Ypsilon

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Werner Siegert

Ypsilon

Ein psycho-phänomenaler Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das erste Mal

Thekla

Geht es auch anders herum?

Der Brief der C.

Pyramus und Puppi

Alles Kirlian?

Nun auch noch mit Elektroden

Von Chakren und Meridianen

Messen in der Messe

Nachspiel und Vorspiel

„summa cum laude“ mit Y

Was war mit Elena?

Die Rasterfahndung schlägt zu

Das Geständnis

Der Besuch

Impressum neobooks

Das erste Mal

Nein, meinen Namen sage ich Ihnen nicht. Auch nicht später. Dann würde man mich vielleicht in falsche Zusammenhänge bringen. Vielleicht wäre ich dann plötzlich ein Puzzleteil bei einer Rasterfahndung und könnte mich nicht wehren. Ich müsste einen Unschuldsbeweis erbringen, ohne die Schuld zu kennen.

Nein, nennen Sie mich auch nicht X. Das ist ein durchge-ixter Mensch, durchgestrichen, sieht aus wie ein Strichmännchen ohne Kopf. Den Buchstaben Y mochte ich schon als Kind viel lieber. Zum Beispiel hätte ich gern einen Namen mit Y gehabt. In ein Mädchen in meiner Grundschule habe ich mich spontan verliebt, weil sie Sybille hieß. Sie war nicht hübsch oder klug, aber sie hatte ein Y im Namen. Auch in eine Yvonne hätte ich mich verliebt. Aber wann trifft man schon eine? Ich habe alle Bürger von Yverdon in der Schweiz beneidet, weil sie in einer Y-Stadt wohnen dürfen. In Berlin hätte ich gern am Savignyplatz gewohnt, obwohl da später viele Bomben gefallen sind. Heute ist zwar alles wieder aufgebaut, aber so schön, wie es einem Platz gebühren würde, der ein Y im Namen trägt, sicherlich nicht. Wenigstens hält ein Bus dort und es gibt umtriebige Kneipen und Weinlokale.

Aber Y sollten Sie mich eigentlich auch nicht nennen; denn das würde wieder einen falschen Verdacht auf mich lenken. Denn das Ypsilon ist ein sexuelles Symbol. Gleich könnten wieder ein paar neunmalkluge Herausfinder die Rasterfahndung auf mich ansetzen. Und dann - siehe oben.

Mein Psychotherapeut lässt ein Tonband mitlaufen. Er hat vorher gefragt. Es geht in Ordnung. Irgendso eine arme Stenotypistin - oder heißt das jetzt Sonotypistin? oder Audio-Typistin? - muss dann seitenlang alles abschreiben. Angeblich will man aus den vielen Wörtern, Sätzen und Satzzeichen, Absätzen und insbesondere aus den Stellen, an denen ich meinen Redefluss stoppe und hüstele, herausfinden, was mit mir los ist.

Eigentlich ist mit mir gar nichts Besonderes los. Ich gehe auch einem normalen Beruf nach. Die Leute dort sollen aber nicht wissen, dass ich zu einem Psychotherapeuten geschickt worden bin. Die denken dann gleich, der ist blöd, hat ein geistiges Schepperle, einen Ypsilonkomplex oder kann sich von seiner Mutter nicht lösen, und dann ist kein Weiterkommen mehr. Deshalb bitte auch nicht schreiben "Der T.", denn dann gehen die ihre ganze Kartei durch. Auch die amerikanische NSA! Haben wir einen "T."? Einen, der Ypsilons mag? Der sich früher mal in eine Sybille verliebt hat? Ja, und erst, wenn die dann lesen, was mir Fragezeichen aufgibt. Ach, so einer ist das. Der ist möglicherweise, jedenfalls könnte er jetzt oder irgendwann, man weiß ja nie, gefährlich werden. Der fasst dann eine Frau an, am Arm oder schlimmer. Das steht dann in BILD und unsere PR-Abteilung muss Abertausende von Euro aufwenden, um so einen Schmuddelfleck am Firmenimage wieder wegzuwienern. Also das mit dem "T." war natürlich eine falsche Spur. Auch bei "L." oder "S." nichts als Fehlanzeige. Vielleicht müsste der Kollege Ludwig darunter leiden. Der sieht so gerne "Aktenzeichen XY - ungelöst!" Aha doch, siehe mal da, ein Ypsilon!

Nein, lasst den Ludwig in Ruhe. Selbst wenn er mit Yvonne verheiratet wäre und schon mal dem herrlichen Wackelpo von unserm neuen Lehrling nachgeschaut hätte - er wäre nicht identisch mit mir.

