Lebendige Seelsorge 5/2018

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Lebendige Seelsorge 5/2018
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THEMA



Warum habt ihr uns verlassen?



Empirische Befunde zum Kirchenaustritt und mögliche pastorale Konsequenzen



Von Ulrich Riegel und Tobias Faix



„Diese Menschen müssen uns doch etwas zu sagen haben!“



Dissens und Konflikt als Zeichen der Zeit



Von Gunda Werner



Vom Wert des Zuhörens



Die Replik von Ulrich Riegel und Tobias Faix auf Gunda Werner



Über den Konflikt hinaus



Die Replik von Gunda Werner auf Ulrich Riegel und Tobias Faix



Weder „ganz drinnen“ noch „ganz draußen“?



Ein differenzierender Blick auf den Kirchenaustritt und seine Folgen



Von P. Hans Langendörfer SJ



PROJEKT



Über Geld, pastorale Chancen und nötige Kirchenentwicklung – die Kirchenaustrittsstudie des Bistums Essen



Von Markus Etscheid-Stams, Regina Laudage-Kleeberg und Thomas Rünker



INTERVIEW



„Ein Schritt aus dem Bannkreis der eigenen Kirchlichkeit“ – Wie das Kulturchristentum die Kirchen bereichern kann



Ein Gespräch mit Johann Hinrich Claussen



PRAXIS



„Siegt der Mammon?“



Von René Löffler



Jenseits der Zahlen – eine Botschaft



Von Johann Ammer



Gekommen, um zu bleiben?



Schlaglichter auf den Wiedereintritt in die katholische Kirche



Von Katharina Grager



Wiederaufnahme – eine pastorale Chance



Von P. Peter Waibel SJ



Kirche aus gutem Grund



Von Elke Wewetzer



FORUM



Pro Pope Francis



Weltweite Unterstützung für Papst Franziskus



Von Paul M. Zulehner



Poesie und Philosophie. Der sapientiale Schreibton von Hanns-Josef Ortheil



Von Erich Garhammer



POPKULTURBEUTEL



Der Nachbar schafft’s



Von Bernhard Spielberg



NACHLESE



Glosse



Von Annette Schavan



Buchbesprechungen



Impressum











Ute Leimgruber Mitglied der Schriftleitung





Liebe Leserin, lieber Leser,



seit Jahren schon verlieren die christlichen Kirchen immer mehr Mitglieder, die Kirchenbindung der Menschen erodiert zusehends. Nun ist aber der Kirchenaustritt nicht einfach nur ein Thema von emotionaler Zugehörigkeit und institutioneller Bindung. Das Thema Kirchenaustritt wirft äußerst brisante pastoral-, kirchenrechtlich- und systematisch-theologische Fragen auf. Anlässlich der zutiefst erschütternden Ergebnisse der sog. „MHG-Studie“ über sexuellen Missbrauch stellt sich die Frage nach einer Kirche, die verbleibwürdig ist, erst recht und in besonderer Schärfe (Heft 3/2019 wird sich mit dem Thema Missbrauch beschäftigen). Es geht um nichts weniger als die Bestimmung,

welche

 Kirche die Kirche in Zukunft sein will.



Die Lebendige Seelsorge macht in diesem Heft ein ökumenisches Panorama zum Thema Kirchenaus- und wiedereintritt auf. Ulrich Riegel und Tobias Faix identifizieren das „Warum“ der Kirchenaustritte; Gunda Werner plädiert für eine Gestalt der Kirche, die Konflikt theologisch so wertschätzt, dass sich Einheit und Pluralität gegenseitig nicht ausschließen. Einen anderen Blickwinkel nimmt P. Hans Langendörfer SJ ein, der angesichts der divergierenden Hintergründe der Kirchenaustritte trotz der rechtlichen Eindeutigkeiten eine differenzierende pastorale Vorgehensweise vorschlägt.



