Töchter aus Elysium

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Töchter aus Elysium
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Werner Siegert

Töchter aus Elysium

Kriminalroman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Absolute Ruhe

2. Höllenqualen

3. Mit Blaulicht

4. Flucht bei Nacht und Nebel

5. Die Vernehmung der Dr. Winfriede Lepper

6. Hugo

7. Ortstermin: Elysium oder Tartarus?

8. Rinaldos großer Tag

9. Elsterhorst und die Frauen

10. M o o r i e s e . . .

11. Der Taborberg

12. Elsterhorsts Albträume

13. Liebesbriefe

14. Spuren verzweifelt gesucht

15. Vernehmung Frau Dr. Berghoff

16. Ein konspiratives Treffen

17. Pendeln oder wispern lassen?

18. Pieštany

19. Drunt’ in der Wachau ....

20. Olga Hendrix

21. Velmond unter Verdacht

22. Mord oder Geiselnahme?

23. Sonderbare Heilquellen

24. Sr. Agneta

25. Liebestöter

26. Eine Leiche am See ?

27. Beweise auf der Unterhose

28. Es geht um Tod und Teufel

29. Waltet Eures Amtes!

30. Nicht schon wieder!

Notabene

Hinweis

Impressum neobooks

1. Absolute Ruhe

Hauptkommissar Maurice Elsterhorst fühlte sich müde, schlaff und krank. Sein letzter Fall hatte ihn viel Kraft gekostet und endete in einer riesigen Enttäuschung. Er hatte einen Mörder aufspüren wollen, den es offenbar gar nicht gab. Zwei von Leichen abgetrennte Hände ließen die Öffentlichkeit aufheulen; eine hatte sein treuer schwarzer Labrador Rinaldo in einem Friedhof apportiert, die andere fanden Wanderer in einem Park. Untätigkeit warf man der Polizei vor. Zu allem Überdruss hatte man Rinaldo fotografiert, als er mit der Leichenhand im Maul durch die Gräber trabte. Diese Fotos erschienen übergroß in der Boulevardpresse. Im Lokalfernsehen machte man daraus eine hämische Skandalgeschichte und hängte ihm Rücksichtslosigkeit gegen über einem kleinen Buben an, von dem er sich in der Eile und Betroffenheit das Handy ausgeborgt hatte. Im Präsidium kam das gar nicht gut an. Als dann noch die Suche nach dem Hand-ab-Mörder in einem Fiasko endete, brach er zusammen.

Währenddessen konnte sich sein Kollege Lothar Velmond ein Stückchen vom Ruhm abschneiden, und dies, weil er lediglich durch einen blöden Zufall Zeuge wurde, als das Skelett einer jungen Römerin in einem Moortümpel oberhalb von Wildbad Kreuth sichtbar wurde - die inzwischen weltberühmte „Truski“! Ganz zum Ärger der Italiener, die nun das Monopol ihres „Ötzi“ in Gefahr sahen.

Der Amtsarzt hatte Elsterhorst vier Wochen absolute Ruhe verordnet, am besten in einem Sanatorium, in dem er - abgeschottet von allen negativen Einflüssen - liebevoll umsorgt würde. Am besten incognito, um ihn von allen Tratschereien abzuschirmen, die ein leibhaftiger Kriminal-Hauptkommissar auslösen würde.

Sanatorium! Allein bei dieser Bezeichnung quälten ihn Assoziationen von sadistischen Krankenschwestern, die ihn - überdies halbnackt - zu allerlei grausamen Leibesübungen zwingen würden. Er müsse zur Wassergymnastik zusammen mit fetten, schwabbeligen AOK-Patienten plantschen, werde auf Schonkost gesetzt, serviert zu Zeiten jenseits aller Zivilisation. Ärzte, die ihren ganzen Ehrgeiz darein setzen würden, ihm eine böse, absolut neue Krankheit anzudichten und möglichst eine Operation! Um 5 Uhr Abendessen - und was für welches! Und dann noch die Trennung von Rinaldo! Scheußlich, scheußlich!

