Bella und Paul

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Bella und Paul
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Uwe Kirst

Bella und Paul

Erzählungen


adakia Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Richard-Wagner-Platz 1, 04109 Leipzig

www.adakia-shop.de

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über die Homepage http://www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ohne Zustimmung des Verlags ist unzulässig.

Gesamtherstellung: adakia Verlag, Leipzig

Covergestaltung: Sophia Ferstl, Schober – Büro für Gestaltung

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

1. Auflage, Dezember 2020

ISBN 978-3-941935-69-3 (Print)

ISBN 978-3-941935-82-2 (MOBI)

ISBN 978-3-941935-83-9 (EPUB)

Für Henrike

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Die Kathedrale

Kreisel

Bella und Paul

Feierabend

Fait accompli

Das Mal

Das Fenster

Über Land

Der Heimweg

Der Augenblick

Die Tür

Die Reise

Ausschank

Aus der Zeit

Willkommen daheim!

Quattro Stagioni

Mittwoch

Dank

Die Kathedrale

Das Zentrum der riesengroßen Stadt war quirlig, voller Lärm und Staub, mit stetig wachsendem Verkehr, der rasant und unerbittlich das Überqueren einer Straße zum Abenteuer geraten ließ. Die heiße Sonne prallte auf die Dächer, unter denen die Vergangenheit brütete. Fassaden, schmutzig gelb, verschnörkelt oft, die Häuser, hoch, verschachtelt, kaum frische Farbe, aber dadurch Illustration einer vergehenden Ära. Herrschaftliches, dem auf Jahrzehnte die Macht entzogen war, fand sich neben Plattem, zweckhaft Modernem, berichtend von gebrochener Geschichte.

»Da drüben, diese prachtvolle Kathedrale, wurde vom gleichen Architekten geplant, der das GUM in Moskau entworfen hat, sie wurde aber erst Anfang des letzten Jahrhunderts fertig und ist die zweitgrößte orthodoxe Kirche auf dem Balkan.«

Der Respekt meiner Erklärerin war sichtbar. Eine verlockende Frau, die tief ruhte in der Größe der Vergangenheit ihres Volkes und die stolz darauf war, zu denen zu gehören, die die Schriftzeichen der neuen Zeit schwungvoll zu schreiben begonnen hatten.

Sie war Unternehmerin, gekleidet im Businesslook, wie er vor Jahren der Mode entsprochen hatte, aber hier herausstach aus dem Grau einheitlicher Alltagskleidung. Sie wirkte elegant, nichts störte die Harmonie und ein edel wirkender Hut zierte ihren Kopf. Niemand sonst trug einen, am helllichten Tag, in dieser Stadt.

Sie war ein Mensch, wie mir viele begegnet waren in diesen Jahren nach dem Fall eiserner Mauern in Europa. Intelligent, gebildet, aktiv und erfüllt von unbändiger Energie, endlich das umzusetzen, was die eigenen Gedanken hervorgebrachthatten. Im Rausch einer Freiheit, die es in späteren Jahren so nicht mehr geben würde, weil die aus den Trümmern alter Ideologien entstandene Bürokratie, sich zu neuer Macht aufschwingen würde, intriganter und einflussreicher als je zuvor.

Doch heute gehörte sie zu den Siegerinnen, den Vorreitern einer neuen, vernunftbegabten Zeit, die kühn in das Vakuum der Macht vorstießen und in die Hand nahmen, was zu gestalten sie sich vorgenommen hatten.

Ich fand sie imponierend und voller Charme und freute mich, an ihrer Seite eine Welt zu entdecken, die mir vorher verschlossen war und die sich so gravierend unterschied, von dem, was Deutschland, Italien, Österreich oder Portugal ausmachte, und rein gar nichts zu tun hatte mit Staatsgebilden wie Großbritannien sowie der immer noch neuen Welt in Übersee.

Wir überquerten die Straße und den weitläufigen Platz, auf dem damals kaum ein Auto parkte und schritten über einige Stufen zum Eingang, durch drei imposante steinerne Bögen, in der Mitte von zwei Säulen gestützt. Das Bild der Dreierbögen tauchte am ganzen Bauwerk immer wieder auf, zwischen kupfergrünen und goldenen Kuppeln – neobyzantinische Gewalt, eindrucksvoll und doch verspielt.

