „Die leihe ich dir für heute“, sagte er.

Ich hatte noch nie Boxhandschuhe angehabt, Hamid half mir beim Anziehen. Es fühlte sich gut an, als er den Klettverschluss festmachte, so gut! Glatt spannte sich das schwarze, glänzende Leder um meine Faust.

Der Boxsack war schwerer, als ich geglaubt hatte. Als ich dagegenschlug, bewegte er sich fast gar nicht. Also schlug ich kräftiger zu, er baumelte ein bisschen vor und zurück, als würde ihn das langweilen. Ich schlug mit aller Kraft – und als der Sack sich endlich in Gang setzte, prallte er so stark zurück, dass er mich traf und ich nach hinten taumelte. Die andern aus der Gruppe lachten. Hamid nicht.

„Immer den Gegner mit einberechnen“, ermahnte er mich. „Immer konzentriert sein!“

Er zeigte mir die ersten Schlagtechniken und wie ich dabei zu stehen hatte. Die richtige Deckung. Und schon nach ein paar Minuten wurde ich müde.

Zum Schluss sollten wir uns alle hinlegen, auf unsere Handtücher, und entspannen. Ich hatte aber keins.

„Das nächste Mal hast du ein Handtuch dabei“, sagte Hamid. „Ein Sportler hat immer ein Handtuch.“

Jetzt war ich also ein Sportler.

4 Bevor ich ging, drückte mir Hamid einen Aufnahmeantrag in die Hand.

„Gib den deinen Eltern“, sagte er. „Aber überlegt euch noch mal gut, ob das auch echt was für dich ist. Boxen muss man wirklich wollen.“

Er guckte mich ernst an, dann lächelte er.

„Ich denke, von deiner Seite gibt es da keine Zweifel, oder?“

„Nein“, sagte ich. „Überhaupt keine.“

„So muss das sein!“ Er gab mir die Hand. „Dann also hoffentlich bis bald!“

Als ich zurückfuhr, machte ich auf der Brücke kurz Halt. Neben mir donnerte ein Güterzug über die Gleise. Die Sonne ging unter und brachte den Fluss zum Leuchten. Ich dachte an die vielen Male, an denen wir im Sommer am Fluss entlang nach Hause gegangen waren, Robbie, Katinka und ich. Wir mussten zu Fuß gehen, weil Robbie nicht Rad fahren sollte, er guckte ja immer irgendwohin, zum Beispiel in die Wolken. Dann krachte er gegen ein Verkehrsschild oder eine Ampel und fiel vom Rad.

Robbie. Er ging jetzt in die zweite Klasse. Er kam ziemlich gut mit, obwohl er die meiste Zeit vor sich hin träumte oder an die Wand schaute, auch wenn da nichts war. Jedenfalls nichts für uns. Für ihn schon. So ist das manchmal auch bei Katzen. Sie sehen was, was du nicht siehst.

5 Als Lucie zum ersten Mal kam, waren wir alle zu Hause. Wir waren natürlich neugierig.

Mama hatte im Internet ein Inserat aufgegeben: Suchen Französisch-Nachhilfe für unsere Tochter. Es hatten sich ein paar Leute gemeldet, aber Lucie hatte Mama am besten gefallen.

„Sie hat so was Frisches. Und ich finde gut, dass sie gleich gesagt hat, sie hätte noch nie jemanden unterrichtet, aber dass sie das sehr interessiert. Die andern haben nur damit angegeben, wie toll ihre Zeugnisse sind und ihre Diplome.“

„Ich wusste ja, dass ich irgendwann bald eine echte Parisfrau kennenlernen würde“, sagte Katinka.

„Woher das denn?“, fragte ich.

„Das weißt du einfach, wenn es so weit ist“, behauptete sie.

„Ich will ins Freibad“, sagte Robbie. „Und danach Konrad treffen.“

„Freibad ist zu, Schätzchen“, sagte Katinka.