Sie haben ja ganz schön Geduld, wenn Sie bis hierher gelesen haben. Soll ich mich Ihnen offenbaren? Also ihm, dem Psycho, und Ihnen, der Bandabschreiberin und all jenen, die dazu verdammt werden, ihre schöne Zeit diesem Lesestoff zu widmen und dabei noch klug herumzugrübeln? Vielleicht finden die ja dann noch ein tolles Kürzel für mein Leiden, das aber auch gar kein Leiden ist, sondern eher ein Freuden. PFMS - wissen Sie, was das heißt? Nein? Also es gibt Leute, die im Schlaf oder sonst wann, wenn ihre Füße nicht durch Stiefel oder einen ICE-Sitzplatz gefesselt sind, ständig ihre Füße bewegen. Rechts nach links, links nach rechts, kreisen, gegen den anderen Fuß reiben, sich selber kitzeln. Also das ist PFMS - zu Deutsch: Permanent-Feet-Moving-Syndrom. Patsch, da hat das einen Namen und kann in "Psychologie heute" oder in der "Neuen Revue" oder in "HÖR ZU" thematisiert werden. Was hat so einer für eine Macke abgekriegt? Sexueller Missbrauch als Kind? Frostbeulen? Zu kurze Bettdecke? Oder ist er ein Sportaholic, der auch im Schlaf noch Fitness betreiben will? Erinnert er sich fröhlich-traumatisch an Babyzeiten, in denen die Mama die Füße nach dem Pudern gekitzelt hat. Oder ist das schon Missbrauch? Träumt er, über glühende Kohlen zu gehen oder gehen zu müssen? So was muss man ja heute im Management-Training gemacht haben, sonst keine Karriere. Ist das eine symbolische Vorbereitung für später, wenn man dem Vorstandssprecher auf glühenden Kohlen mitteilen muss, dass seine Entscheidung sich leider sehr, sehr verlustreich ausgewirkt hat? Also denken Sie mal nach, wenn Sie unter PFMS leiden, ob Sie sich nicht mal bei einem Talkmeister, bei Pastor Fliege oder bei Frau Schreinemakers outen sollten.

Vielleicht habe ich meine Geschichte zu flapsig begonnen. Jetzt glauben Sie sicher, ich mache hier nur Witzchen und erzähle, was die Kölner Dönekes nennen. Wie kriege ich Sie jetzt nur von dieser strahlenden Dur-Tonart in das eher geziemende H-moll? Und vom Scherzo (spricht man Skerzo!) zum Adagio? Ich empfinde diese Macke ja auch gar nicht als Macke, sondern als Bereicherung. Als etwas, was ich kann oder mir geschenkt worden ist vom lieben Gott, was andere nicht haben. Oder doch? Schreiben Sie mir? Aber ich will keine Selbsthilfegruppe bilden. Auch keine Facebook-Gruppe! Nein, ganz bestimmt nicht. Nie! Ich will mit dem, mit meinem Syndrom, wie auch immer es irgendwann benannt wird, allein bleiben. Am liebsten würde ich jetzt hier aufstehen, rausgehen und nie mehr wiederkommen. Aber das nennt der Psycho Flucht. Ich glaube, er will mal berühmt werden. Dann tauft er das ein Strakhooven-Syndrom und geht in die Fachliteratur ein und in die HÖR ZU. Hat ein Mensch eigentlich ein Urheberrecht an seiner Macke, wenn er sie nachweislich zum ersten Mal hat, als einziger, der bekannt ist unter dem Firmament? Kann er nicht das Benennungsrecht dafür beanspruchen und das Copyright? Oder begreift sich der Psycho als Schatzgräber? Ich bin der Sand, der Kies, der Lehm - und meine Macke der Schatz? Aber meine Geschichte gehört mir. Nur, wie macht ein Namensloser seine Rechte geltend?

Wann war das zum ersten Mal? Können Sie sich erinnern? fragt der Psycho. Achtung - jetzt wird es ernst und seriös. Wir wechseln von Dur zu Moll. Denn das, was sich da ereignet hat, war geheimnisvoll, rätselhaft und irgendwie sehr schön. Wann zum ersten Mal? Das weiß ich noch. Aber wie alt ich damals war, weiß ich nicht. War mir nicht so wichtig. Ich wusste auch nicht, ob es nur ein einmaliges Ereignis sein würde. Und danach ein NIE MEHR. Es gab ja auch eine lange, lange Pause. Also jedenfalls war ich schon in der Mitte der Jahre. Tatort: S-Bahn, Linie 7, Fahrtrichtung glaube ich Marktoberdorf. Sommer. Morgens. Proppenvoll. Stehplatz schon halb im Gang. Vor welcher Haltestelle? Nein, das sage ich jetzt nicht. Ypsilonsüchtig, witziger Typ, erzählsüchtig, S-Bahn Linie 7, morgens, also Fahrt zum Arbeitsantritt, Richtung Stadtmitte. Fängt nicht mit T oder S an. Auch nicht mit L. Liest "Psychologie heute", eventuell auch die "Neue Revue". Rasterfahndung. Noch ein paar Eitzes (wie schreibt man das, Typistin?) mehr und die haben mich im Fadenkreuz.