So atmete er auf, als seine Kinderfreundin Judith, die sich wegen der Etrusker-Forschungen für längere Zeit in München aufhielt, ein ganz anderes, ein alternatives Wald-Sanatorium entdeckte, angegliedert an ein ehemaliges, aufgelassenes Nonnenkloster. Dort legt man das Schwergewicht auf Phytologie, auf Naturheilmittel, auf die Kraft der Kräuter aus dem Klostergarten. Hildegard von Bingen dient auch nach dem Auszug der Nonnen als großes Vorbild. „Ganzheitlich“ und „nachhaltig“ - diese Begriffe beherrschten den einladenden Prospekt. Schon der Name „Elysium“ ließ bei Elsterhorst alle Ängste schwinden.

Mit großen Erwartungen stieg er in sein Auto und überließ Judith gern das Steuer. Rinaldo räkelte sich wie immer auf der Rückbank. Anderthalb bis zwei Stunden würde die Fahrt in Anspruch nehmen - genügend Abstand von der Hektik der Großstadt, die manchmal so gar nichts von einer Großstadt mit Herz für ihn übrig hatte.

Die freundliche Stimme aus dem Navigationsgerät teilte den Reisenden mit, sie befänden sich einen Kilometer vor ihrem Ziel. Jedoch standen sie vor einem weißen, kunstvoll geschmiedeten Doppelflügeltor, in der Mitte jedes Flügels ein Strahlenkreuz. Am linken Pfeiler befand sich ein imposantes Messingschild

E l y s i u m

Privat-Sanatorium

Institut für Naturmedizin und Phytologie.

Dazu ein Klingelknopf und ein Hinweis auf eine Wechselsprechanlage.

Judith stieg aus und drückte auf den Knopf. Sofort meldete sich eine schnarrende Frauenstimme. Nachdem Judith den Namen des Patienten genannt hatte, öffneten sich die Torflügel wie von Geisterhand. Erst nach etwa 700 Metern Waldstraße weitete sich der Blick. Neben einem alten, ziegelroten, schlossähnlichen Haupthaus, aus dessen Mitte ein spitzer, neugotischer Kirchturm herausragte, erstreckte sich links ein weißer, moderner zweistöckiger Neubau. Vor den Gebäuden sprudelte in einem weiträumigen Brunnenbecken ein Springbrunnen aus einer Figurengruppe, aus der sich zentral erhöht eine Madonnenstatue erhob. Ein Schild verwies die Ankömmlinge auf den Parkplatz und den Patienteneingang hinter dem Haus. Der Haupteingang schien Prominenten vorbehalten.

Noch ehe irgendein Begrüßungswort verlautete, kam die schneidend-kalte Anweisung:

„Der Hund bleibt draußen!“

Der Kommando-Ton der Empfangsdame hatte gar nichts elysisches an sich. Er entsprach ihrem strengen Erscheinungsbild: kurze hennarote Haare, Herrenkostüm, scharf nachgezogene Augenbrauen, dunkelroter, fast schwarzer Lippenstift. Judith erinnerte die Frau an eine Polit-Hauptkommissarin. Sie führte Rinaldo nach draußen zum Auto. Knurrend nahm er auf der Rückbank Platz. Judith kurbelte das hintere Fenster ganz nach unten, damit ihm die frische Waldluft um die Nase wehen könnte. Dann ging sie wieder hinein. Elsterhorst hatte sich inzwischen auf eine Bank gesetzt. Er wirkte wirklich sehr erschöpft. Nun kam auch noch die Trauer um seinen Hund dazu.

„Frau ....?“

„Schwertfeger!“

„Frau Schwertfeger, ich nehme an, Sie haben Ihren Herrn Vater hier her gebracht. Das ist sehr fürsorglich von Ihnen. Ich nehme an, Sie werden, nachdem sich Ihr Herr Vater eingerichtet hat, wieder mit Ihrem Auto nach Hause fahren. Wir haben es nicht gern, wenn Patienten Fahrzeuge mitbringen!“

Elsterhorst zuckte zusammen. V a t e r ? Hatte er richtig gehört? Kann die doofe Ziege nicht hingucken? dachte er sich.

„Frau ....?“ Judith fiel es nicht schwer, den belehrenden Ton dieser Hexe nachzuahmen.