Viele der Texte beziehen sich auf die Studie „Kirchenaustritt – oder nicht?“ des Bistums Essen. Deren Autor/innen Markus Etscheid-Stams, Regina Laudage-Kleeberg und Thomas Rünker präsentieren die Studie und fordern eine Neubesinnung des kirchlichen Selbstverständnisses. Im Praxisteil werden u. a. Projekte vorgestellt, die „direkte Beziehungsarbeit“ leisten und damit die Kirchenmitgliedschaft face to face und kreativ buchstabieren: Johann Ammer stellt beispielsweise die Regensburger Telefon-Hotline mit Austrittswilligen vor, P. Peter Waibel SJ resümiert seine seelsorgliche Arbeit mit Wiedereintrittswilligen im Erzbistum München, und Elke Wewetzer beschreibt die Werbeaktion

www.zurueck-zur-kirche.de

 der evangelischen Kirche in Bayern. Ein Problem ist das oftmals viel zu enge Verständnis des Christlichen, sagt Johann Hinrich Claussen im Interview, es braucht unterschiedliche Formen der Zugehörigkeit. Das Heft zeigt, dass Kirche und Theologie von und mit den Menschen, die aus der Kirche austreten oder wieder in sie eintreten wollen, eine Menge lernen können.



Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihre








Prof. Dr. Ute Leimgruber






Warum habt ihr uns verlassen?





Empirische Befunde zum Kirchenaustritt und mögliche pastorale Konsequenzen



Austritte fordern die Kirche heraus. Manche Bistümer stellen sie vor finanzielle Herausforderungen, alle Bistümer aber sind in ihrer Pastoral angefragt: Wer sind diese Menschen, die die Kirche verlassen? Warum verlassen sie die Kirche? Und was kann kirchliche Seelsorge im Hinblick auf diese Menschen tun? Der folgende Beitrag geht diesen Fragen nach, indem er vorliegende Studien bilanziert und Beobachtungen aus einer eigenen Studie ergänzt.

Ulrich Riegel und Tobias Faix



2016 sind knapp 362.000 Menschen aus den beiden großen christlichen Kirchen ausgetreten. Statistisch können sie – zumindest Stand heute – vernachlässigt werden, denn ihr Anteil an der absoluten Mitgliederzahl beider Kirchen liegt unter einem Prozent. Ausgetretene stellen eine marginale Gruppe im Gros derer dar, die beiden Kirchen angehören. Finanziell ändert sich das Bild dahingehend, dass fast nur Menschen aus der Kirche austreten, die auch Kirchensteuer zahlen. Bistümer ohne umfänglichen Grund- und Immobilienbesitz scheinen hier bereits ernsthafte Einbußen zu spüren, wie z. B. die sog. Verbleibstudie des Bistums Essen (vgl. S. 331–335) andeutet.



Pastoral werfen Kirchenaustritte ernsthafte Fragen auf. Aus römisch-katholischer Perspektive wird ein Mensch durch die Taufe der Kirche eingegliedert und somit in die

communio plena

 berufen (vgl.

Müller)

. Obwohl prinzipiell unzerstörbar, kann der Mensch diese

communio

 durch sein Verhalten beschädigen und in eine

communio plena non plene

 überführen. Der Kirchenaustritt stellt einen solchen menschlichen Akt dar, weil sich in ihm der Mensch aus der hierarchisch verfassten kirchlichen Gemeinschaft löst, die – in römisch-katholischer Perspektive – einen Grundpfeiler der

communio plena

 darstellt (LG 14).



Damit wirft der Kirchenaustritt aber die Frage auf, warum Menschen, die durch ihre Taufe in römisch-katholischer Perspektive in die

communio plena

 berufen sind, nach – in der Regel – vielen Jahren diese Gemeinschaft verlassen, um in

communio plena non plene

 zu leben? Was sind ihre Motive? Und wie sehen die inneren Loslösungsprozesse aus?



MOTIVE DES KIRCHENAUSTRITTS



Seit vielen Jahrzehnten wird diese Frage vor allem durch den Blick auf die Motive der Menschen beantwortet, warum sie die Kirche verlassen (für einen Überblick vgl.

Riegel/Kröck/Faix,

 125 – 133). Viele Menschen treten aus den Kirchen aus, weil sie ihnen als altmodisch und aus der Zeit gefallen vorkommen. Zu diesem Image tragen zum einen theologische und ethische Ansichten bei, die mit einem modernen Weltbild als unvereinbar erscheinen (z. B. eine kirchliche Sexualmoral oder die Rollen von Frauen in kirchlichen Vollzügen), aber auch hierarchische Strukturen, die in einer demokratisch verfassten Gesellschaft als nicht mehr opportun erachtet werden. Dann nennen viele Ausgetretene die Kirchensteuer als Austrittsgrund. Manchen ist sie zu hoch für den Service, den sie im Gegenzug bekommen. Anderen dient sie als Symbol für den Reichtum der Kirchen, der entweder nicht mit ihrem jesuanischen Anspruch vereinbar erscheint oder in den Augen der Ausgetretenen unzweckmäßig eingesetzt wird.










