Der Tote im Schilf

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Der Tote im Schilf
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Werner Siegert

Der Tote im Schilf

Kriminalroman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein Toter im Schilf

Liebesdrama? Mord? Entführung?

Paul Krüner, Kriminalhauptkommissar i.R.

Lieber Kollege Elsterhorst,

Entführt?

Liang Sook

Die geheimnisvolle Tür

Erpressung mit tödlichem Ausgang?

Diskretion war oberstes Gebot

Der Weg der Scheine - ein Scheinweg?

Märchenstunden!

Burgfräulein

Das darf doch nicht wahr sein ...

Gelegenheit macht Liebe?

„... dass nicht sein kann, was nicht sein darf!“

Notabene

Hinweis

„Spurlos“ … verschwinden innerhalb weniger Wochen in München und Umgebung vier wohlhabende, betagte Witwen. / Kriminalroman von Ingrid Schum

Zum Autor:

Impressum neobooks

Ein Toter im Schilf

Aus der Traum vom Ruhestand! dachte Hauptkommissar Lothar Velmond, der sich nach seiner letzten, sehr anstrengenden Ermittlung nicht nur auf einen geruhsamen Sonntagnachmittag, sondern auch auf den endlich verdienten Ruhestand eingestimmt hatte. Der Elysium-Fall war für ihn abgeschlossen. Die Beförderung ein kleiner, eigentlich zu später Dank. Nun war er schon wieder mit vielen Begleitfahrzeugen in Richtung Starnberger See unterwegs. Ein Toter im Schilf!

Wer weiß, wozu es gut war, grübelte er, dass im Laufe der gestrigen Nacht ein Eifersüchtiger ihm alle vier Reifen an seinem Peugeot mit einer spitzen Dreikantfeile zerstochen hatte. Säße er jetzt selbst am Steuer, geriete er in die Gefahr einzunicken. Und Peng gegen einen Baum! Den Täter hatten sie ja schnell erwischt. Einen Bauernsohn! Eifersüchtig! Auf ihn? Einen Sechzigjährigen! Sechzig plus sogar! Wegen der Annedore? So ein Quatsch! So etwas könnte sich nicht mal ein Roman-Autor ausdenken.

Ein Paddler hatte angerufen. Heute Mittag. Er hatte ein halb versoffenes Schlauchboot im Uferbereich zwischen Bernried und Seeseiten gesichtet. Im Schilf. Im Vogelschutzgebiet. Er wäre nur hin gerudert, um zu sehen, ob er helfen könne. Da habe er den Toten gesichtet und gleich von seinem Handy die Polizei angerufen. Er wolle im Café Seeseiten warten, aber nicht zu lange. Er müsse ja wieder zurück nach Bernried und pünktlich nach Hause zur Sportschau.

Die Uferstraßen sind an einem sonnigen Sonntag auch mit Blaulicht nicht gerade schnell zu durchfahren. Die Wasserpolizei hatte es da vermutlich besser. Sie war bereits von Starnberg mit voller Kraft voraus unterwegs. In die Schilfzone könne man jedoch nur mit einem Schlauchboot, und wegen des Vogelschutzgebietes nicht mit Motorgeräuschen, sagten die.

Alfred Kühnast, der Paddler, wartete schon ungeduldig in seinem kippligen Klepperboot, das auf den anlandenden Wellen tanzte. Er habe auch Fotos gemacht, rief er den Einsatzkräften zu, die nun ihrerseits drei Boote flott machten. Gleichzeitig wolle man von Land aus, soweit es möglich wäre, an den Fundort der Leiche heran fahren. GPS-geleitet. Für Lothar Velmond hatten sie eine Gummi-Überziehhose und Gummistiefel dabei. Darin kam er sich vor wie ein Hobby-Angler.

Ob der Tote etwas mit dem Elysium-Institut zu tun haben könnte, das ja - sein vorletzter Fall - nicht unweit lag und nun abgebrannt war? Dann könnte er die Akte immer noch nicht abschließen - eine schier unendliche Geschichte.