Passiert ist eigentlich nichts. Gar nichts. Also ihr nichts. Sozusagen mir was, ihr nichts. Ich stand mit Blickrichtung Nord beziehungsweise. nach einiger Fahrtstrecke schienengebunden Nordost, dann Ost. Normale Kleidung für einen Sommertag. Business-Kleidung, ich. Arm ein wenig angewinkelt, weil ich Halt an einer Stange gesucht habe. Auf einmal wird mir am Oberarm heiß. Angenehm heiß, nein, eher warm. Etwas wärmer als warm. Jetzt weiß ich: wohlig warm. Erst dachte ich, ein Sonnenstrahl sei zwischen den Hochhäusern hindurch über die Straßen und Schuppen hinweg in die S-Bahn geschlüpft und dort direkt auf meinen Oberarm. Eher Ellenbogen. Es ist nicht leicht, sich genau zu erinnern. Aber da war kein Sonnenstrahl. Es war nur diese Wärme, die mich zwang, nach der Ursache zu forschen. Die Ursache war der Arm eines Schulmädchens, vielleicht 12 Jahre alt. Sie trug eine weiße Bluse mit langem Arm. Also kein Hautkontakt. Aber von ihrem Arm wanderte zu meinem eine deutlich spürbare, wohlige Wärme, wie eine Strahlenbehandlung. Aber sie spürte nichts. Sie schaute mich gar nicht an, ließ ihren Arm in dieser Haltung, unterhielt sich mit anderen. Ein hübsches Mädchen mit dunklen, langen, lose geflochtenen Haaren, etwas sonnengebräuntem Teint, und Gottseidank ohne Nasenring und andere Piercings. Die Wärme flackerte, wurde mal mehr, mal weniger und wieder mehr. Dabei waren, weil ich jetzt genauer hinschaute, zwischen ihrem und meinem Arm mindestens zwei oder gar drei Zentimeter Abstand. Und doch diese unbeschreiblich schöne Wärme, die auch noch eine kleine Weile anhielt, als sie schon ausgestiegen war.

 

Ich taufte sie Monika, ganz spontan, weil mir Monika wie ein herrlich warmer Mädchenname erscheint. Das O darin ist wie eine Sonne. Warum nannte ich sie nicht Mony? Nein, das ist zu nahe an money. Übrigens - ich habe Monika bewusst nie wiedergesehen. An meinem Zielort ging ich gleich auf die Toilette, zog mein Jackett aus, krempelte den rechten Ärmel hoch, um zu schauen, ob da eine Rötung wäre. Irgendetwas Auffälliges. Da war nichts. Leider auch nicht mehr Monikas Wärme. Ach, Monika, wenn dich das doch nur erreichen könnte: Vielen, vielen Dank!

Auf einmal dachte ich, dass Liebe eine unwillkürliche Strahlenwirkung entfalten könne; denn Monika war sehr, sehr liebenswert, vom Aussehen her, von ihrer Mimik, ihren Bewegungen. Ihr Lachen war schon eine Liebe wert. Selbst ihre Schultasche hatte Charme. Aber sie war ein Kind! Schlimm genug. Ahnen Sie jetzt, weshalb ich meinen Namen nicht nenne?

Also, um ehrlich zu sein, ich habe natürlich versucht, das Mädchen noch einmal wiederzusehen. Nein, so wahnwitzig war ich nicht, dass ich glaubte, noch einmal so in ihre Nähe zu gelangen, dass wieder ein Wärmestrom durch ihre Bluse über zwei, drei Zentimeter S-Bahn-Luft und dann durch meinen Sommeranzug hindurch fließen könnte. Wissenschaftler erkennen ja nur dann Entdeckungen an, wenn sie wiederholbar sind. Insofern wäre es schon aufschlussreich gewesen. Nein, ich musste damals öfter zur gleichen Zeit die gleiche Strecke fahren, stieg also mit Bedacht wieder in den - so meinte ich jedenfalls - gleichen Waggon. Dort schnatterten auch Schulmädchen in Monikas Alter lautstark durcheinander. Es ging wohl um irgendeine Popgruppe, die abends im Fernsehen aufgetreten war. Aber die Monika, die ich in meinem Herzen trug, seit mir der Wärmestrom den Kopf verwirrt hatte, war offensichtlich nicht dabei. Oder hatte sie eine andere Frisur? Ihre schönen, dunklen Haare hochgesteckt? Zu einem Dutt verflochten? Wie gesagt, bewusst sah ich die Monika nie wieder. Vielleicht auch gut so.