Ulrich Riegel





Professor für Praktische Theologie/Religionspädagogik an der Universität Siegen.





Tobias Faix





Professor für Praktische Theologie/Gemeindepädagogik sowie interkulturelle und empirische Theologie an der CVJM-Hochschule Kassel und Leiter des Forschungsinstituts empirica für Jugend, Kultur & Religion.



Weiterhin werden negative Erfahrungen mit den Kirchen angeführt. Einigen erscheint die Kirche im Alltag als zu bürokratisch und zu wenig dem Menschen zugewandt. Andere beklagen einen Lebensstil von Pastoren und Priestern, der dem gepredigten Anspruch beider Kirchen widerspricht. Schließlich fallen in diese Motivgruppe auch persönliche Enttäuschungen, die aus Versäumnissen und Fehlverhalten in der Seelsorge entspringen, etwa wenn sich Menschen in ihrer Trauerarbeit von der Seelsorgerin oder dem Seelsorger nicht ernst genommen fühlen.



Dann verlassen Menschen die Kirchen, weil sie ihren Glaubens- und Moralvorstellungen nicht mehr zustimmen können. Diese Divergenz – etwa in der Frage, ob gleichgeschlechtliche Paare mit dem Segen Gottes zusammenleben dürfen – führt Menschen dazu, der Institution, die für sie nicht mehr nachvollziehbare Inhalte vertritt, den Rücken zu kehren. Schließlich berichten Ausgetretene auch davon, dass sie nicht mehr glauben oder auch glauben könnten, ohne einer Institution anzugehören. In diesem Fall stellt die individuelle Religiosität das Austrittsmotiv dar, die entweder erloschen ist oder auf eine Art und Weise gelebt wird, bei der man keiner Kirche bedarf.

 



Diese Liste an typischen Austrittsmotiven erweist sich über die Jahre als erstaunlich beständig. Bereits in den ersten Untersuchungen Anfang des letzten Jahrhunderts finden sich ihre wesentlichen Konturen. Auch ein eigenes Stimmungsbild, das im März 2017 online erhoben wurde, bestätigt diese Liste im Wesentlichen (vgl.

Riegel/Kröck/Faix,

 143–169). Neu sind hier lediglich die gehäufte Nennung der Skandale, die in den letzten Jahren die öffentliche Berichterstattung über die Kirchen dominiert haben, namentlich der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, die Renovierung der Bischofsresidenz in Limburg und die verweigerte Abtreibungspille in einem Kölner Krankenhaus in römisch-katholischer Trägerschaft. Hier schlägt sich somit der Zeitpunkt der Erhebung in der Liste der Motive nieder.



Interessant ist dagegen eine neue Motivgruppe, die dieses Stimmungsbild ergeben hat: Wenige Befragte gaben an, aus der Kirche ausgetreten zu sein, weil sie ihren Sendungsauftrag verfehle. Sie beklagen, dass die Kirche „ein Wirtschaftsunternehmen mit unchristlicher Haltung geworden sei“, „ein Wischi-waschiverein geworden ist“ oder „sich vom christlichen Glauben und katholischen Traditionen abgewandt hat“ (Zitate aus

Riegel/Kröck/Faix

, 158). Gemeinsames Motiv dieser Antworten ist also nicht die Kritik an einer zu traditionellen Kirche, sondern das Verzweifeln an einer zu liberalen und/oder weltoffenen Kirche. Diese Motivgruppe wurde bislang nur von Kati Niemelä in einer finnischen Stichprobe herausgearbeitet, wo sie deren Größe auf 12 % der Ausgetretenen taxiert. Welche Bedeutung dieses Motiv in Deutschland spielt, kann mit den Daten des Stimmungsbildes nicht beantwortet werden, weil es nicht repräsentativ ist.



Verändert hat sich auch das gesellschaftliche Umfeld, in dem die genannten Motive wirksam werden. Galt der Kirchenaustritt bis in die 1970er Jahre als Ausdruck eines politischen oder institutionellen Protests, stellt er heute eher einen individuellen Akt ohne gesellschaftliche Botschaft dar. Der Grund dieser



In pastoraler Hinsicht ist vor allem das Konflikt-Motiv interessant.