Sein Sprung in das schaukelnde Schlauchboot entbehrte jeglicher Sportlichkeit und Eleganz. Wenn ihn nicht zwei starke Arme gepackt hätten, wäre er wahrscheinlich rücklings ins Wasser gefallen. Der Paddler gab das Tempo vor. Na ja, von Tempo konnte keine Rede sein. Endlich gab er Zeichen nach links, also Backbord, wenn man schon mal auf See unterwegs war. Ein riesiger Schwarm Wasservögel aller Art erhob sich schwirrend, als sie näher an das havarierte Schlauchboot heran glitten. Die Kameras klickten. Die Kollegen von der Wasserpolizei waren auch gerade erst eingetroffen. Wegen der vielen Surfer und Segler mussten sie ihr Tempo drosseln. Jetzt verstummten die Motoren.

Es ist ein trauriges Privileg der Kriminaler und der Experten von der Pathologie, als erste von jeder grausamen Szenerie Kenntnis nehmen zu müssen. An der Wasserleiche gab es nicht mehr zu zweifeln. Ein junger Mann lag, nur mit schwarzer Badehose bekleidet, bäuchlings neben dem blauen Gummiboot Marke „Seagull Junior“ / Max. 500 kg zwischen Blättern und Schwemmgut im brackigen Wasser. Beide Hauptschläuche waren mutwillig zerfetzt worden. Im Boot erspähte Velmond mehrere Sektflaschen, davon zwei mit abgebrochenem Hals, zwei Chipstüten, eine große NORMA-Plastiktüte, vermutlich mit Kleidung, ein Bikini-Oberteil. Unter dem Boot, halb im Schilf, hatte sich eine Lederjacke verhakt. Daneben weitere Kleidungsstücke, eine Tasche, sicher noch ein paar Sachen, die im Schlick nicht erkennbar waren. Deutlich sichtbar wurde ein schmaler Pfad durch den Schilfgürtel. Während die Kollegen den Leichnam vorsichtig umdrehten, nahm Velmond allen Mut zusammen und ließ sich vom Randwulst des Polizeibootes ins Wasser gleiten. So konnte er die Schnittspuren im Gesicht und auf dem rechten Arm des Toten besser erkennen. Die offenbar wasserdichte Uhr war intakt. Von ihr konnte man nicht erfahren, wann es zur Katastrophe gekommen war. Velmond bewegte sich auf dem schlickigen, etwa einen Meter tiefen Seegrund nicht gerade graziös. Er segelte mit seinen Armen, als ob er über sich irgendwelche virtuellen Haltegriffe packen wollte. Ein Kollege kam ihm schnell zu Hilfe, ehe er strauchelte. Nachdem Velmond das Signal gegeben hatte, den Toten an Bord des zweiten Schlauchbootes zu hieven, und den zerfetzten „Seagull Junior“ ebenfalls behutsam mit dem gesamten Inhalt vorsichtig zu bergen, begab er sich Schrittchen für Schrittchen in die Schilfgasse. Viele Halme waren frisch abgeknickt. Rechts lag ein Paddel. Wo war das andere?

Ihm war klar: Es gab einen zweiten Mann oder eine zweite Frau, die hier an Land geflüchtet waren. Deshalb erhöhte Vorsicht, um keine Spuren zu zerstören. Der Pfad über die Schilfwurzeln durch den weißgelblichen Schlick schien kein Ende zu nehmen, da kam ihm zu seiner größten Überraschung ein schwarzer Hund entgegen. Noch ehe er „Rinaldo“ rufen konnte, sprang der schon an ihm hoch, erfreut, einem bekannten Menschen zu begegnen. Über und über beplanschte ihn der übermütige Labrador, bis er vom Ufer her zurückgerufen wurde.

Rinaldo hier? Dann müsse ja auch Kollege Maurice Elsterhorst eingetroffen sein, dessen Suchhund der schwarze Rinaldo seit dem Etrusker-Fall geworden war. Auf glitschigem Boden verharrend kramte Velmond nach seinem Handy und klickte mit lehmigen Fingern die eingespeicherte Nummer an.