Robbie sah aus, als würde er gleich anfangen zu heulen. „Das ist gemein! Weil es nämlich immer noch so sommerig warm ist.“

„Wenn ich mal Model bin“, sagte Katinka, „hab ich wahrscheinlich einen eigenen Pool. In Frankreich. Am Meer. Da darf jeder rein, den ich mag. Besonders Johanna …“ Sie lächelte eingebildet.

Ich war schon wieder wütend auf sie. Weil sie immer so tat, als wäre Johanna ihre Freundin und nicht meine. Am liebsten hätte ich ihr eine Kopfnuss verpasst.

Doch da klingelte es. Mama ging zur Tür.

Lucie hatte lange, lockige Haare. Sie hatte dicke Stiefel an und einen hellroten Rock.

„Bongschur“, sagte sie. „Ich bin Lucie.“

„Bongschur, Madamm!“, sagte Katinka. Wir andern sagten Hallo und Guten Tag. Alle gaben ihr die Hand.

Wir setzten uns an den Tisch und tranken Kaffee und Kakao. Lucie sprach die ganze Zeit Deutsch, aber auf französische Art. Sie sah schön aus, mit ihren braunen Augen, ihrer Halskette und den lackierten Fingernägeln. Nicht so schön wie Johanna, aber immerhin.

Katinka guckte sie die ganze Zeit an. Es war klar, dass sie Lucie toll fand. Sie sagte was auf Französisch, einen ganzen Satz, und Lucie klatschte begeistert in die Hände.

Katinka strahlte sie an. Dann verzogen sie sich in unser Kinderzimmer. Für eine ganze Stunde.

Als sie wieder rauskamen, sagte Lucie zu Mama und Papa, Katinka würde schon sehr gut sprechen und das mit der Grammatik würde sie auch leicht hinbekommen.

„Das ist eine Klacks“, sagte sie. „Für eine Mädchen, die noch ist so jung, sie ist echt … wie sagt man? … außergewohnt?“

„Kennst du Konrad?“, fragte Robbie.

Lucie kannte ihn nicht. Robbie erzählte ihr von ihm. In ein paar kurzen Sätzen. Aber für ihn war das schon sehr viel. Robbie legte sich mächtig ins Zeug.

„Ich auch lebe von dies und das“, sagte Lucie. „Ich arbeite in eine Bar am Abend. Und manchmal am Morgen in eine Bioladen.“

„Kommen Sie halbwegs über die Runden?“, fragte Papa.

Lucie sagte, ja, so gerade würde sie durchkommen, und dass sie bei ihrem Freund wohnte, in einer kleinen Wohnung.

„Lucie schreibt ein Buch“, sagte Katinka. „Sie ist nämlich eine echte Schriftstellerin. Das Buch handelt von einem Mann, der schon seit über tausend Jahren tot ist. Oh là là!“

Papa wollte wissen, von welchem Mann.

„Von einem Chinamann“, antwortete Katinka, obwohl sie gar nicht gefragt worden war. „Der wohnte in einer Hütte in den Bergen. Da gab es Tiger!“

„Ja, das stimmt“, sagte Lucie. „Und er hat sich gemacht Gedanken über das Leben und alles.“

„Was denn für Gedanken?“, fragte Mama.

„Ach, so das und dies.“

„Zum Beispiel?“, fragte Papa.

Lucie zog ein Buch aus ihrer Tasche und las vor:

„Im Himmel und auf der Erde kann es nichts geben, das mehr wert ist als das andere neben ihm. Der Kaiser ist nicht größer als die Libelle. Der unscheinbare Kieselstein ist wie der reichste Fürst.“

„Finde ich auch“, sagte Robbie und guckte an die Wand. Junge, wenn ich nur wüsste, was er da immer sieht.

6 Am Abend unterschrieben Papa und Mama den Box-Vertrag. Jetzt war alles in trockenen Tüchern.

Wir saßen beim Abendessen. Katinka war natürlich immer noch stolz wie Oskar wegen Lucie und nervte uns mit Französischvokabeln.