Veränderung liegt in dem, was man soziologisch als Individualisierung bezeichnet: Im Gegensatz zu früher können Institutionen wie Parteien, Vereine oder Kirchen heute das Leben der Menschen nur noch im Ausnahmefall nachhaltig bestimmen. Damit ist es aber nicht mehr notwendig, einer solchen Institution anzugehören. Über die Mitgliedschaft entscheidet damit das eigene Befinden.



DER PROZESS DES AUSTRITTS



Auch wenn die Studien zu Austrittsmotiven immer wieder darauf hinweisen, dass sich dieser Austritt als längerer Prozess erweist, wurde der Prozess selbst bislang kaum empirisch in den Blick genommen.



1999 rekonstruiert Klaus Birkelbach in einem nordrhein-westfälischen Datensatz den Berufseintritt als besonders sensiblen Moment für den Kirchenaustritt. Zu diesem Zeitpunkt wird der Mensch in der Regel zum ersten Mal kirchensteuerpflichtig und somit mit der Tatsache konfrontiert, dass seine Kirchenmitgliedschaft Geld kostet. Für einige Menschen ist diese Einsicht der Anlass, die Mitgliedschaft zu kündigen. Ob dabei der Betrag an sich den Austritt motiviert, oder die Tatsache der Steuerpflichtigkeit eine Auseinandersetzung anregt, in der die Kirchensteuer selbst keine Rolle spielt, kann Birkelbach mit seinen Daten nicht erhellen. Die Daten der oben genannten Motivstudien deuten jedoch darauf hin, dass die Kirchensteuer eher den Anlass als den Grund für den Kirchenaustritt darstellt.



Stefan Bonath (175–211) rekonstruiert 2005 unterschiedliche Prozesse des Kirchenaustritts, die er selbst als Motive bezeichnet. Neben äußerem Zwang, wenn etwa der Lebenspartner den Austritt verlangt, oder Desinteresse scheint uns vor allem das Konflikt-Motiv in pastoraler Hinsicht interessant zu sein. In diesem Motivbündel finden sich durchweg Menschen, in deren Leben die Kirche eine wichtige Rolle gespielt hat oder immer noch spielt, die aber aus bereits bekannten Motiven heraus (z. B. persönliche Enttäuschung) die Kirche verlassen haben. Nach Bonaths Darstellung handelt es sich hierbei in der Regel jedoch nicht um einen sauberen Schnitt, sondern um einen längeren Prozess, in dem sich die Menschen mit der Kirche auseinandergesetzt und um ihre Mitgliedschaft gerungen haben. Dieser Konflikt scheint bei einigen Befragten noch nicht beendet zu sein, denn sie fühlen sich immer noch in Teilen der Kirche verbunden.



Auch Michael Ebertz, Monika Eberhard und Anna Lang können 2012 vergleichbare Prozesse rekonstruieren. Einige ihrer Befragten fühlten sich der Kirche nie verbunden und stellen mit ihrem Austritt einen formalen Zustand her, der dem inneren Befinden entspricht. Andere driften einfach aus der Kirche hinaus, weil sie entweder kaum Kontakt zu deren Leben haben oder die einst gespürte Verbundenheit immer schwächer wird. Wie bei der ersten Gruppe stellt der Austritt selbst nur noch einen formalen Akt dar, der die äußeren Verhältnisse mit den inneren zur Passung bringt. Wieder andere befreien sich durch den Kirchenaustritt aus einem Zustand ständiger Enttäuschung, den ihnen die Mitgliedschaft in dieser Institution aus unterschiedlichen Gründen bereitet. Der Austritt bedeutet damit eine individuelle Befreiung. Ein ähnliches Gefühl stellt sich bei den Befragten ein, die die Kirche verlassen haben, weil sie sich durch diese Gemeinschaft in ihrer individuellen Freiheit eingeschränkt gefühlt haben.