„Hallo, Kollege Elsterhorst? Wo sind Sie?“

„Ich bin gerade eingetroffen. Den Versuch der Leute hier, vom Land aus an den Tatort zu gelangen, habe ich gerade noch stoppen können. Hier sind jede Menge Reifenspuren und Sohlenabdrücke. Die würden verloren gehen. Da müssen erst Gipsabformungen angefertigt werden. Übrigens parkt hier ein alter Golf mit Münchner Nummer. Nicht abgeschlossen. Ich lasse gerade den Fahrzeughalter ermitteln. Und wo sind Sie?“

„Im Schilf! Hier gibt es einen schmalen Pfad mit frischen Spuren. Abgeknickte Halme. Halt, ich sehe gerade, da liegt ein Knopf und Fasern dran. Ich taste mich jetzt in Richtung Ufer weiter voran. Wir treffen uns da!“

Der Kollege hinter ihm reichte Velmond das Sprechfunkgerät:

„Wir haben hier zwei weitere Plastiktüten mit Zeug gefunden. Sollen wir weiter suchen?“

„Ja, alles weiträumig absuchen. Hier liegt nur ein Stechpaddel. Es müsste ein zweites geben. Vielleicht sogar ein zweites Opfer; denn der Bikini gehört ja wohl nicht dem toten jungen Mann. Hauptkommissar Elsterhorst leitet jetzt den Einsatz von der Landseite! Roger!“

Als er das Gerät zurück gab, fasste er sich an den Kopf, so, als ob ihm gerade etwas ganz Wichtiges eingefallen war.

„Sagen Sie, Herr Kollege, ist Ihnen nicht auch aufgefallen, dass in dem Schlauchboot ziemlich viel Sand war? Hier gibt es keinen Sand! Der Tote und seine Begleiterin müssen vom anderen Ufer, vom Ostufer her gekommen sein. Möglicherweise vom ADAC-Strand. Da gibt es diesen feinen Sand. Also müssen wir so schnell wie möglich da hin. Vielleicht gibt es noch Zeugen, die was gesehen haben. Manche kampieren da ja auch über Nacht!“

 

Wieder nahm er Kontakt mit Elsterhorst auf. Er versuche jetzt, so schnell wie möglich festen Boden unter die Füße zu bekommen und sich dann ans Ostufer fahren zu lassen, um dort eventuell noch Zeugen zu finden, die gesehen haben könnten, wie der Bursche und wahrscheinlich auch seine Freundin von dort in den See hinausgefahren sind. Er, Elsterhorst, möge doch hier die Spuren sichern lassen und den Einsatz weiterhin leiten.

Auf seinem Weg zum Ufer fischte er noch ein paar Papiertaschentücher aus dem Schilf, brachte es aber nicht fertig, sie in die üblichen Plastiktütchen rutschen zu lassen. Dafür waren seine Hände zu nass und eingesaut.

Endlich, endlich kam eine Wiese in Sicht, und da sah er auch schon seinen Kollegen Elsterhorst, der Rinaldo wegen der brütenden Vögel an die Leine genommen hatte und jetzt beinahe umgerissen wurde. Rinaldo und Velmond mochten sich sehr. Mehr als sich die beiden Kollegen zugetan waren. So fiel auch deren Begrüßung knapp und dienstlich aus, zumal beide spontan auf ein Wiesenstück zu steuerten, wo völlig unverkennbar ein Mensch oder deren mehrere gelagert hatten: plattgedrücktes, stellenweise zerwühltes Gras, Zigarettenschachteln, ein von einer Kekspackung abgerissenes Stück dünne Pappe.

Elsterhorst, der noch „stadtfein“ daher kam, zog sich die Vinylhandschuhe über, hob alles auf und ließ es in die Tütchen gleiten.

„Halt! Da steht was drauf!“ Velmond griff nach dem Fundstück.

Mit erdigen Fingern hatte jemand „HELP“ darauf geschmiert.

„Kollege, das sieht ganz danach aus, als ob ein Kampf stattgefunden hätte. Das überlasse ich jetzt Ihnen. Ich lasse mich ganz schnell ans Ostufer fahren, ehe es ganz dunkel wird!“

Als Velmond zum Parkplatz kam, traf er dort - wenig überrascht - auf Judith Schwertfeger, die in ihrem Auto Musik hörte. Sie hatte also ihren Freund Elsterhorst hierher gebracht. Sie begrüßten sich wie alte Bekannte.

„Ich brauche ganz, ganz schnell jemanden, der mich zum Ostufer hinüber fährt!“

„Na klar, mache ich doch!“ Frau Schwertfeger hatte immer schon ein Auge auf Lothar Velmond geworfen, weil der soviel netter und aufmerksamer zu ihr war als der spröde Maurice. Er erwies sich halt stets als ein Kavalier der alten Schule.