„Hendrix, ich bin Frau Olga Hendrix. Ich leite die Organisation, die Rezeption und die Patienten-Angelegenheiten!“

„Frau Hendrix, dies ist Kriminal-Hauptkommissar Maurice Elsterhorst. Wir haben telefoniert. Es sind bestimmte Vereinbarungen getroffen worden. Herr Elsterhorst ist nicht mein Vater. Wir sind ... Kollegen. Sie - oder war es die Direktorin dieses Hauses? - hatten zugesagt, dass Herr Elsterhorst sich hier optimal regenerieren kann. Akutes Erschöpfungs-Syndrom! Niemand soll etwas über seinen Beruf erfahren. Er braucht einfach Ruhe und einfühlsame Betreuung.“

 

„Ob Kriminal-Hauptkommissar oder Manager, in jedem Sanatorium gibt es nun einmal Regeln und eine unerlässliche Ordnung. So ist zum Beispiel das Betreten des Altbaus für die Patienten streng untersagt. Wir führen hier die klösterliche Lebensart jenseits aller Religionen weiter. Selbstverständlich sorgen wir bestens für unsere Patienten. Unsere jahrzehntelange Erfahrung sagt uns aber auch, was gut für die Patienten ist und was nicht. Wir wissen zum Beispiel auch, dass telefonische Kontakte mit der Familie oder Freunden in den ersten 14 Tagen den Heilungserfolg stark beeinträchtigen. Daher dulden wir auch keine Mobiltelefone.“

„Frau Hendrix, ich habe das Empfinden, dass sich die Tonart Ihrer Prospekte ziemlich von der Art dieses Empfangsgespräches unterscheidet! Es kann auch auf keinen Fall hingenommen werden, dass Herr Elsterhorst sein Dienst-Handy abgeben muss. Er wird selbst davon nur geringen Gebrauch machen, muss aber erreichbar bleiben. Überdies war im Telefonat davon die Rede, dass sich Ihre Patienten frei bewegen und den Rahmen der therapeutischen Maßnahmen frei bestimmen können. Falls die Aussagen aus dem Prospekt und aus dem Informationsgespräch stark von einander abweichen, würde Herr Elsterhorst die Kur sofort abbrechen!“

Elsterhorst war es zwar peinlich, dass sich Judith so für ihn einsetzte, als ob er schon entmündigt sei; andererseits war er ihr dankbar, dass sie und nicht er hier das Grundsätzliche zu regeln versuchte. Sie nahm ein Einweisungsformular und mehrere Drucksachen vom Desk mit zu einem Tischchen und übernahm das Ausfüllen für Elsterhorst mit souveräner Selbstverständlichkeit selber vor. Adresse, Geburtsort, Geburtsdatum, Ausbildung, Beruf, Krankenkasse, Beihilfekasse - alles dies schien sie zu Elsterhorsts Erstaunen ohne langes Befragen zu wissen. Woher? Als Vertrauensperson trug sie sich selbst ein mit dem doppelten Wohnsitz in London und München, und verschwieg, dass sie sich in seiner Wohnung einzumieten plante. Er sollte sich nicht zusätzlich aufregen.

Um diese Zeit schienen nur wenige Patienten, mehr Männer als Frauen, durch die Halle zu schlurfen, meist im Bademantel und mit Pantoffeln. Andere hatten sich zu einem Waldspaziergang gerüstet. Kaum jemand würdigte Olga Hendrix mit einem Blick.

Plötzlich ertönte aus dem Park das aufgeregte Bellen Rinaldos. Elsterhorst kannte die Sprache seines Hundes. Es musste etwas Krasses passiert sein. Ein Rest von Adrenalin schoss in seine Blutbahn, er erhob sich schnell, ein bisschen taumelig, von Judith gestützt und rannte, so schnell, wie es ihm gelang, nach draußen. Die hintere Autotür war offen. Ein Schuss ertönte, Rinaldo jaulte auf. Beide, Elsterhorst und Judith rasten los, dem Geschrei und Geheule nach. Offenbar lag etwa 200 Meter entfernt ein alter Friedhof. Allerhöchste Angst aktivierte in den beiden letzte Kräfte, bis ihnen auf lautes Rufen Rinaldo entgegen sprang. Offenbar unversehrt. Doch hinter ihm folgte ein wütender alter Mann, mit grauen wirren Haaren, in einem Blaumann und Gummistiefeln, ein Gewehr in der Hand schwenkend.