Schließlich gibt es eine Gruppe von Menschen, die sich einst sehr in ihren Gemeinden engagiert haben, irgendwann aber dem oder einigem, wofür Kirche steht, nicht mehr zustimmen konnten. Dieser Konflikt wird von den Befragten gelöst, indem sie aus der Kirche austreten. Sieht man einmal von den ersten beiden Typen des Austrittsprozesses ab, zeichnen auch Ebertz, Eberhard und Lang Entwicklungen nach, die durch einen mehr oder weniger starken inneren Konflikt über eine mehr oder weniger lange Zeit geprägt waren. Der Austritt selbst stellt nur einen Schritt in diesem Konflikt dar, der ihn nicht notwendig beendet. Auch nach dem Austritt selbst scheinen sich der eine oder die andere Befragte noch mit der Kirche zu beschäftigen oder sich ihr der einen oder anderen Weise verbunden zu fühlen.



DER AUSTRITT ALS INNERER KONFLIKT



Auch in den Tiefeninterviews, die wir im Rahmen der Essener Verbleibstudie mit Menschen führen konnten, die entweder bereits aus der Kirche ausgetreten sind oder kurz vor diesem Schritt stehen, lassen sich solche inneren Konflikte feststellen. Grundsätzlich haben wir nur solche Menschen erreicht, die noch nicht vollständig mit der Kirche abgeschlossen haben. Allein die Bereitschaft zu einem Gespräch deutet an, dass man dieser Kirche zumindest noch etwas rückmelden will. Damit ist die Stichprobe unserer 41 Interviews, von denen 30 Personen bereits aus der Kirche ausgetreten sind und die anderen kurz davorstehen, dies zu tun, zwar nicht repräsentativ, für die Seelsorge vor Ort aber besonders einschlägig, da die Befragten noch nicht jedes Interesse an der Kirche verloren haben.



Der Austritt selbst stellt einen Schritt im inneren Konflikt dar, der ihn nicht notwendig beendet.



Geht man ins Detail, lassen sich bei vielen der Befragten, die bereits aus der Kirche ausgetreten sind, Phänomene beobachten, die auch Kirchenmitglieder kennzeichnen könnten. So bekennt sich etwa ein Drittel der von uns Befragten nach wie vor zu einem Glauben an den Gott Jesu Christi. Andere erzählen davon, dass sie an den christlichen Hochfesten immer noch die Liturgie besuchen, weil ein Weihnachts- oder Ostergottesdienst einfach zum Gepräge dieser Tage dazugehört. Sie drücken damit eine innere Vertrautheit mit einem kirchlichen Ritus aus, der ihn zu einem unabkömmlichen Element ihrer Festtagskultur macht, auch wenn sie sonst mit der Kirche nichts mehr anfangen können.



Schließlich löst das Nachdenken über den eigenen Kirchenaustritt bei einigen Befragten Überlegungen zur Frage aus, was es für das Leben nach dem Tod bedeutet, wenn man kein kirchliches Begräbnis erhält. In diesen Überlegungen wird nicht nur eine stark christlich imprägnierte Vorstellung von einem Leben nach dem Tod sichtbar, sondern auch eine Unsicherheit dahingehend, ob die – mit theologischen Konzepten gesprochen – gelebte

communio plena non plene

 Konsequenzen für das spirituelle Heil hat. Alle diese Indizien weisen viele der von uns Befragten als Menschen aus, die – obwohl aus der Kirche ausgetreten – nicht durchgängig säkularisiert sind. Sie zeigen in der Regel noch vielfältige Formen eines auch mit kirchlichen Prämissen vereinbaren Glaubens und haben noch nicht alle inneren Bezüge zur Kirche abgebrochen.



Ferner finden sich in den Interviews vielfache Schilderungen solcher innerer Konflikte, die sich zum Teil über viele Jahre hinziehen (für die folgenden Szenen vgl.

Riegel/Kröck/Faix,

 163–185). So wächst Frau C in den 1950er Jahren in einer katholischen Gemeinde auf und besucht von Nonnen geführte Bildungseinrichtungen. Diese Zeit beschreibt sie im Rückblick als ambivalentes Gemenge von Geborgenheit und persönlicher Einschränkung. Als die kirchliche Gemeinschaft vor Ort nicht angemessen mit der Scheidung ihrer Eltern umgehen kann, erlebt die Verbundenheit Cs mit dieser Kirche erste Brüche. Sie löst sich endgültig auf, als die Lehrpersonen ihrer Klosterschule ihre Glaubensfragen und -zweifel nicht ernst nehmen, die 68er-Bewegung mit ihren Schlagworten von Freiheit, Frieden und Wahrheit aber echte Alternativen eröffnet. Mit 21 Jahren tritt sie aus der Kirche aus und begibt sich auf eine spirituelle Suche, die bis heute anhält.