Als sie nach der kurvenreichen, von vielen kleinen Kreuzen und flackernden Kerzen gesäumten Strecke über Seeshaupt endlich den ADAC-Parkplatz erreichten, war es schon sehr dämmrig. Velmond hatte kein Blaulicht mitgenommen, das sie hätten aufs Dach stellen können. So gab es Ärger, als er Frau Schwertfeger fast bis zum Strand durchfahren ließ.

Am Ufer hatten einige schon Feuerchen entzündet. Manche hatten sogar Fackeln dabei und Lampions. Velmond und Frau Schwertfeger schwärmten aus, um möglichst schnell möglichst viele der noch hier Lagernden zu befragen.

„Waren Sie gestern nachmittag auch hier? Ist Ihnen ein Pärchen aufgefallen, das mit einem dunkelblauen Schlauchboot Marke Seagull aufgebrochen ist? Mit drei großen Plastiktüten von NORMA? Und ganz schön viel Getränken?“

Auf der Fahrt hatten sie diese Fragen eingeübt. Falls jemand „Warum?“ fragen sollte, als Antwort: „Die beiden werden vermisst!“

„Fragen Sie doch mal beim Kiosk! Die werden vielleicht nicht den ganzen Proviant mitgebracht haben!“ Eine gute Anregung, jedoch hatte der Kiosk bereits geschlossen. Aber bei einer Gruppe junger Burschen kamen sie der Sache näher:

„Ja, die mit diesem komischen Gummiboot sind uns schon aufgefallen. Das Boot lag nämlich schon seit dem Vormittag an diesen Baum da, festgebunden. Als die beiden ankamen, na klar, die hatten solche NORMA-Tüten, da waren die ausgelassen, als hätten sie gerade das Abitur bestanden oder seien von zuhause ausgekniffen. Als erstes haben sie eine Flasche Sekt entkorkt, obwohl sie bereits ziemlich bekifft ausgesehen haben. Natürlich ging die Hälfte daneben, als der Korken rausflog. Es war ja warm und die Flasche sicher geschüttelt. Dann haben sie ihr Zeug in die Tüten verpackt. Ich schätze mal, die waren mit dem Motorrad da; denn er hatte so eine schwarze Motorrad-Lederjacke. Sie ist noch einkaufen gegangen und kam mit Chips und ner Flasche Wodka zurück. Dann haben sie alles in das Boot gepackt und sind weit rausgegangen, weil es ja hier sehr flach ist. Sie ist dann als Erste ins Boot, was ja gar nicht so leicht ist bei einem solchen Gummiboot. Er hat’s dann auch geschafft. Und was ist jetzt mit denen?“

„Die werden gesucht, werden vermisst!“

Inzwischen hatten sich andere Strandgäste um die Gruppe junger Männer versammelt. Eine junge Frau meinte, sie habe abends am anderen Ufer Lichtzeichen gesehen. Für Scheinwerfer von Autos sei es zu regelmäßig gewesen. „So kurz, kurz, lang, und wieder kurz, kurz, lang!“

Velmond zückte seinen Kripo-Ausweis und bat um die Adressen des auskunftsfreudigen Mannes und der jungen Frau. Vielleicht würde er nochmal mit ihnen Kontakt aufnehmen müssen.

„Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt - oder auffällt, hier ist meine Karte!“

Auf dem Parkplatz stand in der Tat ein einsames Motorrad mit Münchner Nummer, mit zwei angeketteten Helmen. Das Nummernschild war mit Draht provisorisch befestigt. Der TÜV abgelaufen. Mithilfe von zwei Tempotaschentüchern wischte Velmond die Schweißbänder von den Helmen für eventuelle DNA-Analysen ab. „Links hinten, rechts vorn!“ So wollte er sich merken, welches Tuch von welchem Helm stammt, als er die Tücher in seine Taschen versenkte. Links und hinten, da war jedes Mal ein i drin. Rechts vorn, da war ein r drin. So merkte er sich auch Steuerbord. Da ist ein e drin – also rechts. Backbord ohne e ist links.

Zurück am drüberen Einsatzort trafen sie ob der langen Wartezeit auf einen sehr ungnädigen Hauptkommissar Elsterhorst und einen überglücklichen Rinaldo. Ein Einsatzfahrzeug war noch zurück geblieben. Der Tatort war zu sichern, die Arbeiten längst nicht abgeschlossen. Eine wachsende Schar Neugieriger drohte, Spuren zu zertrampeln.