Drinnen, eine Welt aus Säulen, Nischen, Schreinen mit Gemälden, Ikonen, riesigen Lüstern und direkt unter der riesenhaften Hauptkuppel, in der Mitte des Bodens aus kreisförmig angeordneten, quadratischen, wechselfarbigen Fliesen, ein großer Stern.

»Stellen Sie sich auf diesen Platz!«, sagte meine Begleiterin, »aber halten Sie sich an mir fest.«

Verwundert schaute ich sie an und tat, wie mir geheißen, indem ich ihre Hand ergriff und mit einem Schritt in die Mitte des Sterns trat.

Da stand ich mit geschlossenen Füßen inmitten dieser Kathedrale, genau im Lot der Kuppel und bevor mir das bewusst wurde, nahm ich einen Sog wahr, der mich fast taumeln ließ. Erschrocken drückte ich die Hand, die ich hielt und hatte das Gefühl, in einem Fahrstuhl zu stehen, nein, einer zu sein, ohne mich aber nach oben oder unten zu bewegen. Etwas verstört trat ich aus dem Zentrum des Sterns wieder an ihre Seite.

»Was war das?«, fragte ich verblüfft.

Sie lächelte: »Die alten Baumeister wussten um die besonderen Plätze und Mancher kann es sehr deutlich spüren. Sie gehören offenbar dazu.«

Eine schlüssige Erklärung war das nicht, doch sie wies schon auf die übrigen Kirchenschiffe, mit bekannten Gemälden und Glasmalereien und dann, in der Krypta, die berühmte Poganow-Ikone aus dem 14. Jahrhundert. Gruppen von Schülern hörten ihren Lehrern zu, touristisch anmutende Personen vertieften sich in die Kunstwerke und auf dem Gestühl unter der Kanzel saß eine alte Frau, die betete.

Ich war beeindruckt, aber nicht völlig bei der Sache; in mir summte die Energie, die mich zum Wanken gebracht hatte. Mein Schritt war unstabil. Da fiel mir auf, dass ich ihre Hand hielt, sie nicht losgelassen hatte, nach dem Ereignis unter der großen Kuppel; sie hatte sie mir nicht entzogen. Ich empfand in dieser Berührung eine Nähe, die sich nicht erklärte, zu einer Fremden, die mir doch von meinen Universitätskollegen erst empfohlen worden war: »Gehen Sie zum Denkmal. Dort wartet Maria auf Sie. Sie hat bei uns studiert und ist sehr vielseitig; sie wird Ihnen die Stadt zeigen, bevor wir morgen mit der Arbeit beginnen.«

Auf dem Weg nach draußen schien mir die übliche Distanz verschwunden, die es zwischen Menschen gibt, die sich eben erst begegnet sind. Es herrschte ein Vertrautsein, das mich wunderte, denn ich war vorsichtig bei neuen Kontakten, in Ländern, die mir fremd waren. Ich erzählte meist wenig von mir, hörte lieber zu und war auf Distanz bedacht: Herzlich, aber höflich und genau beobachtend. Fehler sind schnell geschehen und der Weg zum Verstehen anderer Lebenswelten ist mit Missverständnissen förmlich gepflastert.

»Sind Sie Maria?«, sprach ich sie an, am Nachmittag, auf dem Platz, der mir genannt worden war. Sie hatte mich kurz gemustert und dann genickt. Das war keine zwei Stunden her, doch nahm ich sie schon jetzt anders wahr, mit einer präsenten Wärme; einem Vertrautsein ohne Grund.

»Ich lade Sie zum Essen ein«, lächelte sie mich an. »Oder machen Sie eine Diät? Das ist doch in Deutschland große Mode, habe ich gelesen, oder?«

»Bestimmt nicht, das würde man mir ansehen«, antwortete ich und eine Mitarbeiterin fiel mir ein, die mit ihrer Trennkost seit ein paar Wochen den halben Betrieb in Atem hielt.

»Ich möchte Ihnen ein Restaurant zeigen, ein privates, das zwei junge Männer gerade erst gegründet haben. Dort wird traditionell gekocht. Das gefällt Ihnen sicher. Es ist nicht weit.«

Das bedeutete hierzulande nicht selten einen Fußmarsch von zwanzig Minuten und länger, aber Maria hatte ein Auto, einen kleinen deutschen Wagen, der mehr als Worte davon kündete, dass ihr Geschäft kein Hirngespinst war und etwas abwarf. Kredite gab es nicht und sobald jemand ein Fahrzeug besaß, war das meist bar bezahlt.