„Jetzt ist aber mal genug“, beschwerte sich Mama.

Katinka hörte gar nicht darauf. „Ssiel, Himmel. Tärr, Erde“, sagte sie.

Papa lachte. Mama ärgerte sich.

Ich erzählte schnell was vom Boxen, ich war ja jetzt Fachmann. Robbie verschüttete seinen Saft. Katinka plapperte inzwischen irgendwas von wegen Germany’s next Topmodel. Papa regte sich auf, weil Alfonso Blasio schon wieder eine rote Karte bekommen hatte. Mama erzählte, dass es in der Bahnhofsbäckerei jetzt einen neuen Chef gab.

So war es immer bei uns. Wir kannten es nicht anders. Alle redeten durcheinander.

Deshalb achteten wir auch nicht besonders darauf, als Mama das mit dem neuen Chef erzählte.

„Der hat irgendwas vor“, sagte sie. „Der will bestimmt was ändern. Der hat einen eiskalten Blick.“

„Frau Knöppke-Dieckmann guckt ja immer wie ein trauriger Hund“, sagte Katinka. „Kein Wunder, bei den Säcken, die sie immer anhat.“ Andauernd machte sie sich lustig über ihre Klassenlehrerin.

 

„Ach, der wird schon merken, was er an euch hat“, sagte Papa zu Mama. „Karin, Ayshe, Gül und du, ihr seid doch ein super Team.“

„Aber der hat was vor …“, murmelte Mama.

„Frau Knöppke-Dieckmann war in den Ferien auf Mallorca“, erzählte Katinka. „Da hat sie einen Tintenfisch gegessen und musste zwei Tage lang kotzen.“

„Sich übergeben heißt das“, verbesserte Mama sie streng.

„Bei mir heißt das, wie das bei mir heißt“, sagte Katinka und warf sich eine Scheibe Käse auf ihr Brot. „Das bestimme ich selber.“

Am nächsten Tag fuhr ich wieder ins Butterfly. Es regnete, und ich kam klatschnass an. Ein bisschen war ich jetzt schon zu Hause hier und kannte mich aus. Ich hatte diesmal auch ein Handtuch dabei. Nur Boxhandschuhe hatte ich noch keine. Papa und ich wollten erst am nächsten Tag losgehen, um welche zu kaufen.

Ich war zuerst wieder in der Kindergruppe. Danach aber machten wir mit den Großen Seilspringen und Sit-ups. Ich schaffte gerade mal zehn, danach war ich fix und alle. Das Mädchen neben mir machte locker das Dreifache.

„Du darfst nicht schlappmachen“, rief der Fitnesstrainer mir zu, er hieß Ismail. „Wenn du schlapp bist, hast du ein Problem.“

Ich machte noch fünf Sit-ups dazu, dann war ich endgültig am Ende.

„Da ist noch Luft nach oben“, sagte Hamid. „Aber mach dir nix draus. Das kommt schon.“

Ich nickte und gab ihm den Vertrag. Er guckte zufrieden, und wir schüttelten uns die Hand.

Junge, was war ich froh, hier gelandet zu sein. Das Butterfly war ziemlich heruntergekommen, von den Wänden blätterte der Putz, und aus den Duschen kam nur ein dünner Strahl. Aber egal. Hier war alles richtig: die Leute, die Boxsäcke, der Ring, der große Spiegel. Sogar die schäbige Umkleide fand ich gut.

So ist das, wenn du wo richtig bist. Du findest alles gut, auch wenn es alt aussieht.

Ein paar Männer hier waren noch älter als Papa. Trotzdem hauten sie auf den Boxsack ein wie verrückt, und dabei tropfte ihnen der Schweiß von der Stirn wie mir vorhin der Regen.

Hamid war auch schon alt, ich meine, nicht wie Herr Mahlstedt, aber immerhin.