Velmond quetschte sich jetzt neben dem nassen und entsprechend duftenden Rinaldo auf die Rückbank von Judiths Auto. Elsterhorst vorn rechts war offenbar „not amused“, mit seinem Kollegen das Auto teilen zu müssen. Da schnurrte sein Handy.

„Herr Hauptkommissar, das Auto mit dem uns durchgegebenen Kennzeichen gehört unserem ehemaligen Kollegen Paul Krüner, und der wird seit gestern abend vermisst! In seiner Wohnung ist er nicht. Eine Bekannte von ihm, bei der er häufig zu Gast sein soll, war äußerst bestürzt, dass Krüner nicht erreichbar war. Auch auf seinem Handy nicht, von dem sie uns die Nummer verraten hatte.“

Liebesdrama? Mord? Entführung?

Am Morgen danach liefen die Ermittlungen auf Hochtouren. Der mutmaßliche Tatort musste aufwändig von See und Land gegen Neugierige abgesperrt bleiben. Ein Helikopter mit Wärmebildkamera suchte trotz der Proteste von Leuten der Vogelschutzwarte die Uferbereiche nach einer möglichen zweiten Leiche ab. Bisher vergeblich.

Für das geborgene Schlauchboot „Seagull“ musste ein großer Raum gefunden werden, wo das triefend nasse Objekt für die weitere Spurensicherung abgelegt werden konnte. Die kleinen Fundstücke sammelten sich in den Büros von Velmond und Elsterhorst.

Alarmierend war, dass vermutlich zeitgleich mit dem Unglücksfall oder gar Mord der ehemalige hochverdiente und sehr geachtete Kriminalhauptkommissar Paul Krüner verschwunden war, möglicherweise entführt. Das mit erdigen Fingern auf die Kekspappe geschmierte Wort HELP ließ nicht Gutes erwarten.

Was suchte Krüner vorgestern oder gestern beim Cafe Seeseiten? War er dort nur zum Kaffeetrinken, zum Mittagessen und ist danach spazieren gegangen. Wurde er dann zufällig Zeuge einer Straftat, eines Kapitalverbrechens gar? War er zur falschen Zeit am falschen Ort, so dass man ihn beseitigen musste? Lag er irgendwo tot im moorigen Gelände? Im nahen Rußgraben? Irgendwo im Unterwald, wie das Gelände bezeichnet wird?

In Anbetracht der Häufung möglicher krimineller Ereignisse rief Kriminaldirektor Georg Metzner, auch er war befördert worden, die Kollegen Elsterhorst und Velmond zu einer dringenden Besprechung zusammen. Ihm war natürlich nie entgangen, dass zwischen den beiden nicht gerade ein besonders kooperatives und schon gar nicht freundschaftliches Klima herrschte. Daher hatte er sich zu folgender Lösung entschlossen:

„Meine Herren, in Anbetracht der Dringlichkeit, aber auch des Umfangs der notwendigen Ermittlungen werden Sie eine „Soko Schilf“ leiten. Damit es zu einer klaren Abgrenzung der anfälligen Aufgaben kommt, möchte ich Sie, Herr Kollege Elsterhorst, mit den Ermittlungen ab ‚Westufer vorwärts’ betrauen, während der Kollege Velmond die Ermittlungen ‚Ostufer rückwärts’ vornehmen wird. Zeitliche Abgrenzung demnach: Verfolgung der Vorgänge ‚Verschwinden vom ehemaligen Kollegen Krüner’ und mutmaßliches Tötungsdelikt des jungen Mannes, dessen Namen wir noch nicht kennen, ist Zuständigkeitsbereich von Ihnen, Herr Elsterhorst. Alles, was vor Ablegen des Schlauchbootes vom Ostufer geschah, darum werden Sie sich, Herr Velmond, kümmern. Bei eventuellen Überschneidungen erwarte ich von Ihnen enge Zusammenarbeit. Es ist keine Zeit zu verlieren. Fahrzeuge stehen Ihnen vorrangig zur Verfügung. In Anbetracht Ihrer Erfolgsbilanz aus den früheren Fällen vermute ich, dass Sie mir bald Ergebnisse vorlegen können, spätestens übermorgen, vorzugsweise bereits morgen um diese Zeit. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Vielen Dank!“

Die Blicke, die sich die beiden frischgebackenen Hauptkommissare auf der Treppe zu ihren Büros zu warfen, könnte man so interpretieren: Jeder glaubte, der andere habe den besseren Part erwischt.