 

Sie fuhr schnell und wenn mir der hier übliche Fahrstil nicht schon vertraut gewesen wäre, hätte mich das beunruhigt. Doch sie reagierte präzise und hielt den Blick auf der Straße, was mir Gelegenheit gab, sie von der Seite zu mustern. Die Nase war zierlich, die Lippen fein geformt, die Brauen perfekt, ein Hauch von Schminke auf der Haut und an den Ohren bildete ihr schwarzes, dichtes Haar kleine Halbkreise. Der kurze, enge Rock endete über den Knien, ein wenig hochgerutscht durch die Bewegungen beim Kuppeln und Bremsen, schlanke Beine, trotz der Sommerhitze feinbestrumpft.

Ihr Lächeln zeigte mir, dass sie meine Blicke bemerkte. So schaute ich besser wieder nach vorn und sah jetzt, dass wir in einem anderen Stadtviertel unterwegs waren. Es wirkte sauberer, gepflegt, mit kleineren Häusern, dafür mit weniger frischer Farbe.

Ich war erstaunt, dass ein solches Lokal fernab vom Touristentrubel in einer eher Wohngegend zu finden war und sagte ihr das. Es war nicht das erste Mal, dass mir Standortentscheidungen für Gastronomiebetriebe und Handelsgeschäfte unverständlich waren und ich rätselte dann, woher denn die Gäste in ausreichender Anzahl und Frequenz kommen sollten, um diese aufwendige Küche wirtschaftlich zu ermöglichen.

»Hier essen vor allem die, die in dieser Gegend wohnen; zunehmend Geschäftsleute. Ein Geheimtipp.«

Es war ein langgezogener Raum, erhellt von Wandleuchten. Kleine Tische, mit zwei gegenüber angeordneten Stühlen, reihten sich an den Wänden und erinnerten an die versteckten Pariser Restaurants, wo der Tisch jedes Mal vorgezogen werden musste, für denjenigen, der mit dem Rücken zur Wand saß. Weißes Tuch mit schwerem Besteck, aber elegant, Kristallgläser, hier traditioneller Ausdruck für gehobenen Standard und Festlichkeit.

Eine Speisekarte mit schlichtem Druck auf dickem Papier und Gerichte, die mir wie eine Mischung aus geheimnisvollem Orient und federleichter, australischer Küche vorkamen.

Kardamom und Limonen, Honig und Fisch. Der Wein war aus einer Spitzenlage des Landes, bestens beleumdet bei Kennern europäischer Gewächse.

Unser Gespräch schwebte zwischen den Welten, berührte Literatur wie Geschichte, Religion wie kühne Reden politischer Protagonisten. Das, was wir aßen, bildete den Kontrapunkt.

»Ich wohne auch nicht weit von hier. Wir können gerne den Kaffee bei mir trinken. Es würde mir Freude machen, Sie dazu einzuladen!« Sie ließ mich nicht zahlen und als ich zum Auto steuerte, lächelte sie: »Es sind nur ein paar Schritte.«

Nach wenigen Minuten wanderten wir durch Gänge und über Treppen bis zu einer Tür auf einem langen Flur mit vielen solcher Türen. Ich sah kein Namensschild, aber das war hier nicht ungewöhnlich; es erinnerte mich an England, wo meist nur Wohnungsnummern zu sehen waren oder die Häuser klangvolle Namen hatten. Ein Flur mit wenigen Möbeln, hell, mit Bildern an den Wänden, modern, keine Drucke. Sie führte mich in ein Zimmer, das größer als erwartet, freundlich wirkte und warm, wie der Flur nicht überladen, eine Mischung aus Bequemlichkeit und Stil. Ich nahm den Platz, den sie anbot, und kam mir nicht fremd vor.

Den Kaffee bereitete sie in einer dieser Metallkonstrukte, die man direkt auf die Flamme oder Kochplatte setzte und die eine Art Espresso hervorbrachten, der meist nicht übel war. Zucker stand in einer Schale neben den Tassen, einen kleinen Krug mit klarem, kühlen Wasser stellte sie dazu. Wir saßen an einem viereckigen Tisch aus dunklem, poliertem Holz, auf dem eine Spitzendecke lag. Die Tassen waren klassisch geformt, die zierlichen Löffel wirkten verspielt. In dem sonst modern gestalteten Raum bot dieser Platz, zusammen mit einem garantiert ebenso alten Glasschrank, einen deutlichen Kontrast.