Was mir oftmals seither durch den Kopf gegangen ist, war, dass ich zuerst den Wärmestrom empfunden hatte und dann erst das Mädchen erblickte. Wäre der Wärmestrom ein Liebesstrom, so hätte ich die Monika ja erst anschauen und in ihrem Frohsinn erleben müssen. So aber hätte es ja sein können, dass die Wärme auch von einem Mann, von einer verpackten Pizza oder einer heißen Bockwurst ausging. Später habe ich dann die ganze Sache vergessen. Sie hat sich in meiner Erinnerung verwaschen.

Bis die Sache mit dem anderen kleinen, blonden Mädchen passierte. Auch in der S-Bahn. Sie war nun viel, viel kleiner. Ich schätze, sie war vier, vielleicht auch erst drei Jahre alt. Sie stieg mit ihrer Mutti ein, krabbelte auf den Sitz vor mir am Fenster. Sofort wurde mir wieder warm; nicht warm ums Herz, wie man so sagt, sondern physisch warm. Wenn ich ein Thermometer dabei gehabt hätte, ich wäre sicher gewesen, das Quecksilber wäre um sechs, sieben, vielleicht zehn Grad nach oben gestiegen. Dabei hatte mich der Goldschopf noch gar nicht angesehen, sondern seine Nase an der Scheibe plattgedrückt; wie es halt Kinder so gern tun. Dann aber lächelte mich die Kleine an, und zwar mit Blicken aus ihren großen Augen, die zu fragen schienen "Was ist mit uns beiden?" Mir war so, als würde sie - im Unterschied zu Monika - spüren, dass wir in einen Kranz wärmender Strahlen eingeflochten waren. Ihr Lächeln war nicht das eines Kleinkindes, sondern das eines wissenden Weibchens. So dass es seiner Mutter geradezu peinlich wurde und sie ihre Tochter energisch und besitzanzeigend an sich herandrückte.

Da war es auch, dass ich zum ersten Mal spürte, was es heißt, sich beherrschen zu müssen. Ich musste mich beherrschen, genauer, meine Hände beherrschen, damit sie nicht außer Kontrolle gerieten und das Mädchen zu berühren trachteten. Ach, könnte ich einmal durch ihre langen, hellblonden Haare streichen! Alles wurde heiß an mir, die Hände brannten fast. Hüte dich, sagte ich zu mir. Hüte dich! Helga, so nannte ich dieses Mädchen später, wenn ich an sie und ihre Mutter dachte, Helga befreite sich schnell aus den Armen der Mutter und stützte sich wieder am schmalen Fenstersims ab. Dann schaute sie nach draußen, wo die Welt in S-Bahn-Eile vorüber zog, aber immer wieder und immer öfter ganz schnell mal zu mir. So, als ob sie ihre Mutter überlisten wollte. Helga begann, mit mir zu flirten. Und, eigenartig, im selben Moment fiel die Wärme von mir ab. Im Gegenteil, jetzt fröstelte ich sogar. Das war die Folge eines Temperatursturzes. Nicht, dass ich die kleine Helga nicht nach wie vor gern liebkost oder mit ihr gespielt, gesprochen hätte. Aber diese spontane Wärmewallung - vielleicht vergleichbar mit dem Hitzeschwall von Frauen in den beginnenden Wechseljahren? - die war jedenfalls weg.

Helga war die Nummer 2 in meiner allmählich durch den Psycho freigelegten Erinnerung. Er machte das ganz gut, so wie man mit Mokkalöffelchen ein Skelett an einem paläontologischen Fundort frei schabt. Helga ist heute wahrscheinlich ein attraktiver Twen, und wenn sie ihr Talent zu flirten nicht abdressiert bekommen hat, mit Sicherheit ein lebens- und liebeslustiges Weib.