„Na ja, lieber Kollege Velmond, Sie haben ja mal wieder das große Los gezogen. Da läuft Ihnen nichts weg. Sie kehren wieder an den Badestrand zurück. Mir bleiben der Sumpf, die Scherben und der Tote.“

„Und Sie können jetzt erstmal auf Spesen im feinen Café Seeseiten dinieren und Fotos rumzeigen. Sofern das Motorrad am ADAC-Parkplatz noch am selben Platz steht und mutmaßlich das Fahrzeug ist, mit dem das Pärchen zu seinem Ausflug angereist ist, kann ich Ihnen wahrscheinlich bald den Namen des Fahrzeughalters beisteuern. Auf meiner Seeseite war er noch lebendig, auf Ihrer tot. Dann obliegt es wohl Ihnen, die Eltern ausfindig zu machen, um denen die traurige Nachricht zu überbringen.“

Paul Krüner, Kriminalhauptkommissar i.R.

Lothar Velmond ging zügig an die Arbeit. Bequemerweise begann er gleich im Hause. Gab es noch Kolleginnen und Kollegen, die mit Krüner zusammengearbeitet haben? Er musste herausfinden, was der Verschwundene für eine Persönlichkeit war, welche Verbindungen zu welchen gesellschaftlichen Gruppierungen er pflegte. Natürlich war es auch wichtig zu erfahren, welche Ganoven er hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, und welche eventuell jetzt gerade entlassen worden waren. Allerdings wäre er wohl nicht so dämlich gewesen, sich ausgerechnet in einem Vogelschutzgebiet am Starnberger See in eine Falle locken zu lassen. Das passte ja auch in keiner Weise zu dem Toten im Gummiboot.

Wer sich noch an Krüner erinnern konnte, und soweit er sich selbst an ihn zu erinnern vermochte, war sich darin einig, der ehemalige Kollege war überaus korrekt, ein hervorragender Kombinierer und Analyst, zumal er sich außerordentlich gut in andere Menschen hineinversetzen konnte. Frauen hielten ihn für „etwas zu kühl“, zu distanziert, nicht für einen Menschen, der ein freundschaftliches Betriebsklima um sich verbreiten konnte. Alle waren jedoch äußerst bestürzt, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.

„Dabei war er doch immer so vorsichtig, stets auf das Schlimmste gefasst. Der wäre nie in einen Hinterhalt geraten, Krüner nicht!“ urteilte eine Kommissarin, die jetzt im Rauschgift-Dezernat tätig war und meinte, viel von ihm gelernt zu haben. „Privat? Nein, in sein Privatleben hat er sich nie reinschauen lassen. Mit einem ‚Wie geht’s zuhause?’ oder gar ‚Wie leben Sie denn so?’ hätte man seine Missgunst erweckt. Ich glaube, niemand hier hat gewusst, wo und wie er wohnt. Im Telefonbuch steht er nicht.“

Überflüssig zu erwähnen, dass Krüners Telefonverbindungen in kurzen Abständen angerufen wurden. In den sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook oder Xing war er nicht zu finden. In Google traf man auf Namensvettern, aber nicht auf ihn. Im Netz hatte er jedenfalls keine Spuren hinterlassen.

 

Velmond bat Uta Möbius, ihn zu Krüners Wohnung zu begleiten, die er aus der Personalabteilung erfahren hatte. Sie lag in einem grauen Mietshaus in Mittersendling, im 3. Stock. Der Hausmeister kam gleich mit dem Schlüsselbund und war geradezu außer sich, als er hörte, Paul Krüner werde vermisst: „Er war immer sehr freundlich. Mit diesem Mieter hatte ich nie Probleme, all die vielen Jahre nicht. Er war ja viel unterwegs, viel auf Reisen. Dann habe ich die Post für ihn aus dem Kasten genommen. Der Herr Kriminalhauptkommissar ist weit herum gekommen!“

Das erstaunte allerdings Lothar Velmond; denn seine eigenen Dienstreisen waren doch auf einen relativ kleinen Radius begrenzt. Monaco - seinerzeit, als die reichen Damen spurlos verschwunden waren - das war wohl das Weiteste. Na ja, auch Pieš?any in der Slowakei.