»Das ist schon lange im Besitz meiner Familie.« Sie hatte die Blicke bemerkt. »Früher gehörte dazu noch ein selbstgemachter Likör. Möchten Sie vielleicht ein Glas probieren?«

Die Dämmerung war zwar schon in Dunkelheit übergegangen, aber es gab keinen Grund, schnell zu meiner Unterkunft zu kommen, die, sauber und freundlich, doch recht spartanisch eingerichtet war. Außer ein paar Seiten in meinem Buch, in dem ich las, wartete dort nichts auf mich.

Ich nickte und sie trat zur Vitrine, nahm Gläser mit schlankem Stiel und eine dunkle Flasche ohne Etikett heraus, löste den Korken und goss beide halbvoll. Es war eine dunkelrote, schwere Flüssigkeit und ich war gespannt, was das alte Hausrezept hervorgebracht haben mochte. Sie stand mit dem Rücken zur Vitrine, in jeder Hand ein Glas und lächelte mir zu, so dass ich automatisch aufstand und die zwei Schritte zu ihr ging.

Sie gab mir eines davon und hob das ihre: »Lassen Sie uns anstoßen und etwas sagen. Es bringt Unglück bei uns, wenn man trinkt und nichts dazu sagt.«

Ich schaute sie erwartungsvoll an, denn sie war die Gastgeberin. Ihr voller Blick traf meine Augen, da ergriff mich das gleiche Gefühl, wie in der Kathedrale: Ein leichter Schwindel und eine merkwürdige Wärme, die in mir aufstieg.

»Wenn Menschen sich begegnen, berühren sich immer auch ihre Herzen.«

Das Kristall klang aneinander und ich nahm einen Schluck. Der bittersüße Geschmack des schweren Likörs erreichte augenblicklich alle Geschmacksknospen. Unsere Blicke lösten sich voneinander, mein Mund wurde trocken; ein inneres Vibrieren kam auf. Ein Lichtreflex, gebrochen durch den tiefroten Inhalt des Glases, zeichnete purpurne Muster auf die helle Haut ihres Dekolletés. Rubin auf Samt. Ihre Lippen schimmerten, benetzt vom Likör; und als sie meinen Mund berührten, atmete ich ihr Parfum.

Ich erwachte von einem Streicheln. Es war dunkel, das Straßenlicht warf ein rechteckiges Muster auf das Parkett. Sie strich mir über mein Gesicht: »Ich bringe dich zurück.«

Ich fand die Kleider verteilt um das breite Bett inmitten eines Raumes, an den ich mich nicht erinnerte. Sie stand in einem leichten Mantel wartend im Flur. Wir gingen erneut über Treppen und Gänge bis zu ihrem Auto; die Straßenbeleuchtung war erloschen, ich wusste nicht, warum.

Sie fuhr konzentriert, wir sprachen nicht, ich atmete Nähe, innere Ruhe. Ihr Geschmack war auf meinen Lippen.

Wir kamen an und sie stieg mit mir aus, trat vor mich hin und legte mir beide Hände auf die Schultern. In ihren Augen sah ich ein Licht. Ihre Fingerspitzen berührten mein Gesicht, einer Umarmung wich sie aus, stieg in ihren Wagen, setzte den Motor in Gang und fuhr davon.

In meinem Zimmer angekommen, lag ich lange wach und im Kopf lösten sanft bewegte Bilder einander ab, bis ich einschlief.

Meine Kollegen begrüßten mich am nächsten Morgen: »Haben Sie den Abend gut verbracht? Unsere Kollegin Maria haben Sie ja leider verpasst, sie hat gestern angerufen, dass sie eine Zeit gewartet hätte, dann aber gehen musste. Das macht aber nichts – dann zeige ich Ihnen in den nächsten Tagen selbst, was sehenswert ist.«

In mir strahlte das Bild von Maria, das Schimmern ihrer Haut, ihre berührende Stimme, der Laut, der uns entrückte.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Er klang besorgt.

»Ja, ja«, beeilte ich mich zu sagen. »Natürlich. Danke, alles gut.« Ich erhob mich, ordnete meine Unterlagen und suchte nach dem Zettel, auf dem ihre Adresse notiert war. Ich fand ihn nicht.