„Sie da! Sie da, nehmen Sie sofort diese Bestie an die Kette, sonst erschieße ich sie. Hunde sind auf diesem Gelände nicht geduldet!“

Nach Atem ringend, mit Sternen vor den Augen und zitternd zog Elsterhorst seinen Dienstausweis raus. Da er sich den Liebesbezeugungen Rinaldos nicht gleich erwehren konnte, hielt Judith dem Mann den Ausweis vor die Nase.

„Darf ich einmal Ihren Waffenschein sehen? Wie kommen Sie dazu, hier herum zu ballern? Dies ist Kriminal-Hauptkommissar Elsterhorst!“

„Der Waffenschein ist in meiner Wohnung. Der Hund hat sich an einer Grabstätte zu schaffen gemacht. Das kann ich nicht dulden, ob Sie Kriminaler sind oder nicht. Ich bin der Hausmeister und Parkwächter. Hier habe ich das Hausrecht und nicht Sie und schon gar nicht Ihre Töle.“

Inzwischen hatten sich zahlreiche Patienten und offenbar auch Pflegepersonal um die Streitenden herum angesammelt. Der schwarze Labrador stand hechelnd neben Elsterhorst, der ihn streichelnd zu beruhigen versuchte. Schüsse, Silvesterknallereien und ähnliche Geräusche ließen ihn immer noch schmerzlich aufheulen. Das hatte man ihm in der Hunde-Polizeischule nicht abgewöhnen können. Judith hatte schnell die Leine aus dem Auto geholt. Kaum war Rinaldo angeleint, zog er auch schon kräftig ziehend in eine bestimmte Richtung. So weit, bis er an einer Grabstätte halt machte und jaulend und schnüffelnd die Steinplatte umrundete.

Elsterhorst fiel auf, dass im Unterschied zu den Nachbargräbern, die total vermoost und mit Efeu umrankt waren, an dieser Grabumrandung erst kürzlich jemand Spuren hinterlassen hatte. Das Moos war zum Teil zur Seite gescharrt, Efeuranken waren abgerissen und hinter den Grabstein geworfen worden.

Aus dem Sanatorium war inzwischen die Direktorin samt einem größeren Schwarm von Bediensteten herangerauscht und herrschten Elsterhorst und Judith an, sie mögen bitte sofort das Gelände verlassen, weil man sonst die Polizei benachrichtigen würde wegen Hausfriedensbruchs und Störung der Totenruhe.

„Die Polizei brauchen Sie nicht zu rufen. Die ist schon da!“ Auch der Direktorin hielt Judith den Dienstausweis vor die Nase, die ihn jedoch kaum eines Blickes würdigte.

Judith zog Rinaldo wieder von der Grabstätte weg und hakte Elsterhorst unter. Sie tuschelten kurz mit einander. Dann mimte Elsterhorst einen Herzinfarkt. Jedenfalls brach er kurz vor dem Haus zusammen.

Sofort eilten mehrere Schwestern und Pfleger zusammen. Man holte eine Bahre und trug ihn in eine Art Ambulanz. Judith ließ Rinaldo wieder ins Auto springen, ließ nur einen schmalen Spalt an den hinteren Fenstern offen und drückte die Kindersicherung runter, so dass er sich nicht wieder selbst befreien konnte. Dann trug sie Elsterhorsts Gepäck in die Halle. Gegenüber der Direktorin, die sich inzwischen mit ziemlicher Drohgebärde als Frau Dr. Frost-Heimbusch Judith gegenüber aufgebaut hatte, gab sie sich als jene Frau zu erkennen, die erst kürzlich mit ihr die überaus einladenden Gespräche wegen ihres Kollegen Elsterhorst geführt hätte. Einladend sei aber bisher nichts gewesen. Sie sei sehr besorgt, dass ihr Kollege nicht die liebevolle Betreuung und Ruhe finden würde, die ihr wortreich zugesichert worden war.

Frau Dr. Eleonor Frost-Heimbusch ließ Judith noch nicht einmal in die Ambulanz, um sich von Elsterhorst zu verabschieden, da sie nicht mit ihm verwandt sei. Und nun solle sie sich schleunigst samt ihrem teuflischen Hund auf den Heimweg begeben.