Nach Monika und Helga war lange Zeit nichts Bemerkenswertes. Oder doch? Ja, immer mal, jetzt kommt es wieder, immer mal ein wärmender Hauch, und wenn ich aufblickte, dann war eine Frau ziemlich nahe an mir vorbeigegangen. Zum Beispiel im Foyer vom Gasteig. Oder bei einer Vernissage. Rasterfahnder aufgemerkt: Besucht Vernissagen. Fährt S-Bahn, Linie 7. Nimmt unterschwellig Kontakt auf mit kleinen und großen Mädchen! Liebt Y, Name fängt nicht - oder vielleicht gerade? - mit T, L oder S an. Tarnung?

Ach ja, jetzt, beim Stichwort Vernissage funkt mein Gehirn den Namen Thekla. Thekla im Haus der Kunst. Thekla im Café "Schöne Münchnerin"(!). Thekla, die Blasse mit dem schwarzen Outfit. Thekla, die Haustochter eines Professors. Thekla, das Modell und die Hausnutte. Thekla strahlte ebenfalls diesen Wärmestrom ab. Und Thekla war keinesfalls hübsch, keinesfalls mein Typ. Ein fliehendes Kinn, sie wirkte etwas degeneriert. Interessante Erscheinung wäre das Optimum gewesen, was man hätte spontan über Thekla sagen können. Aber da war wieder diese Wärme. Und - weiß der Teufel - weshalb ich ihr im Vorraum der Café-Toilette meine Visitenkarte förmlich aufgedrängt hatte. Nicht ohne Folgen, wie der werte Leser, sofern er noch Geduld aufbringt, zur Kenntnis nehmen kann. Aber - Psycho hergehört! - der Thekla-Wärmestrom war kümmerlich im Verhältnis zu Monika und Helga. Und war nie und nimmer der Auslöser für die Thekla-Geschichte. Insofern hat sie mit meiner Krankengeschichte - wie nennt man eigentlich das Gegenteil? - nichts zu tun. Sie dient nur als Arabeske. Gesundengeschichte klingt blöd. Ich bin ja auch nicht nur gesund, sondern mopsfidel. Was wäre mein Leben ohne diese Ströme?

Sie wollen partout wissen, was mit Thekla war? Na bitte. Ist aber eine längere Geschichte. Aber Sie verpassen auch nichts, wenn Sie die Sache mit Thekla einfach überblättern. Sie dürfen das. Der Psycho nicht.

Thekla

Kunstausstellungen pflege ich stets dreimal zu besuchen. Einmal, um mir einen Überblick zu verschaffen. Das zweite Mal, um mich dann nur noch meinen Lieblingsbildern und Objekten zu widmen. Ein drittes Mal, um die Besucher zu studieren.

Ich war das zweite Mal da, und - wie gesagt - ich hatte meine Favoriten. Jetzt nahm ich mir Zeit, mich ganz in Lucas Cranachs "Jungbrunnen" und Tizians "Himmlische und irdische Liebe" und Franz von Stucks „Die Sünde“ zu versenken. Die Wächter lassen es nicht zu, dass man sich Stühlchen mitbringt, so dass man auch immer mal eine Ruhepause auf einer der wenigen Bänke einlegen muss.

Dabei fiel mir, im Vorgriff auf meinen dritten Besuch, zu dem es - ehrlich gesagt - eher selten kommt, eine junge Frau auf. Ich sah sie zunächst nur von hinten. Sie verstellte mir den Blick auf Stucks Jugendstilbild "Die Sünde", das mir stets vorgaukelte, die bleiche Dame sei von flaschengrünem Samt umhüllt. Schwarz war die junge Besucherin gekleidet, von oben bis unten schwarz, mit einem langen Rock, der allerdings - bis in beträchtliche Höhen geschlitzt - den Blick auf recht kräftige Beine freigab, ebenfalls mit schwarzen (Netz-)Strümpfen angetan. Schwarz waren auch ihre Haare, zu einem kleinen Zopf hinten zusammengeflochten. Schwarz ihre Stiefeletten, nach Großmutters Art geschnürt, wie es eben gerade wieder Mode war.

Länger als die anderen Bewunderer blieb sie vor „meinem“ Bild stehen, beugte sich mehrmals vor, um Einzelheiten zu studieren, wandte sich dann um, ging ein paar Schritte auf mich zu, um sich dann wieder umzudrehen und das Bild aus dieser Weite erneut zu bestaunen. Ihr Gesicht, so kurz es mir auch zugewandt war, erschien mir so merkwürdig blass, wie ein Spiegelbild der bleichsüchtigen Sünderin, wobei diese Blässe durch die Schwärze ihrer Augen noch aufdringlicher wirkte. Sie war das, was man eine "interessante Erscheinung" nennt. Eine junge Frau, die sich in eine gewisse Aura zu hüllen verstand. Vor der "Sünderin" von Struck konnte man den Verdacht nicht ganz loswerden, als sähe sie in ihrer Dekadenz einen Gegenpol, dem sie sich selbst nicht zu entziehen vermochte. Eine junge Frau, die den Mut hatte, sich anders zu kleiden und zu geben als die anderen.