Herr Mahlstedt wohnte bei uns gegenüber. Er nahm nie den Fahrstuhl, sondern schleppte sich die Treppen rauf in den dritten Stock und ächzte dabei. Wir mochten ihn. Er lachte uns immer an und schenkte uns manchmal einen Euro, einfach so.

„Der hat einen eisenharten Willen“, sagte Katinka. „Der gibt nie auf.“

Vor zwei Wochen hatte er aber kurz mal aufgegeben. Da war er im ersten Stock zusammengebrochen. Der Krankenwagen war gekommen. Seitdem lag er im Marienspital und hatte Schläuche im Mund und in den Armen. Daran dachte ich, als ich wieder auf der Brücke stand und ins Wasser sah. Untendurch fuhr ein Lastschiff. Sie hatten ihr Auto mit an Bord und auch ein Fahrrad. Und dann las ich, wie es hieß, das Schiff.

Vorne seitlich am Bug stand groß: JOHANNA.

Johanna!

Ich winkte dem Mann zu, der an der Reling stand und irgendwas arbeitete. Er winkte zurück.

Dann fuhr ich nach Hause.

7 Die Telefonnummer von Johanna war schon fast ab, nur noch ganz blass stand sie auf meinem Arm.

Bei uns zu Hause kann man eigentlich nie in Ruhe telefonieren. Immer ruft jemand was dazwischen oder kommt vorbei und rempelt einen an.

An diesem Abend hatte ich Glück. Katinka war im Kinderzimmer und lernte, Robbie saß in seiner Lieblingsecke und guckte sich Bücher an. Mama und Papa versuchten, eine echt französische Zwiebelsuppe zu kochen, extra für Katinka, damit sie endlich Ruhe gab.

Ich stand vor unserem Uralt-Telefon im Flur, so eins mit Kabel. Ich drückte auf die Tasten.

Es klingelte ein paarmal. Dann ging jemand ran. Es kam, wie es kommen musste. Es war das Walross, Johannas Vater.

Er hieß so, weil er einen Riesenschnauzbart hatte wie ein Walross und auch so dick war.

Er war der Chef vom Freibad. Jeden einzelnen Tag hatte er uns beobachtet – und wir ihn. Wie er mit seinen Kollegen Kaffee trank oder die Jungs aus Mali anschnauzte, weil sie vom Beckenrand gesprungen waren. Einmal hätte er uns um ein Haar erwischt, nachts, als wir heimlich im Freibad waren. Wir hatten dermaßen Schiss! Am letzten Tag war er plötzlich nett geworden. Es gab Bratwurst und Limo, weil die Saison zu Ende war, und er lud uns zusammen mit den anderen Stammgästen ein.

„Scholze“, bellte das Walross.

„Hier ist Alf“, sagte ich.

„Was für’n Alf?“

„Ich, Alf … Sie wissen doch … Ich hab mal Johannas Rad repariert, zweimal sogar, im Freibad, und …“

„Und was?“

„Könnte ich sie mal … sprechen?“

„Warum?“

Das ging ihn nichts an, und ich ärgerte mich. Trotzdem machte ich auf nett und sagte, es wäre wegen der Schule.

Das Walross bellte Johannas Namen und knallte den Hörer irgendwo drauf.

Es dauerte ein bisschen, dann war Johanna dran.

„Hallo“, sagte sie.

„Hallo“, sagte ich zurück.

„Wer ist da?“, fragte sie.

Ich sagte meinen Namen.

Dann war erst mal Pause. Ich wusste nicht, wie jetzt weiter. Ich hatte gehofft, sie würde so etwas rufen wie: „Oh, Alf, ich hab soooo lange auf deinen Anruf gewartet. Endlich!! Sehen wir uns bald??“ Aber das war nicht so.

„Wie geht’s?“, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.

„Ganz gut“, sagte sie. „Und dir?“

„Ganz gut“, antwortete ich. Wie doof war das denn!