Judith baute sich mit einem zynischen Lächeln vor der Direktorin auf und raunte ihr zu: „Ich vermute, diese Art der Begrüßung und Behandlung von Gästen und Patienten wird noch ein Nachspiel haben. Ihr Prospekt und Ihre werbend freundlichen Sprüche am Telefon weichen offenbar krass von der Realität ab. Das kann man auch in Facebook posten. Der Hausarzt von Kriminal-Hauptkommissar Elsterhorst wird sich in aller Kürze mit Ihnen in Verbindung setzen! Ich bin in großer Sorge um den Patienten. Auf Wiedersehen!

Kurz nachdem sie das Sanatoriumsgelände verlassen hatte, rief Judith Kriminal-Hauptkommissar Lothar Velmond und Elsterhorsts Hausarzt an und informierte beide über die eigenartigen Vorkommnisse im sogenannten Elysium.

2. Höllenqualen

Maurice Elsterhorst erwachte, weil jemand mit zarter Hand liebevoll seine Haare von der Stirn zurückstrich. Dieses Gefühl verwirrte ihn. Es war ihm fremd; erinnerte ihn allenfalls an seine Mutter, wenn er morgens zur Schule aufbrach und sie ihm, den bitteren Abschied versüßend, einen Kuss auf die Stirn gab. Doch - so bitter war dieser Abschied für ihn gar nicht, wartete doch ein paar Ecken weiter die hübsche kleine Judith mit ihren langen, dunkelblonden Zöpfen. Gleich verwandelte sich das eben noch umsorgte Söhnchen in einen Jungsiegfried, in einen Helden, bereit, Judith gegen alle Feinde zu schützen - und ihr die Hälfte seines Butterbrotes zuzustecken.

Elsterhorst blinzelte. Da war ein Fenster an einer ungewohnten Stelle. Dahinter bewegten sich hohe Bäume. Der Vorhang neben dem Fenster - mit einem völlig fremden Muster, in völlig fremden Farben. Das Bett ungewohnt, direkt neben einer Wand? Wo war er?

„Guten Tag, Herr Elsterhorst! Wachen wir jetzt allmählich auf?“ Welch’ angenehme Stimme? Wer wachte da mit ihm zusammen auf?

„Ich bin Schwester Angela! Ich bin Ihnen zugeteilt! Ich werde mich in den nächsten Tagen um Ihr Wohlergehen kümmern! Aber erst müssen wir einmal gaaanz aufwachen!“

Wieder sagte die Stimme „wir“. Wir müssen aufwachen? Warum?

„Wir haben lange, lange geschlafen, Herr Elsterhorst. Wir haben Sie in einen Heilschlaf versetzen müssen, damit Sie sich beruhigen und Abstand gewinnen!“

„Wo bin ich?“ flüsterte er mit zittriger Stimme.

„In Ihrem Zimmer! Im Elysium! In Ihrem kleinen Reich, in dem Sie in den nächsten Wochen wieder zu vollen Kräften kommen werden!“

Elsterhorst versuchte sich aufzurichten. Eine kräftige Hand unterstützte ihn dabei. Dabei blickte er zum ersten Mal bewusst in das freundlich lächelnde Gesicht seiner behutsamen Helferin und wünschte ihr einen Guten Morgen.

„Lieber Herr Elsterhorst, wir haben schon Nachmittag. Wir haben sehr lange und sehr tief geschlafen, und das hat uns ganz bestimmt sehr gut getan.“

Das Klinik-Wir! Ja, natürlich! Wir haben lange und sehr tief geschlafen - mit dieser jungen Frau? Verständlicherweise konnte er dieser erotischen Gaukelei in keiner Weise folgen.

Nun begann er, seine Umgebung schärfer wahrzunehmen: einen Schrank, einen Tisch, darüber ein fast leeres Bücherbord, eine Garderobe, an der sein Mantel hing. Alles sehr schlicht. Zwei Bilder an den Wänden, Blumenstillleben, Mohnblumen. Billigstkopien.

„Jetzt müssen wir aber erst einmal was trinken!“ Schwester Angela reichte ihm eine gelbe Schnabeltasse. Das auch noch! Gelbes Plastik! Er hätte sich fast an dem süßlichen Orangendrink verschluckt; denn er hatte Wasser erwartet, kühles, klares Wasser. Aber nicht so ein Zeug!