Kreisel

Der Rückspiegel machte ihn wahnsinnig. Sein leichtes Vibrieren ließ das, was er sehen wollte, so verschwimmen, dass kaum zu erkennen war, ob sich ein oder zwei Fahrzeuge von hinten näherten. Das alles bei Linksverkehr, der ihm zwar vertraut war, aber in den ersten Stunden nach seiner Ankunft Konzentration forderte.

»Ja, ich freue mich.« Sein Lächeln, das niemand sah, hätte trotzdem jeden für ihn eingenommen. »Eine schöne Aufgabe in meinem England!«

Er schmunzelte über diese Vereinnahmung all dessen, was wir irgendwann und irgendwo einmal erlebt oder nur wahrgenommen hatten. Was wem in der Welt alles gehören würde, gäbe es eine diesbezügliche Software, die das erfasste. Lange würde es nicht dauern, bis biomechanische Rechner im Nanobereich am Körper befestigt oder gar integriert waren. Sie lieferten das dann als nette Zusatzinfo. Und garantiert nicht nur dem Träger des digitalen Kunstwerks. Allein London gehörte so, laut dieser Statistik, fast der halben Welt. Der Halbwelt war es ja schon heute zugefallen, so wirkte es inzwischen zumindest auf ihn.

Diese Fahrt war seit langem wieder die erste auf den Britischen Inseln. Hierher eingeladen zu sein – ein Auftrag, der ihn im Herzen freute. Samt der Besonderheiten hiesiger Usancen im Verkehr. Die Kreisel vor allem – der erste kam sicher bald – und da war er schon. Rechts einordnen, rechts blinken, dann links in ihn einbiegen, sich dabei aber erneut rechts halten, um ihn vier Ausfahrten später wieder links verlassen zu können. Klingt wie ein Vortrag über den Gebrauch des Gerundiums in der englischen Sprache. Kaum Staus an solchen Knotenpunkten gaben den Erfindern dieses Verkehrsprinzips aber recht.

Er entspannte sich spürbar, als die weiten Flächen der Wiesen und Felder in leichten Wellen den mühsamen Straßen der Kleinstadt gewichen waren, gesäumt von niedrigen Mauern und Hecken, die, ebenso geschwungen, klare Areale schufen, Besitzverhältnisse verkündend. Sie waren niemals höher, als ein Pferd im Sprung überwinden kann, ohne zu scheuen, denn die Einfriedungen der Äcker durften die wilde Jagd der Landlords nicht stoppen. Ein altes Gesetz englischen Adels, das zunehmend bedeutungslos wurde. Obgleich – hier in Yorkshire tickten viele Uhren anders, als im Süden des Landes. Es war über zwei Jahrzehnte her, dass ihn sein Weg in diese Grafschaft geführt hatte; und so genoss er diesen Tag als zweiten Fußpunkt der Ereignisse seines Lebens, das aus einem wahren Kuppelbau solcher Erinnerungsbögen bestand.

Die Hecken am Straßenrand, durchbrochen von krumm gewachsenen Bäumen, verbargen oft Steinbalken, Bordsteinen ähnlich. Ihnen zu nahe zu kommen, vermied er; dem Gegenverkehr einen Außenspiegel zu opfern allerdings desgleichen. Trotzdem liebte er diese schmalen Straßen, die selten geradlinig verliefen und die ihm eine spontane Abstimmung mit entgegenkommenden Fahrzeugen abforderten; frei zu sein, erkunden und entdecken, auf sich selbst gestellt – das liebte er. Nur nicht zu Fuß in Kratergelände, sondern eher mit gefülltem Tank und Luxusfahrwerk.

Sein Ziel war nicht mehr weit und seine Gastgeber hatten einen Gesprächsort für das Treffen gewählt, den er in berührender Erinnerung hatte - als einen seiner ersten Aufenthalte in diesem Land: Middlethorpe Hall. Hochnäsig schlichtes Manor aus dem 18. Jahrhundert inmitten eines Prinzessinnenparks mit Springbrunnen und bemoosten Skulpturen. Die frühere Auffahrt wurde zum Hotelentree und hinter dem Gebäude eine langgestreckte Terrasse, auf der weiße Tische und Stühle standen – nur die Queen mit ihrem Gefolge fehlte.

