Postkoloniale Theologien

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Postkoloniale Theologien
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Stefan Silber

Postkoloniale Theologien

Eine Einführung

Umschlagabbildung: © istock.com/Juliano Carvalho

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

utb-Nr. 5669

ISBN 978-3-8252-5669-2 (Print)

ISBN 978-3-8463-5669-2 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

  1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen 1.1 Narrative Zugänge 1.2 Postkoloniale Studien: Geschichte und Begriff 1.3 Postkoloniales Deutschland? 1.4 Koloniale Kontexte heute 1.5 Bedeutung der postkolonialen Studien für die Theologie 1.6 Wissen und Macht in der Theologie. Zum Aufbau dieses Buches

  2 Diskurspraktiken 2.1 Die Erfindung des Anderen 2.2 Die Versteinerung von Identitäten 2.3 „Schwarz bin ich und schön.“ (Hld 1,5). Rassistische Traditionen 2.4 Konstruktionen europäischer Überlegenheit 2.5 Gibt es überhaupt Religionen? 2.6 (Post-)Koloniale Genderbeziehungen 2.7 Wer schreibt (Kirchen-)Geschichte? 2.8 Überschneidungen verschiedener Achsen der Kolonialität 2.9 Hegemonie. Zusammenfassung

  3 Machtbeziehungen 3.1 ‚Der alles so herrlich regieret‘? Leben im Imperium 3.2 Losgekauft? Wirtschaftliche Abhängigkeit und christliche Erlösung 3.3 „Missionieren ist Kolonisieren.“ 3.4 Landbesitz und Raumkonstruktionen 3.5 Wer ist drinnen, wer draußen? 3.6 Durch Leiden erlöst? 3.7 Aus den Augen, aus dem Sinn 3.8 Kolonialität der Macht. Zusammenfassung

  4 Widerstand 4.1 Wechselnde Perspektiven 4.2 Den Rücken kehren 4.3 Sich zuwenden und zuhören 4.4 Option für die Subalternen? 4.5 Kontrapunktisches Lesen 4.6 Kontaktzonen 4.7 Disziplinlosigkeit. Zusammenfassung

  5 Alternativen 5.1 Die Bibel anders lesen 5.2 Indigene Theologien 5.3 Autonomie und Kreativität der subalternen Religionen 5.4 Ökofeministische Theologien 5.5 Theologie als Transgression: Queere Alternativen 5.6 Postkolonialer Neokolonialismus? 5.7 Jenseits der Grenze. Zusammenfassung

  6 Anstoß oder Anstöße für Theologien in Europa? 6.1 Sich der eigenen kolonialen Vergangenheit stellen 6.2 Europäische Theologien als kontextuelle Theologien 6.3 Machtpositionen aufdecken 6.4 Alternativen und Widerstand zulassen 6.5 Parteiisch und deswegen relevant 6.6 Befreiende Verunsicherungen. Fazit

  7 Schluss: Abschied vom Kolonialwarenladen

  8 Kurzbiografien

  9 Glossar

  10 Bibliografie

  11 Bibelstellenverzeichnis

  12 Namensverzeichnis

Vorwort

Ohne es zu ahnen, hatte ich mich schon lange mit postkolonialen Themen beschäftigt, als ich etwa um das Jahr 2010 zum ersten Mal intensiv mit diesem Begriff und mit den Theorien und Studien, die damit verbunden sind, in Berührung kam. Die lateinamerikanische Theologie der Befreiung und andere Theologien ‚der Dritten Welt‘ – wie man in den 1980er Jahren völlig selbstverständlich formulieren konnte – begleiten mich seit Beginn meines Theologiestudiums und bereits zwei bis drei Jahre zuvor. Später übten auch die vielfältigen interkulturellen und indigenen Theologien eine große Faszination auf mich aus, vor allem als ich 1997-2002 in Bolivien lebte und arbeitete. Alle diese Theologien entstanden in der Auseinandersetzung mit Kontexten, die man heute als postkolonial bezeichnen könnte. Die postkolonialen und dekolonialen1 Theorien, die sich in etwa derselben Zeit entwickelten, wurden erst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren als wichtige GesprächspartnerInnen für die Fortentwicklung dieser Theologien in Anspruch genommen – wenigstens in meiner Wahrnehmung.

Die Auseinandersetzung mit postkolonialen Theologien war für mich dementsprechend folgerichtig. Zugleich bedeuteten sie für mich eine grundlegende theologische Verunsicherung. Denn der Standort, von dem aus ich diese Auseinandersetzung betrieb, war (und ist bis heute) der eines männlichen weißen Erstwelttheologen, der in Europa lebt und arbeitet. Genau dieser Standort wird aufgrund seiner vielfältigen hegemonialen Privilegien vom Postkolonialismus in Frage gestellt. Was bedeutet es demnach, von ihm aus über postkoloniale Theologien zu forschen und zu schreiben?

Gastprofessuren in El Salvador (2017) und Bolivien (2018) zum Thema des Postkolonialismus ermöglichten es mir, meinen persönlichen Standpunkt in der Auseinandersetzung mit weniger privilegierten Perspektiven selbstkritisch zu schärfen. Diese Erfahrungen haben mich ermutigt, die Herausforderungen der postkolonialen Theologien auch deutschsprachigen Kontexten besser zugänglich zu machen. Denn unsere Welt ist im Ganzen postkolonial, nicht nur die Staaten, die aus den Kolonien hervorgegangen sind. Daher werden Kirche und Theologie insgesamt vom Postkolonialismus angefragt, gerade auch wir in Europa. Denn unsere koloniale Vergangenheit fordert uns immer wieder heraus, uns der postkolonialen Gegenwart und ihren Problemen zu stellen.