Zunächst stellten die beiden mit großer Erleichterung fest, dass Krüner nicht irgendwo tot oder bewusstlos in seiner Wohnung lag. Es hätte ja sein können, dass ihm übel geworden sei oder er zuviel Alkohol im Blut gehabt habe, so dass er sich mit dem Taxi hätte nach Hause fahren lassen müssen. Alkohol, das erfuhren sie später, hat Krüner nie zu sich genommen. Er sei ein passionierter Wassertrinker gewesen.

Uta Möbius erwies dem Verschwundenen ein großes Kompliment: So blitzblank, so aufgeräumt und ordentlich, das sei für einen offenbar alleinlebenden Mann schon erstaunlich. Die Wäsche in den Schränken exakt geschichtet. Das Badezimmer blitzblank. In der Küche alles an seinem Fleck. Der Kühlschrank wohl gefüllt, auch mit frischer Vollmilch, also mit verderblichen Lebensmitteln, wie man - vor allem als korrekter Mensch - nie in seinem Kühlschrank zurücklassen würde, wenn man auf Reisen geht. Krüner hatte also fest damit gerechnet, nach Hause zu kommen.

Ein relativ alter PC mit voluminösem Monitor war passwortgeschützt. Der Aktenschrank blamierte jeden, der nicht mit ebensolcher Akkuratesse seine Ordner beschriftet, nummeriert und alphabetisch geordnet hineingestellt hat. Velmond hatte keine Befugnis zu einer Hausdurchsuchung. Auf dem Schreibtisch steckte in einem seit zwei Tagen nicht umgewendeten Kalender eine Geschäftskarte von einem Parkhotel Krämer. Von Krüners Telefon aus rief er dort an. Es meldete sich eine Telefonistin, die das Gespräch nach Rücksprache mit ihrer Chefin an Frau Krämer durchstellte.

Noch ehe Velmond auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte, wurde er schon überschüttet mit Fragen: „Wissen Sie schon, wo Paul, Verzeihung, wo Herr Krüner ist? Ist ihm was zugestoßen?“ Frau Krämer klang geradezu aufgewühlt, fast verzweifelt. Ihre Stimme überschlug sich.

„Verzeihung, Frau Krämer, hier spricht Hauptkommissar Velmond. Ich bin neben meinem Kollegen Elsterhorst mit der Suche nach Paul Krüner betraut worden. Darf ich Sie in dieser Angelegenheit vielleicht in einer halben bis dreiviertel Stunde aufsuchen?“

Eine Stunde später - auf dem Mittleren Ring war mal wieder Stau - saßen Frau Gisela Krämer, Lothar Velmond und Uta Möbius im altehrwürdigen Parkhotel Krämer, einem dreistöckigen Altbau mit Erkern, dahinter ein Park mit hohen, knorrigen Eichen, eingebunden in ein Ensemble von mehrstöckigen Villen, die wohl alle um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in einer bürgerlichen Blütezeit entstanden waren. Das Büro von Frau Krämer, einer äußerst gepflegten, aparten Mitfünfzigerin, mit einem langen, über die linke Schulter nach vorn gelegten Haarzopf, hatte wenig büromäßiges. Es war eher ein großes Empfangszimmer mit antiken Möbeln, Ölgemälden, Teppichen, Beistelltischchen und einem alten Biedermeier-Schreibtisch.

Die Ruhe, die dieser Raum ausstrahlte, stand in extremen Kontrast zur Aufgeregtheit und geradezu panischen Stimmung der Gisela Krämer. Sie beantwortete Fragen, noch ehe sie überhaupt gestellt waren.

„Paul war ja am letzten Freitag noch hier. Ja, wir kennen uns gut, allerdings nicht, was Sie eventuell denken. Paul ist ein Preuße, durch und durch. Er könnte von Adel sein in seiner vornehmen Zurückhaltung. Aber das ist auch sein Gefängnis, sein selbst um sich gezogener Käfig. Im Inneren sehnt er sich nach Geborgenheit, nach Frieden, nach ... ja, nach Liebe und Nähe. Aber er steht sich dabei selbst im Wege. Er kann nicht loslassen, jedenfalls braucht es lange, bis das Eis schmilzt. Das hat er hier geschätzt. Obwohl er in München wohnt, hat er sich oft über das Wochenende ein Zimmer hier gebucht, sein Zimmer, immer das ihm vertraute. Und er musste erst auftauen, abspannen, in Ruhe gelassen werden. Kein Telefon! Kein Fernseher! Höchstens Musik, klassische Musik, Klassik Radio oder Bayern Klassik, das waren seine Sender.“

Eine sehr gepflegte dunkelhäutige, fast schwarze junge Frau mit blitzenden Augen, insbesondere auf Uta Möbius gerichtet, kam nach kurzem Klopfen herein und stellte eine Kanne mit Tee auf ein Stövchen, deckte zierliche Tassen, Kandiszucker und stellte eine Schale mit Konfekt und Keksen auf einen Rollwagen und schob ihn zu den Besuchern hin.