„Was willst du?“, fragte sie. Gute Frage.

„Dich … einladen“, sagte ich. Das hatte ich im Sommer schon mal gemacht, im Freibad. Es hatte wie verrückt geregnet.

„Okay“, sagte sie nur. Ganz langgezogen. Gelangweilt.

Ich hatte vor, sie zu einem Eis einzuladen. Obwohl: Ich hatte überhaupt kein Geld dafür. Aber das konnte ich später noch klären, mit Papa oder Onkel Carl.

„Ich kann euch ja mal besuchen“, schlug Johanna vor.

Alter! Uns besuchen! In unserem Chaos. Wahrscheinlich wollte sie sich mit Katinka unterhalten. Meine Schwester war zwar erst acht, aber die beiden fanden einander ziemlich gut.

„Okay“, sagte ich und gab mir Mühe, genauso gelangweilt zu klingen.

„Na ja, wenn du keine Lust hast …“, sagte sie.

„Doch, doch“, sagte ich schnell. „Übrigens, ich bin jetzt ein Boxer!“

„Ein was?“

„Ein Kickboxer! Mit Boxhandschuhen und all so was. Ich trainiere eisenhart!“

„Cool“, sagte Johanna. Mehr nicht.

Wir verabredeten uns für Samstag.

Nach dem Auflegen guckte ich ins Wohnzimmer und in die Küche. Überall war was los, nirgends konnte man allein sein. Alleinsein, das war es aber, was ich jetzt brauchte. Doch das ging nicht. Nicht hier in der Wohnung.

Ich zog meine Jacke an und sagte zu Mama, ich müsste schnell noch raus, um mein Rad reinzuholen. Sie wunderte sich, weil ich das sonst erst tat, wenn sie mich mindestens dreimal dazu aufgefordert hatte.

Ich ging also los, an die frische Luft, ins Freie. Es regnete ein bisschen, aber das war mir egal.

Da wo wir wohnen, gibt es einen Parkplatz. Es gibt zwei Supermärkte und einen Dönerladen. Es gibt die Bushaltestelle und ein paar Geschäfte, die leer stehen. Sonst gibt es nicht viel.

Nirgends kann man sich hinsetzen und für sich sein. Um nachzudenken oder einfach vor sich hin zu gucken.

Ich wollte schon wieder zurück, als mir mein alter Spielplatz einfiel. Es war nicht weit, nur bis zum Ende des nächsten Blocks und dann um die Ecke.

Mein alter Spielplatz sah immer noch aus wie früher. Zwei Rutschen, eine große und eine kleine. Die rostige Wippe. Ein Klettergerüst. Schaukeln. Eine Sandkiste.

Ich setzte mich oben auf die große Rutsche. Früher, ich meine, mit vier oder fünf, war das extrem hoch gewesen. Das wusste ich noch. Und mir fiel auch das Gefühl ein, wie es war, wenn es abwärtsging. Unten stand Papa und fing mich auf, zumindest am Anfang. Irgendwann hatte er gesagt, das würde nun reichen, ich würde das auch allein schaffen.

Jetzt saß ich also hier oben und dachte an früher und wie lange vorbei das alles war. Nichts mehr davon war da. Es regnete mir auf den Kopf.

Ich dachte an Johanna. Ans Boxen. An meine neue Schule. Dann wieder an Johanna. Alles durcheinander. Ganz allein für mich, das tat gut.

Dann gab ich mir einen kleinen Ruck und ließ mich nach unten gleiten.

Als ich nach Hause kam, fragten sie mich, wo ich gewesen war. „Bin noch ein bisschen spazieren gegangen“, sagte ich.

„Spazieren gegangen?“, fragte Mama.

Papa zwinkerte mir heimlich zu, so unter Männern, und lächelte dabei. Vielleicht hatte er mitbekommen, mit wem ich vorhin telefoniert hatte.

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