Auch Herr D wächst in einem katholischen Milieu auf, ohne sich diesem aber jemals vollständig zugehörig gefühlt zu haben. Als Jugendlicher gerät er in einen kognitiven Konflikt, weil sich wissenschaftliche Erkenntnisse nicht mit seinem Glauben vereinbaren lassen. Damit stellt sich für ihn die Frage nach der Wahrheit, die ihn bis heute begleitet. Da ihm die Kirche in der Beantwortung dieser Frage nicht weiterhelfen konnte, ist er schließlich aus ihr ausgetreten. Heute bezeichnet er sich als Agnostiker mit starkem humanitären Engagement.



Schließlich lebt Frau G gut integriert und vielfältig engagiert in ihrer Pfarrgemeinde, bis sie ihre Liebe zum gleichen Geschlecht entdeckt. Ihre Pfarrgemeinde ist mit dieser Situation überfordert und beginnt G zu meiden. G selbst kämpft mit der Ambivalenz zwischen der Freude am Engagement in ihrer Gemeinde und deren Ablehnung. Irgendwann lässt sie ihre Lebenspartnerschaft eintragen und tritt gleichzeitig aus der Kirche aus. Religion und katholischer Glaube sind für sie mit diesen Schritten jedoch nicht erledigt. Sie findet Anschluss in einer anderen Pfarrgemeinde, in der ihre Lebenssituation toleriert wird.



Den drei skizzierten Beispielen ist gemeinsam, dass der Austrittsprozess durch einen inneren Konflikt begleitet wurde. Frau G bleibt dem katholischen Gemeindeleben weiterhin verbunden, Frau C begibt sich auf eine spirituelle Suche und Herr D wandelt sich zum humanistischen Agnostiker. In zwei der drei Fälle bleiben die Ausgetretenen damit religiös ansprechbar. Manche der Befragten sind sich dieser Situation durchaus bewusst, wie etwa Frau V, die an einer Stelle ihres Interviews erwähnt: „Das hört sich komisch an, aber für mich ist nach wie vor eine katholische Kirche, egal in welche ich gehe, wie nach Hause kommen.“



An dieser Stelle müssen die beschriebenen Indizien für den inneren Konflikt, der mit dem Kirchenaustritt einhergeht, und den Konsequenzen, die sich aus ihm für die individuelle Religiosität ergeben, reichen. Mit den im Projekt vorhandenen finanziellen Mitteln konnten wir die Interviews zwar dahingehend analysieren, dass wir die Annahme des Kirchenaustrittsprozesses als inneren Konflikt bei vielen Menschen bestätigen können. Die Analyse der elementaren Strukturen dieses Konflikts oder gar die Rekonstruktion von typischen Konfliktverläufen steht dagegen noch aus.



PASTORALE OPTIONEN



Welche Optionen für die kirchliche Seelsorge ergeben sich aus diesen empirischen Befunden? Diese Frage ist nicht ganz trivial, weil empirische Befunde (Sehen) nie unmittelbar pastorale Strategien (Handeln) in sich tragen, sondern erst einer (pastoral-)theologischen Reflexion bedürfen. Allerdings legen es die eingangs skizzierten Überlegungen zum communio-Konzept nahe, dass kirchliche Pastoral Ausgetretene, die immer noch der spirituellen Gemeinschaft der Getauften angehören, nicht links liegen lassen kann und nach Möglichkeiten Wege zurück in die volle Gemeinschaft mit der Kirche aufzeigen sollte.

 



Bereits die Konflikte, die den Austrittsprozess begründen, müssen erkannt und bearbeitet werden.



In diesem Sinn scheint bereits die Tatsache, dass sich Kirche mit dem Kirchenaustritt beschäftigt, eine image-fördernde Maßnahme zu sein. So können die für die Essener Verbleibstudie Verantwortlichen von vielen positiven Rückmeldungen berichten, die anerkennen, dass die Kirche sich für Ausgetretene interessiert. Auch das vielfältige Feedback zu einer eigenen Studie zum Zusammenhang zwischen individueller Religiosität und Austrittsneigung (

www.kirchenstudie.de

) verweist auf das große Interesse an dieser Thematik. Und gerade das Image der Kirche spielt eine zentrale Rolle im Austrittsprozess.



Ferner verweisen die Interviews auf Menschen, die zwar aus der Kirche ausgetreten sind,