„Vielen Dank, Aurelia! Du bist die Beste!“

Ob Aurelia errötete ob dieses Lobes war nicht erkennbar, wohl ihr etwas flackernder Blick, ehe sie rückwärts gehend das Zimmer verließ.

„War Herr Krüner anders als sonst? Hat er darüber gesprochen, was er am Wochenende vor hat? Wollte er kommen? Mit wem hat er Kontakt? Könnte es sein, dass er woanders auch noch ein Refugium hat, in das er sich ohne Telefon und Handy zurückziehen kann? Irgendwo am Starnberger See?“

„Nein, er wirkte auf mich wie immer. Über das Wochenende haben wir nicht gesprochen. Er hatte ja auch nicht gebucht. Oft fand er wohl seinen Frieden auch auf Wanderwegen im Gebirge oder an unseren schönen Seen. Könnte natürlich sein, dass er in die Berge gegangen ist und dort in einer Hütte übernachtet. Das versuche ich mir zumindest einzureden, wobei mich natürlich beunruhigt, dass sein Auto offen aufgefunden wurde, am Cafe Seeseiten ja wohl oder unweit davon. Vielleicht hat er einen Bekannten getroffen, der ihn zu einer Bergtour eingeladen hat? Aber sein Auto nicht abzuschließen .... das kann ich mir bei Paul überhaupt nicht vorstellen!“

Velmond und Möbius nippten am duftenden Earl-Grey-Tee, nahmen noch einen Keks auf die Hand und verabschiedeten sich von Frau Krämer mit dem Versprechen, in Verbindung zu bleiben.

Uta Möbius war die erste, die nach Verlassen des Hotels ihre Eindrücke zum Besten gab: „Irgendwas stimmt nicht. Zuerst diese fast panische Aufgeregtheit, dann die besonnenen Antworten. Am meisten haben mich die funkelnden Augen der Aurelia verstört. Als Frau sage ich rundheraus: Die beiden haben was miteinander. Und nicht nur das: Sie haben auch ein Geheimnis miteinander!“

„Woher kannte sie den Standort des verlassenen Autos? Wir haben ihn jedenfalls nicht erwähnt“, ergänzte Velmond.

„Und was den Krüner betrifft, schätze ich ihn so ein: 14 Punkte Blau, 14 Punkte Grün, und 8 Punkte Rot!“ Uta Möbius überraschte ihren Chef mal wieder mit ihren methodischen Kenntnissen. „Diese Werte beziehen sich auf die Methodik der Biostruktur-Analyse. Die hast du natürlich bei deiner Ausbildung noch nicht kennengelernt. Hier mal im Schnelldurchgang. Von insgesamt 36 Punkten, mit denen das Verhalten eines Menschen eingegrenzt wird, entfallen bei Krüner schätzungsweise 14 oder sogar 15 auf Blau, die Farbe der kühlen Logik, Ordnung, Präzision, Korrektheit und des Abstandes von anderen Menschen. Blau ist auch die Farbe der Planung. Grün hingegen ist die Farbe der Empathie, der Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit, der Liebe zu alten Dingen und Natur. Die scheint bei Krüner fast ebenso ausgeprägt zu sein wie sein Blau. Bleiben noch sechs bis acht Punkte Rot. Rot steht für Drive, Machertum, Aktivität, Herrschen wollen, Durchsetzungsvermögen, Imponieren, aber auch für Chaos.“

„Und was schließen wir jetzt daraus, liebe Uta?“

„Wir müssen noch mehr wissen über seine grüne Komponente. Er ist ein zweigeteilter Mensch. Seine vielen Reisen .... sind vielleicht Ausbrüche aus dem selbst errichteten blauen Käfig. Hoffen wir, dass er auch gegenwärtig nur ausgebrochen ist!“

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