So begann ich, mich für sie zu interessieren. Ich stellte mich neben sie. Beobachtete sie von der Seite. Nicht aufdringlich, sondern so, dass es eher zufällig wirken musste. Dabei nahm ich wahr, dass ihr im Übrigen sehr weiches, sanftes Gesicht durch ein fliehendes Kinn gestört wurde. Schade, dachte ich bei mir, sie wäre sonst ein Kind von raffaelischer Anmut gewesen. Doch trug diese unübersehbare Disharmonie noch mehr dazu bei, dass ich danach trachtete, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Wärme ging von ihr bis dahin nicht aus - eher Kälte.

Ein älterer, weißhaariger Mann trat in dem Augenblick hinzu, als ich schon den ersten, stets so schwierigen Satz auf den Lippen hatte. Er sprach die jugendliche Schwarze recht forsch und entschieden an. Ich verstand nicht, was er sagte. Aber sie folgte ihm ohne Zögern, als habe er ihr einen Befehl erteilt - oder einen Tadel ausgesprochen. So schlenderte ich weiter, ein klein wenig traurig, fast wie unter einem Hauch von Liebeskummer, gemischt mit Eifersucht und Zorn.

Schließlich spazierte ich in eine andere Halle zu einem weiteren Lieblingsbild, das mir stets neue Rätsel aufgab. Es forderte zur Meditation heraus, aber manchmal schien es mir, als würde es dann erst recht seine Geheimnisse nicht preisgeben. So saß ich dort, wie in einen Traum vertieft. Der lichte Raum wurde nur von wenigen Besuchern frequentiert, denn man musste zwei Treppen hochsteigen, für die vom Kunstschlendern geplagten Beschauer eine gern gemiedene Anstrengung. Vielleicht war ich tatsächlich ein wenig eingenickt; denn als ich wieder zu blinzeln begann, erblickte ich vor meinem Bild wieder jenes schwarze Mädchen - und zwar allein, ohne ihren Befehlshaber oder Erziehungsberechtigten.

"Wir haben wohl sehr ähnliche Favoriten!" Endlich war er heraus, dieser erste Satz, der für mich stets eine Qual bildete, war ich doch so zum Respekt vor anderen Personen erzogen worden, dass jede unvermittelte Ansprache einer Fremden als eine sich nicht geziemende Einmischung zu unterbleiben hatte.

"Vielleicht?" gab die Schwarze enttäuschend kühl zurück und wandte sich zum Gehen, so als ob ich sie in der Tat belästigt hätte und sie sich meinen Nachstellungen entziehen wollte. Oder musste?

 

Musste sie fürchten, von jenem Alten ertappt oder gescholten zu werden? Hatte ich den falschen ersten Satz gewählt? Was hätte in ihren Ohren und vor allem in ihrem Herzen lieblicher geklungen? Gewinnender? Ich probte einige andere Sätze, halblaut sprach ich sie vor mich hin:

"Können Sie sich erklären, wie ein Künstler diese Tiefe der Empfindungen in ein solches Motiv..."

Nein, ich brachte diesen Satz schon probehalber nicht sinnvoll zu Ende.

"Sind Sie selber eine Künstlerin?" Und wenn sie's nicht wäre?

"Man kann sich an diesem Bild nicht satt sehen, nicht wahr?" Dieser Satz fand Gefallen bei mir. Ich begann, ihn zu speichern. Denn noch hatte ich die Hoffnung nicht aufgegeben, mit der geheimnisvollen schwarzen Frau in ein Gespräch zu kommen. Aber sie war verschwunden. Ich suchte sie in anderen Sälen, im Cafe-Pavillon. Mein Interesse an Bildern war ohnehin dem Interesse an dieser Frau gewichen. Ich hätte mich nicht mehr konzentrieren können. Also holte ich meinen Mantel und flüchtete durch die Regenschauer ins erstbeste Cafe, um mich dort zu zerstreuen.

Das Schicksal wollte es anders. Ich bestellte meinen Cappuccino und suchte die Toilette auf. Als ich zurückkam, begegnete mir meine schwarze Fee in einem kleinen Flur. Sie versuchte, vor dem Spiegel ihre nassen Haare zu ordnen. Und - siehe da - jetzt überfiel mich wieder so eine Hitzedusche. Vorher kalt - jetzt warm!