Eine Dunststickerei schwebte über den Wiesen; die Sonne zog das Nass aus den Grasbüscheln und Kriechgehölzen, leckte Pfützen flach und versuchte sich am Schattenmalen.

Sein erstes Erlebnis in Middlethorpe Hall war die Einladung seines damaligen Geschäftsfreundes John Forbes aus York, ein verschmitzter Anwalt, dessen Leibesfülle seine Beweglichkeit nicht einschränkte. Präsident des Anwaltsvereins, in aller Gestik getragen von altenglischer Würde, die sich mit lebhafter Intelligenz verband. Seine nicht minder ausladende Ehefrau war Französin von Geburt und vereinte überzeugend die englische Küche mit südländischer Leichtigkeit und dem unnachgiebigen Anspruch auf Qualität und Einfachheit. Die Tochter war zur Zeit in Deutschland; den Fotos nach eine Schönheit.

Zum vorläufigen Abschied von England baten sie ihn zu einem Herrenessen im altenglischen Ambiente, an einer Tafel mit Silberbesteck, Römern und süffigem Wein. Alle waren ihm gewogen und in seinem Inneren formte sich ein Anker für diese Menschen, dieses Land und diesen Platz. Nach dem Dinner führte ihn sein Gastgeber zu einem Kaminzimmer, wo sie in dunkelbraunen Ledersesseln einen Whisky tranken, der vierundzwanzig Jahre alt war und von einer Destille aus Islay stammte. Die Erklärung fehlte in seiner Erinnerung, aber der Respekt, mit dem sein Gastgeber das Getränk behandelte, klang in ihm nach.

Jetzt wäre er fast von der Straße gerutscht. »Was für ein Idiot, zu schnell und auf der falschen Seite! Mietwagen! Naja. Wenn ich keine Ahnung habe, dann fahre ich doch langsam!«

Da fiel ihm sein erster Tag mit Linksverkehr ein, auf Malta – er hatte den Wagen zehn Minuten. Mitten über den Kreisel war er gefahren, weil er sich nicht entscheiden konnte: rechts oder links vorbei. Jeder war sofort stehengeblieben und hatte ihn durchgelassen, den Mietwagenfahrer – auf Malta ging das.

 

Wie es heute wohl hier aussehen wird? In den vergangenen Jahren gerieten ihm verinnerlichte Bilder zu Synonymen für Großbritannien. Gefühle, Formen, Farben hatten sich mit diesen Tagen in Yorkshire verwoben und dazu beigetragen, dass sein Interesse an diesem Land wachblieb, obwohl es nichts gab, das ihn beruflich damit verband. Die lukrative Vortragsreise durch Nordengland und Schottland würde das ändern – seine Agentur in Berlin hatte ihm den Kontakt vermittelt.

Warum es Middlethorpe Hall war, das zum Treffpunkt für den Erstkontakt wurde, konnte er nur vermuten. Offenbar war es nach wie vor ein bestens geeigneter Ort, um vom Glanz des britischen Empire zu künden, nachdem in der Gegenwart eher kleingeistige Strömungen von wenig staatsmännischer oder gar weltpolitischer Kompetenz kündeten.

Er hatte ernsthaft erwogen, diese Reise zu nutzen, um gegebenenfalls ein Refugium zu finden; hier, im Harry-Potter-Land. Zum Abschalten, Nachdenken, Ideenentwickeln – gepfiffen auf den Brexit. Er war allein, voller Sehnen nach Heimatlichkeit, die in Deutschland Gemütlichkeit hieß und wie Staub und Lavendelsäckchen roch.

Das erwartete Gespräch lockte ihn, denn der hiesige Partner hatte Letitia Brown angekündigt. Sie war Leiterin einer PR-Agentur mit einem speziellen Bildungsauftrag zur Förderung des europäischen Gedankens im Vereinigten Königreich. Das klang zwar fast anachronistisch in dieser Zeit, aber er trug gern dazu bei, die Vorzüge eines innovativen Europas zu erläutern, wo immer man ihm zuhörte. Er liebte es, wenn ihm Menschen aufmerksam lauschten. Sie hatte oft in Deutschland gearbeitet, er hoffte auf anregende Gedanken und den Geist einer Britin.