„Das ist Astronautennahrung, Herr Elsterhorst, damit Sie schnell wieder in die normale Umlaufbahn gelangen! Und wir müssen gleich noch mal eine solche Tasse voll langsam austrinken. Heute abend gibt es dann was Leckeres zu essen!“

Elsterhorst blickte sich weiter um und erspähte voller Entsetzen seinen aufgeklappten Koffer.

„Ich habe mir erlaubt, Ihre Sachen, Ihre Wäsche, alles eben in den Schrank einzuräumen. Auch ins Bad. Wenn Sie gleich wieder ein bisschen besser auf den Beinen sind, sollten wir duschen, möglichst kalt, damit der Kreislauf auf Touren kommt!“

„Der Koffer war verschlossen ....“

„Ja, aber man weiß natürlich, wo die Schlüssel sein können. Ich hatte ja nichts zu tun als nur zu warten, bis Sie aufwachen. Und mir können Sie grenzenlos vertrauen! Mir schon!“

Diese beiden nachgeschobenen Wörter irritierten den allmählich auch wieder erwachenden Hauptkommissar.

„Das klingt, als könne man hier nicht allen vertrauen?“

„Davon haben Sie ja schon eine kleine Kostprobe bekommen - oder? Vielleicht ist es Ihnen in Ihrem Zustand nicht aufgefallen. Es gibt hier solche und solche. Dürfte ich Ihnen sicher gar nicht sagen; aber ich tue es halt. Und damit Sie erkennen, dass ich es ehrlich mit Ihnen meine, leihe ich Ihnen gerade mal schnell mein Handy. Ihres hat man Ihnen entgegen der Weisung von Ihrer Frau abgenommen. Vielleicht wollen Sie gerade mal Ihre Frau anrufen? Ganz schnell und ganz kurz, ehe wir erwischt werden. Dann würde ich nämlich gefeuert!“

Leider hatte Judith ihr Mobiltelefon nicht eingeschaltet. Den Kollegen Velmond wollte er nicht anrufen. Vermutlich wäre die Möbius ans Telefon gegangen. Dann hätte er ihr zu vieles erklären müssen. Und überhaupt!

„Schade, dass es nicht geklappt hat. Und noch etwas, Herr Kommissar. Sie haben da einen Aufstellbilderrahmen mit einem Foto von diesem schwarzen Hund. Den dürfen Sie hier ganz bestimmt nicht aufstellen. Ich habe ihn unter Ihrer Unterwäsche versteckt. Tiere ziehen zuviele Energien von den Menschen ab, glaubt man hier. Menschen widmen oft ihren Tieren mehr Liebe als Menschen. Das aber wäre Sünde!“

 

In dem Maße, in dem in Elsterhorst alle Sinneskräfte wieder erwachten, stieg in ihm das Unbehagen. Was erlaubt man sich eigentlich hier mit ihm? Und wenn Schwester Angela noch so sympathisch säuselt und ihre Komplizenschaft unter Beweis stellen will, allein die Tatsache, dass sie eigenmächtig seine Unterwäsche ausgepackt und in den Schrank gelegt hat, seine Boxershorts, seine nicht mehr ganz neuen T-Shirts, seine Socken - und erst recht seinen sogenannten Kulturbeutel, die Waschsachen, seine Cremes, Rasierwasser, Hühneraugenpflaster - dass er die Kontrolle über sein ganzes Ich hier hat abgeben müssen, empörte ihn in zunehmenden Adrenalinschüben.

„Schwester Angela, Sie haben es sicher gut gemeint, aber glauben Sie nicht, dass Sie ein wenig zu weit gegangen sind und meine Intimsphäre verletzt haben?“

„Intimsphäre? Herr Kommissar Elsterhorst, das kann ich Ihnen gleich sagen: So etwas respektiert man in diesem Hause überhaupt nicht. Und was glauben Sie, was wir als Schwestern alles zu sehen und zugemutet bekommen? Die meisten Patienten oder ‚Gäste’, wie man hier heuchlerisch sagt, wollen gar zu gern, dass man ihre Intimsphäre verletzt. Hier eine kleine Rückenmassage, wobei der Rücken manchmal auch vorn ist und sehr tief reicht. Dort gekämmt und gestreichelt werden. Viele, die hier gelandet sind, hatten seit Jahren keinen Hautkontakt mehr mit liebenden Menschen, keinen Kuss, keine liebevoll dargebotene Hand. Von Zärtlichkeiten gar nicht zu reden!“

Elsterhorst dachte nach. Konnte er sich an irgendwelche Zärtlichkeiten erinnern? Der Wiedersehenskuss von Judith - liebevoll? L i e b e ? War das überhaupt eine Dimension seines Lebens? L i e b e ? Was ist das?

