Der Tote, der vom Himmel fiel

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der Tote, der vom Himmel fiel
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Werner Siegert

Der Tote, der vom Himmel fiel

Kriminalroman

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Ein Zwischenfall

Impressum neobooks

Ein Zwischenfall

Am 23. November 2008, zwischen Sanctus und Hochgebet, ächzte es im Gebälk von St. Elisabethen zu H., kurz darauf fiel eine schon reichlich skelettierte, vermutlich männliche Leiche durch den mit tausend Sternen verzierten dunkelblauen Kirchenhimmel und zerschellte im Mittelgang auf den Steinplatten, nahe der Frauenseite.

Es erhob sich ein fürchterliches, ohrenbetäubendes Gekreische. Die meisten der Gläubigen stürzten zu den Türen und vergaßen jegliche Nächstenliebe in ihrem Bestreben, sich schnellstmöglich nach draußen zu quetschen. Andere verharrten starr vor Schreck, wieder andere waren viel zu neugierig, um sich etwas entgehen zu lassen.

Auf dem Kirchhof schwirrten viele Fragen durcheinander, von denen der Berichterstatter nur einige auffangen konnte.

Entbindet mich dieser Gottesdienst von meiner Sonntagspflicht, nachdem wir vor der Eucharistie das Weite suchen mussten?

Leiche hin, Leiche her, gehört es sich, in der Kirche, noch dazu in Anwesenheit eines Toten so zu kreischen und ohne Kreuzzeichen nach draußen stürmen?

Stell dir vor, was passiert wäre, wenn sich dieser Mann nicht im Mittelgang, sondern zwischen den Bänken der Frauenseite runtergestürzt hätte!

Woher weißt du eigentlich, dass es ein Mann ist? So wie der oder die Tote zugerichtet ist?“

Wann war die Decke zuletzt durch die zuständigen Gremien auf ihre Stabilität geprüft worden?

Welches Gebet spricht der Pfarrer in einer solchen Situation?

War der Mann katholisch oder evangelisch? Der war jedenfalls keiner von uns!

Wie kommt man überhaupt da oben rauf?

Es hat doch eigentlich nie gestunken?

Fragen über Fragen! Als Erster fand der Organist seine Beherrschung wieder. Er griff mächtig aufbrausend in die Tasten und spielte, was sich gerade aus dem Notenbuch aufblätterte: „Großer Gott wir loben DICH!“ Ja, er fühlte sich geradezu wie auf der „Titanic“, eifrig bedacht, gegen jede Panik anzuspielen, als ihm der Patzer unterlief „Thauet Himmel den Gerechten, Wolken regnet ihn herab“ anzustimmen. Jäh erstarben die ersten Takte unter dem strengen Blick von Pater Severinus SJ.. Von der Empore war fiebriges Geraschel zu hören, bis er wieder alle Register zog und mit dumpfem Brausen „Wer nur den lieben Gott lässt walten ...“ ertönen ließ.

Was der Stabilität des Glaubens dienlich sein mochte, war es der Baustatik weniger. Sekunden später lösten sich weitere Teile vom Kirchenhimmel, donnerten zu Boden. Steinbrocken zerplatzten. Schließlich nahm der Zerfall kein Ende. Nur noch die, die voll auf die Gnade des HERRN und auf ihre Naivität vertrauten, schauten dem Geschehen unter den mächtigen Rundbogen des Seitenschiffes zu, von frommen Hilfeschreien begleitet wie „Jessas, Maria und Josef!“ bis „Himmiherrgott, lass es g’nug sein!“

Schließlich machte es einen großen Platscher. Alle zuckten schreckensbleich zusammen, als ein Rucksack oder eine Tasche zu Boden ging und ein paar lose Blätter zwischen die Bänke flatterten. Kaum beachtet vom Sakristan, der in heldenhaftem Einsatz die Hostien, die liturgischen Gefäße und andere Kostbarkeiten barg. Nur zwei neugierige Messdiener kicherten, als sie sahen, dass der Platscher dem Schädel einen Stoß versetzt hatte und ihn bis vor die Kommunionbank kullern ließ.

Wird eine Kirche entweiht, wenn die Freiwillige Feuerwehr - inzwischen per Handy alarmiert - mit Getöse in die heiligen Räume eindringt? Ausrichten konnte sie indes wenig, außer in üppiger Fülle rotweiße Plastikbänder kreuz und quer zu spannen, die letzten Neugierigen aus dem Gotteshaus zu treiben und mit unbeholfener Hand ein provisorisches Schild zu malen „Betreten der Kirche wegen Einsturzgefahr strengstens verboten!“

Alsbald mussten der ganze Kirchplatz und der Friedhof gesperrt und geräumt werden. Das gruselige Geschehen hatte sich in Windeseile im Ort herumgesprochen. Eine Leich’ aus heiterem Kirchenhimmel hat man schließlich nicht alle Tage. Endlich mal was los in der Kirche. Jeder wollte wenigstens einen flüchtigen Blick durch den Türspalt erhaschen. Also mussten Feuerwehr und Polizei alle Kräfte einsetzen, um die Menge zurückzudrängen. Nur am großen Kirchhofs-Kruzifix, wo aus einer andächtigen, gottesfürchtigen Schar überwiegend alter Frauen ein Vaterunser und Gegrüßet-seist-Du-Maria nach dem anderen murmelnd zum Himmel emporstieg, ließ man die Gläubigen gewähren.