Nachdem die Straße durch eine moorige Fläche geführt hatte, in der versprengte Schafe mit roten Markierungen weideten, wuchs immer mehr Bebauung aus dem Horizont: Die Stadt York rückte näher. Sein Hotel zu finden, würde kein Problem sein, denn das Navigationsgerät kannte sich aus. Indes sprach es deutsch. Quelle größter Heiterkeit, wenn es zum Beispiel aus Cambridge »Kammbriddge« generierte.

Er sah die Gärten, die vielen Mäuerchen und erinnerte sich an John Forbes. Schade, dass er tot war; er hätte jetzt gern seine Meinung gehört zur Lage im Land. Er hatte immer gelassen reflektiert und pointiert geurteilt. Zu Gast in dessen Haus fiel ihm eines Morgens auf, dass tiefe Parallelspuren das um ein Haar perfekte englische Grün durchpflügt hatten.

»Was haben Sie über Nacht mit Ihrem Rasen gemacht?« fragte er seinen Gastgeber.

»Oh«, entgegnete Forbes. »Das war nicht ich, das waren die Diebe, die den Rasentraktor gestohlen haben.« Und ungerührt griff er zum gebutterten Toast, während er die Baked Beans seines Englisch Breakfast löffelte.

Sie war vorbei, diese Zeit. Sein unbewusstes Lächeln trug für einen Beobachter einen wehmütigen Zug. Wir erleben Menschen und merken nicht, dass wir sie im Grunde lieben, dass sie ihren Platz in unserem Alltag wie selbstverständlich besetzen, sich passend einrichten und Teil dieses Lebens bleiben. Immer verdeckt von akutem Handeln, aber stets präsent, glockenklar auftauchend, sobald unser Unterbewusstes die Gelegenheit bekommt, etwas ›nach oben‹ zu schicken, ins geistige Licht. Belangloses, so urteilen wir oft, doch nichts ist ohne Sinn, was uns das Innerste liefert. Passgenau, aber häufig unverständlich, da Verstehen an Einsicht geknüpft ist, die meist erst später kommt. Es heißt, dass wir sie ›gewinnen‹. Das stimmt, denn ständig tobt der Wettkampf mit unserer eigenen Dummheit.

Er erreichte sein Hotel, das, wie erwartet, kein Kasten war aus Glas und Beton, sondern viktorianische Architektur verkörperte. Trotz aller Renovierungsorgien nach wie vor harmonisch, aber mit den Hühnerstiegen, die hier Treppe genannt werden.

Sein Zimmer hatte eine freistehende Badewanne. Geeignet, einer nackten Schönheit im Bade zuzusehen, während man, den alten Sherry im Glas, darauf wartete, bis sie trocken genug war, um ihr beim Schließen der Verschlüsse zu assistieren. Das Badezimmer war kein enges Kabinett, sondern voller Licht und Raum, die Toilette wiederum ungeeignet für korpulente Gäste.

Die altertümliche Schließtechnik der Fenster war respektvoll erhalten worden und nach ihrer Überwindung konnte sein Blick die Stadt erfassen.

Die Kathedrale mit ihrer kantigen Silhouette, die tausend Schornsteine auf Pultdächern, das schwindende Licht, das rötliche Reflexe auf ungezählte Glasscheibchen zauberte.

Er räumte seine wenigen Utensilien in Bad und Schränke, zog die Reisekleidung aus und wählte eine Krawatte zum Hemd, die ihm gefiel. Er war es Middlethorpe Hall schuldig, selbst wenn alle Welt in Jeanslumpen und Fünf-Euro-T-Shirts sogar in Opernpremieren latschte. Er hatte keinen Einblick, wie Letitia, er nannte sie in Gedanken schon bei ihrem Vornamen, gekleidet sein würde. Ein Jeansberuf in einem Cut-away-Land? Was trugen Geschäftsfrauen heute zum Dinner in historischen Mauern?

Seine Gastgeber hatten ein Taxi geschickt; nicht ein solches, wie es für London typisch war, sondern eine moderne Marke südostasiatischer Herkunft und die recht kurze Fahrt endete, wie erwartet, vor dem Eingang, den er kannte. Nach dem Aussteigen hatte er, genau wie vor vielen Jahren, das Gefühl, klein zu sein vor diesem imposanten Haus und zugleich erhobenen Hauptes durch das verzierte Tor gehen zu dürfen, dazuzugehören, ein erwarteter Gast zu sein.

Die Lobby wirkte noch immer wie eine Szene aus Downton Abbey, nur, dass Flachbildschirme auf altem Holz mit den korrekten Sakkos der Angestellten und deren beflissenem Blick konkurrierten.