„Und nun stehen wir allmählich auf, lieber Herr Elsterhorst. Kommen Sie, ich stütze Sie!“

Jetzt stellte er erst einmal fest, in welcher lächerlichen Anstaltskleidung man ihn hier - offenbar ohne Bewusstsein - in dieses Bett gelegt hatte. Schamröte stieg in sein Gesicht. Und dies alles in unmittelbarer körperlicher Nähe zu dieser jungen Frau! Er versuchte, sich aus dieser Hilflosigkeit, aus diesem Kontrollverlust zu befreien und wäre beinahe gegen den Türpfosten gefallen.

„Langsam, langsam, nicht gleich den stolzen Ritter markieren! Das kommt schon noch. Jetzt gehen wir erstmal ganz langsam aufs Klo und dann duschen wir. Da steht ein Stuhl in der Dusche. Damit wir nicht stürzen!“

Sooo geschämt hatte er sich nicht einmal bei der Massage durch die Edwina Kyndinos im Seniorenknast! Dass er sich an diese Szene noch so genau erinnern konnte, bewies ihm, wie tiefgreifend ihm die Erniedrigung damals schon zugesetzt hatte. Und jetzt hier nackt?

Er versuchte, wieder ins Bett zurückzufallen. Da jedoch unterschätzte er die Kraft und Entschiedenheit der geschulten Krankenschwester.

„Wir haben es ja gleich geschafft. Dann fühlen wir uns schon viel, viel besser. Und inzwischen kommt schon das Abendessen! Heute noch ausnahmsweise im Zimmer!“

Noch nie hatte Elsterhorst vor einer fremden Frau - vor welcher denn überhaupt? - seine Unterhose runtergezogen! Höllenqualen! Höllenqualen! Judith, hol’ mich hier raus, hol’ mich hier raus!

Dann prasselte der kalte Wasserstrahl auf seinen Rücken. Tief gebeugt kauerte er auf dem Plastikstuhl, um wenigstens etwas seine Intimzone abzudecken. Aber das Abtrocknen! Das Abtrocknen! Dann spürte er, wie plötzlich alle seine Abwehrkräfte einer totalen Resignation wichen. Jetzt auf einmal war ihm alles egal. Sein Wille war gebrochen. Wie Schlachtvieh ließ er sich von Schwester Angela führen. Sie hüllte ihn in einen weißen Bademantel. Rote Plastik-Flipflops standen bereit. Das machte ihm nun auch nichts mehr aus. Flipflops! Der Inbegriff der Kulturlosigkeit in seinen Augen! Und nun hatschte er mit diesen roten Dingern zurück ins Zimmer.

Dann klopfte es. Eine andere Schwester platzierte unter einer riesigen grauen Plastikhaube das Abendessen auf den Tisch. Und es setzte gleich eine Verwarnung an Schwester Angela:

„Wir haben auch noch andere Patienten, falls Sie das vergessen haben sollten. Melden Sie sich bitte bei der Pflegedienstleiterin, sobald Sie den Herrn hier abgefertigt haben!“

„Das war Schwester Ursula! Jetzt haben Sie gleich eine Kostprobe bekommen! Es sind nicht alle so wie ich. Aber morgen bin ich ab Mittag wieder für Sie zuständig!“

Schwester Angela hob noch die graue Abdeckung vom Essenstablett. Darunter kümmerte nur ein Teller lauwarme Fleischbrühe mit Einlage vor sich hin. Dazu drei Zwieback und ein Würfel Butter.

„Guten Appetit!“ wünschte die Schwester mit verständnisvollem Lächeln. „Und Gute Nacht! Ich muss mich leider bei der Oberbefehlshaberin zur Stelle melden!“