Pater Severinus SJ. nahm die Sache äußerst gelassen. Nachdem er die üblichen Formeln gesprochen hatte „Gott habe Erbarmen mit seiner armen Seele / Er lasse sie ruhen in Frieden“ erinnerte er sich an die Stringenz jesuitischer Denkschulen. Gegen die Aufgeregtheit der Ortspolizei und der Presse stand er wie ein Fels in der Brandung.

Meine Damen und Herren, es ist nun an Ihnen, die folgenden Fakten aufzuklären: Quis? Quid? Quomodo? Quando? Ubi? Cur? - Für die Nicht-Lateiner unter Ihnen: Wer? Was? Wie? Wann? Wo? Warum? - Bisher scheint nur das Wo zweifelsfrei! Der Hausmeister wird Ihnen bei Ihren Ermittlungen behilflich sein. Beachten Sie die Würde des Gotteshauses! Gelobt sei Jesus Christus!“ Dass sogar die Amtsgewalt ein „In Ewigkeit Amen!“ zur Antwort gab, überraschte ihn sehr. Weiter schien es ihn nicht zu berühren, war er doch nur noch Pfarrverweser, zur gelegentlichen Aushilfe in dieser pfarrerlosen Randgemeinde.

Eine fast skelettierte Leiche, immerhin in wenn auch motten- und fäulniszerfressenen Kleidungsresten! Quando? Seit wann weste sie schon auf den Brettern des hölzernen Kirchenhimmels dahin? Das viele Tatütata und die Geschäftigkeit von Polizei und Feuerwehr täuschten darüber hinweg, dass auch im November an einem schneereichen Sonntag die Pathologen, die Kommissare und Spezialisten der Kripo ihre Freizeit genießen. Quis et Quando? Wer und seit wann? und die Frage nach dem Alter des Dahingegangenen konnten also nicht so schnell geklärt werden.

Die Frage nach dem Quis, wer also auf dem Dachboden der Kirche zu Tode kam und von den zahlreichen Aktiven der Kirchenpflege nicht einmal wahrgenommen wurde, so lange bis der Leichenfraß die Bretter morsch werden ließ, beherrschte natürlich die nicht enden wollenden Gespräche der Gemeinde, mit Fortsetzung in sämtlichen Wirtshäusern. „Mei, wenn die den Adventskranz aufhängen, wenn die irgendwelche Glühbirnen in Lampen auswechseln müssen oder Öl ins Ewige Licht gießen, dann klettern die doch auf den Kirchenboden und lassen die Strippen runter! Und die haben nix gesehen und nix gerochen?“ „Und dem Organist und dem Chor hat auch nichts gestunken?“

Alsbald schien schon der gesamte Landkreis vertreten. Sogar nebst Obrigkeit - der Landrat ließ sich exklusiv vom Sakristan und dem Feuerwehr-Kommandanten berichten und warf einen schaudernden Blick ins dunkle Kirchenschiff. Danach kamen die Vertreter aller Parteien im Gemeinderat sowie der Pastor der evangelischen Ortskirche an die Reihe. Die rote und die schwarze Presse nicht zu vergessen. Ein Foto? Nur ein einziges? Niemals! Dennoch erschien auf rätselhafte Weise eines am Montag im Kreisboten. Da hatte sich jemand heimlich etwas dazu verdient. Schließlich hat mancher auch im Gottesdienst sein Fotohandy in der Tasche.

Irgendjemand hatte schnell ein Gerücht in die Welt gesetzt, das sei bestimmt der Heinzi, „wissen Sie, der Heinzi Dings, der damals immer mal beim Tengelmann die Leute angebettelt hat! Sie wissen schon, wen ich mein’!“ - „Ach, der hieß doch gar nicht Heinzi, das war der Dings, na, mir fällts gleich ein, so ein östlicher Name, ja, Vladi hieß der, Vladimir! Der mit dem Pelzmantel, winters wie sommers!“ - „Ach Quatsch, der ist ja richtig gestorben. Der Vladi, den ham’s akkurat eingeäschert - auf Gemeindekosten. Das muss schon sein, für so eine arme Sau, Gott hab’ ihn gnädig!“

So wallten die Gerüchte hin und her, an Stammtischen, bei den „Sangesfreunden St. Elisabethen“, in den Vereinslokalen und in den Wohnungen. Der Bierumsatz stieg beträchtlich, während der Sakristan verzweifelt jemanden aus dem Pfarrgemeinderat suchte, der die Verantwortung darüber zu übernehmen bereit war, ob man auf die Leich’ Kalk streuen müsse oder sie nur mit Weihwasser besprühen sollte. Kalk und Weihwasser könnten indes Schäden anrichten. Man einigte sich schließlich, einen Weihrauchkessel anzuheizen, um a) üble Gerüche zu übertönen und b) die arme Seele auf ihrer Wanderung in den Himmel zu ergötzen. Auch wenn diese Himmelfahrt des Toten - siehe „Quando“ - schon vor längerem ohne Weihrauch stattgefunden haben musste.

Das Erstaunen war riesig, als am nächsten Morgen die Spurensicherung nebst Kripo das Gotteshaus betraten: Trotz verschlossener Kirchenpforte, trotz polizeilichem Siegel und trotz ständiger Nachtwache war die Leiche verschwunden. Lediglich ein paar Fingerknöchelchen konnte man noch in Plastiktütchen einsammeln. Zurückgeblieben waren auch Fusseln und Fetzen der Kleidung sowie eine Art Fettfleck dort, wohin der Schädel gekullert war. Tasche und Blätter hatte der Leichenräuber ebenfalls mitgehen lassen. Selbst auf dem Dachboden fand man nur noch spärliche Überbleibsel - genug freilich, um DNS-Analysen anfertigen zu lassen. Die Kirche blieb bis auf weiteres geschlossen.

 
Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?