Leticia Brown stand am Tresen des Portiers und er war froh, dass er nicht die Casual-Variante gewählt hatte, da neben ihr zwei jüngere Männer mit Fliege posierten. Sie war es sicher, denn sobald sich die Tür hinter ihm schloss, kam sie auf ihn zu, mit fragendem Blick, der schnell strahlend wurde, da sie ihn ebenfalls erkannt hatte. Niemand trifft heutzutage irgendwen, den er nicht vorher googelt.

Es wurde ein Dinner, wie er es liebte, mit besten Weinen, wie es heute in England erwartet werden konnte. Er aß mit Appetit und Interesse, denn die englischen Speisen waren besser als ihr Leumund, vor allem, weil ausgesuchte Rohstoffe hier Standard waren und niemand auf die Idee kam, dass ein Stück bestes Fleisch billig zu haben sein müsse.

Seine Gastgeberin kannte sich aus und die Inhalte seiner Vorträge waren bald umrissen. Witzig war sie, vor allem, wenn sich ihre Mitarbeiter, das waren die beiden Herren in ihrer Begleitung, im Gespräch zu weit vorwagten. Er genoss das Geplänkel, denn er war geübt in der behutsamen Hartnäckigkeit, mit der Briten ihren Faden verfolgten, obwohl eine lockere Floskel die andere abzulösen scheint. Das Dessert, ein Crumble, wie es fast nur in England zu bekommen war, bot Gelegenheit, einen schweren Portwein zu kosten.

Dann war alles besprochen und vereinbart und es kam das, was er im Stillen gehofft hatte: Mrs Brown schickte ihre Begleiter nach Hause und lud ihn zu einem Whisky an den Kamin ein.

»Es interessiert mich doch sehr«, lächelte sie, »was Sie damals bei ihrem ersten Besuch in Yorkshire so erlebt haben.«

Das wunderte ihn zwar, aber welche Überschrift diesen Teil des Abends zieren würde, war im egal. Die Hauptsache, er hatte Gelegenheit, ihr weiter einige Zeit zuzuhören und sie zu betrachten, denn er nahm ihre Anziehungskraft wahr, die vom recht vertrauten Grundton herrührte, den sie ihm gegenüber von Anbeginn angeschlagen hatte.

»Aber sehr gern!« Er erhob sich ebenfalls. »Dann sehe ich gleich, ob der Kamin noch derselbe ist, an dem ich damals saß.«

Es waren zwei Sessel reserviert und bald saßen sie einander halb gegenüber, den Blick auf das Feuer gerichtet, das in dem Kamin, der in der Tat derselbe war, vom Personal präzise bei mittlerer Flamme gehalten wurde.

»Was möchten Sie trinken? Wirklich Whisky? Es gibt hier einen 16 Jahre alten Lagavulin; aber ich möchte vorher mit Ihnen noch etwas anderes trinken. Einverstanden?«

Er nickte; ihr Lächeln erinnerte ihn schon den ganzen Abend an irgendetwas.

Sie orderte zwei Champagner, dann erhob sie das Glas, sah ihn lange an und sagte, unvermutet im fast akzentfreien Deutsch: »Ich trinke darauf, dass Sie meinen Vater kannten und heute Abend gesagt haben, dass er wie ein väterlicher Freund für sie war.«

Er wusste zunächst nichts zu sagen, so verblüfft war er über ihren Toast.

»Ihr Vater?« Und auf einmal sah er das Foto vor sich, dass ihm John Forbes damals gezeigt hatte: die Tochter in Deutschland. Die Augen, die Kopfhaltung – sein Witz. »Letitia Forbes? Sie sind Letitia Forbes!«

»Ja, das bin ich. Brown hieß mein Mann.« Ihr Gesicht strahlte. »Und mein Vater hat immer wieder über den jungen Deutschen gesprochen, der garantiert Erfolg damit gehabt hätte, sich in England niederzulassen.«

Sie tranken ihren Champagner und seine verstaubten englischen Geschichten rissen nicht ab, immer wieder ergänzt durch die Ereignisse, die sie beisteuerte.

»Aber wir wollten doch Whisky trinken,« sagte sie, als die Champagnergläser leer waren. »Probieren wir den Lagavulin oder haben Sie einen anderen Wunsch?«