"Ach, Sie auch hier? Wie schön, Sie noch einmal zu treffen!" Das kam mir so ganz unvorbereitet aus dem Herzen. Ungeprobt und ungekünstelt. Sie musste auch meine Augen beobachtet haben. Denn sie gingen mir auf wie der Glanz einer hinter dunklen Wolken hervorbrechenden Sonne.

"Warum freut Sie das so?"

"Weil ... weil Sie mir Rätsel aufgegeben haben von der ersten Sekunde an, als ich Sie auch so lange vor einem Bild stehen sah, das bei mir einen so widersprüchlichen Eindruck hinterlässt!"

"Ich verstehe gar nichts von diesen Bildern!" gestand sie und wandte mir ihr blasses Gesicht zu. "Manche gefallen mir einfach, ohne dass ich weiß warum und mir viel dabei denke. Die meisten finde ich grässlich und das Getue, das viele Leute vor diesen Bildern an den Tag legen, diese klugen Reden, ehrlich gesagt, kommen mir sehr affektiert vor."

Ich spürte ihre Ungeduld. Mehrfach schaute sie den Flur entlang.

"Ihr Herr Vater erwartet Sie vermutlich! Ich will Sie nicht länger aufhalten - oder eigentlich doch. Aber das geht wohl nicht?"

"Er ist nicht mein Vater!" flüsterte sie auf einmal. "Es ist mein Job! Er hat mich gedungen als seine Begleiterin - und ist wahnsinnig eifersüchtig!"

"Wie können wir uns wiedersehen?"

"Ich fürchte, sie würden sehr enttäuscht sein!"

Gottlob fand ich gleich eine Karte von mir und ließ sie in ihre noch geöffnete Handtasche fallen.

"Vielleicht?" sagte sie. Und zum ersten Mal sah ich sie für den Bruchteil einer Sekunde lächeln. Dann eilte sie dienstbeflissen davon.

Im Cafe saßen wir auf Sichtkontakt. Der Weißhaarige hatte sich in den Katalog vertieft. Das Mädchen vermied es wohl sehr bewusst, zu mir hinüberzuschauen. Jedenfalls konnte ich es mir nicht anders erklären, dass sie mich plötzlich gar nicht mehr wahrzunehmen schien.

Ein Job. Begleiterin. Eine Begleiterin, mit der jener Dienstherr kaum ein Wort zu wechseln bereit war. Seine weißen Haarflügel erhoben sich rechts und links neben seiner braun gefleckten Glatze. Ein Professor. So schätzte ich ihn ein. Ein Emeritus. Vielleicht ein Kunstgeschichtler. Oder ein Maler?

Gedungen? Begleiterin? Vom Studenten-Schnelldienst? Oder von einer Hostessen-Vermittlung? Was schließt das ein? Kunstausstellungen. Cafebesuche. Private Dienste?

Er hieß sie zum Beispiel, die Folie, in die der Katalog eingeschweißt war, in ihre Handtasche zu stecken.

Die junge Frau in Schwarz wirkte mit ihrem fahlen Gesicht und dem fliehenden Kinn gespenstisch. Andererseits auch sehr brav. Wie eine höhere Tochter. Oder wie eine Betschwester in ihrem schwarzen Habit. Schwester Oberin hätte sicher etwas gegen das Zurschaustellen ihrer langen Beine gehabt. Ohne jeden Schmuck war sie, mit dem kleinen Zopf und einer schlichten Haarnadel, die ihm Halt bot. Keine "Glaubenszwiebel", wie wir früher immer die Haarknoten zu verspotten pflegten, die zum Aussehen einer Pfarrersfrau zu gehören schienen wie das Bäffchen für ihn.

Ich bestellte noch einen Cappuccino und ein Stück Kuchen, schon, um die Legitimation zu haben, unverwandt, aber doch wie zufällig, dieses Mädchen anzublicken. Ob sie es spürte? Nach zwei Cappuccino (Cappuccini?), das wusste ich jetzt schon, würde ich nachts nur schlecht Schlaf finden. Also würde ich grübeln und Geschichten erfinden - wie diese, und vielleicht eine Fortsetzung dazu.

Als das ungleiche Paar das Cafe verließ, machte sie fast den Eindruck, als sei sie eine Krankenschwester, die als jederzeit verfügbare Erste Hilfe bei einem Schlaganfall die richtigen Maßnahmen zu treffen wüsste. Sie mied es übrigens auch beim Hinausgehen, mich noch einmal anzuschauen. Ganz im Gegensatz zu mir.

Wenn ich Blicke und Mienenspiel richtig zu deuten vermochte, dann war sie in diesem Augenblick sehr traurig. Aber nicht meinetwegen. Da war noch etwas anderes. Später fand ich das Wort dafür: Entsagung.

Aber das konnte auch nur Einbildung sein.

Mehrere Vernissagen und Ausstellungen hatten inzwischen mein Interesse gefunden. Viel Zeit war verstrichen. Zwar hielt ich immer Ausschau, ob ich nicht das ungleiche Paar irgendwo wieder erspähen würde. Aber vergebens. So begann ich allmählich, die junge Frau in Schwarz zu vergessen.

Daher fiel ich aus allen Wolken, als eines Tages das Telefon klingelte - obwohl man das hässliche Geräusch keineswegs mehr klingeln nennen dürfte - und sich eine zaghafte, mir fremde Stimme meldete. Statt eines Grußes sagte sie:

"Er liegt im Spital. Was soll ich nur machen?"

Erschrocken fragte ich: "Wer liegt im Spital? Und wer ist denn am Apparat?"

"Ach, entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen durcheinander. Ich bin Thekla von Tarnow. Vielleicht erinnern Sie sich an die eigenartige Frau in der Kunst-Ausstellung und im Cafe ..."

"Sind Sie die Dame in Schwarz?"

"Ja - genau!"

"... und Ihr Dienstherr ist ins Krankenhaus eingeliefert worden?"

"Ja, genau, und ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll. Ich bin ganz durcheinander. Ich komme zurück in die Wohnung und bin völlig allein. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. In meiner Handtasche fand ich Ihre Karte. Da dachte ich mir, Sie wüssten vielleicht einen Rat?"

"Aber ich weiß so gar nichts von Ihnen und noch weniger von ihm, von dem alten Herrn!"

Sie musste damals sehr viel Vertrauen zu mir gewonnen haben. Wie kam ich sonst zu der Ehre? Durch meine missglückten Anbändelungsversuche vor Stucks "Sünderin"? Durch die wenigen Worte vor dem Spiegel? Jedenfalls gab Sie mir die Adresse, und ich versprach, umgehend dorthin zu kommen.

Bald stand ich vor einer klassizistischen Villa, umgeben von einem etwas verwilderten Vorgarten und einem hohen schmiedeeisernen Gitter. Das Säulenportal täuschte einen schlossähnlichen, repräsentativen Eingang vor, mit Treppenstufen und geschwungenen seitlichen Mäuerchen.

Doch die Flügeltüren wurden irgendwann, wenn überhaupt je solche vorhanden gewesen waren, durch ein französisches Fenster ersetzt. Die Säulen dienten als mächtige Stütze für einen ausladenden Balkon. Beim näheren Hinsehen wurde man gewahr, dass die alte Pracht eine Patina aus Moos und grauen Schmutzschleiern angesetzt hatte. Aus der Dachrinne wuchsen Grasbüschel und irgendwelche Unkrautranken.

Ohne dass ich die Klingel betätigt hatte, kam mir Thekla entgegen, ein überaus passender Name. Und sie war wieder ganz in Schwarz, hatte sich eigentlich überhaupt nicht verändert. Schnell, geradezu hastig, zog sie mich ins Innere und schaute sich dabei nach allen Seiten um.

"Ich weiß nicht einmal, ob ich Sie einlassen darf. Aber er merkt es ja nicht. Braucht es ja auch nicht zu wissen. So schnell wird er wohl nicht rauskommen, wenn überhaupt!" Sehr leid schien ihr der greise Dienstherr nicht zu tun.

Ich trat in ein düsteres Vestibül. Hier wirkte das Schwarz ihrer Kleidung noch schwärzer. Ihr totenblasses Aussehen ließ kurz in mir die Vorstellung aufzucken, als sei dies der Eingang zur Unterwelt und sie die Privatsekretärin des Sensenmannes.

Der Klassizismus der ehemals weißen Fassade stand in merkwürdigem Kontrast zum Interieur, das von schwülstigem Jugendstil geprägt wurde. Einem Stil, dem ich noch nie viel abgewinnen konnte. Über dicke Teppiche gelangte man in den Salon. Hier kämpfte das Tageslicht mit den schweren dunklen Vorhängen und dem tiefen Braun einer mächtigen, ziemlich abgewetzten Ledersitzgruppe um einen Glastisch herum. Vitrinen wechselten mit schmalen Bücherregalen. An den Wänden Bilder, die ich respektlos mit "alte Schinken" bezeichnen würde.