Diese Einführung in postkoloniale Theologien soll dem Ziel dienen, die Fragen und Herausforderungen post- und dekolonialer Studien für die Theologie besser kennenzulernen. Sie richtet sich auf grundlegende fundamentaltheologische und methodische Fragen und arbeitet dabei exemplarisch mit zahlreichen verschiedenen Beispielen aus unterschiedlichen theologischen Fachgebieten. Es lassen sich daher konkrete Überlegungen u.a. für die Exegese, die Dogmatik, die Kirchengeschichte, die Praktische Theologie, die Sozialethik und eben auch für die Fundamentaltheologie anschließen.

Ich danke zahlreichen GesprächspartnerInnen in Bolivien, Brasilien, El Salvador und aus anderen lateinamerikanischen Ländern, aber auch aus anderen Teilen der Welt sowie nicht zuletzt auch aus und in Europa für vielfältige hilfreiche Anregungen und konstruktive Kritik. Ebenso danke ich allen postkolonialen Theologinnen und Theologen, deren Literatur ich in der Auseinandersetzung mit diesen Fragen lesen durfte, und die zum Teil in diesem Buch besprochen wird. Ich bemühe mich wiederzugeben, was ich gelernt habe. Alle Fehler und Fehleinschätzungen sind daher meine eigenen; die Leistungen und Erkenntnisse postkolonialer Theologien verdanke ich anderen.

 

Sailauf, 1. Februar 2021

Stefan Silber

1 Was heißt denn hier ‚postkolonial‘? Grundlagen

Postkoloniale Studien und Theorien machen immer mehr von sich reden. Das Stichwort taucht inzwischen in sehr vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereichen auf. In den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte sich weltweit auch in der Theologie eine vielfältige Rezeption dieser kritischen Denkweisen. In Deutschland steckt die Diskussion dazu jedoch eher noch in den Kinderschuhen.

Der Begriff ‚post-kolonial‘ kann dabei leicht zu Missverständnissen führen. Denn er bezieht sich in einem chronologischen Sinn zunächst lediglich darauf, dass diese Studien zeitlich ‚nach‘ dem Ende der kolonialen Herrschaften insbesondere Großbritanniens und Frankreichs in vielen Ländern Asiens und Afrikas in der Folge des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. In einer inhaltlichen Perspektive geht es in der postkolonialen Kritik jedoch gerade darum aufzudecken, inwiefern die koloniale Herrschaft, ihre Denkweisen, ihre prägende kulturelle Kraft und ihre politischen und wirtschaftlichen Machtstrukturen über das offizielle Ende der Kolonialzeit hinaus erhalten geblieben und – möglicherweise in veränderten Gestalten – weiterhin wirksam sind.

Das zweite mögliche Missverständnis besteht darin, dass das Adjektiv ‚kolonial‘ in einem verengten Sinn nur auf Tatsachen und Verhältnisse bezogen wird, die offen und unmittelbar mit dem Kolonialismus zu tun haben. Die postkolonialen Studien machen hingegen darauf aufmerksam – und dies wird auch ein wesentliches Thema dieses Buches sein – dass die Kolonialzeit und die kolonialen Beziehungen eine sehr viel breitere und tiefere Wirkung und Wirkungsgeschichte entfaltet haben als gemeinhin angenommen wird. Der Postkolonialismus schließt daher auch gesellschaftliche und kulturelle Phänomene in seine Analysen ein, deren Zusammenhang mit dem Kolonialismus vielleicht nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Postkoloniale Studien beschränken sich also nicht einfach auf eine Kritik des historischen Kolonialismus, sondern analysieren gegenwärtige kulturelle, wirtschaftliche und politische Konstellationen daraufhin, inwieweit sie durch historische Erfahrungen der Kolonialzeit bis in die Gegenwart hinein geprägt sind.

Bevor es in den weiteren Kapiteln dieses Buches um eine Einführung in die sich entwickelnden postkolonialen Theologien geht, sollen in einem ersten Schritt einige Grundlagen erarbeitet werden: Es folgt zuerst ein ganz knapper Überblick über die Geschichte und die Anliegen der postkolonialen Studien (mit Hinweisen auf sehr gute Einführungstexte in diese Theorien; vgl. 1.2). Anschließend stellen sich die Fragen, warum diese Studien auch eine Bedeutung für die Theologie besitzen (1.5) und warum man sich ihnen auch heute (1.4) und gerade auch in Deutschland stellen sollte (1.3). Zur Veranschaulichung stehen am Beginn drei kurze narrative Zugänge, die sehr gut in die Thematik einführen (1.1).

1.1 Narrative Zugänge

Die tunesische Historikerin und Journalistin Sophie BessisBessis, Sophie erinnert sich an ihre Kindheit im Lyzeum Jules Ferry während der kolonialen Epoche Tunesiens:

„In der Pause verschwanden die nationalen Unterschiede angesichts des scheinbaren Ökumenismus der Kinderkameradschaft nicht. Es gab die Tunesierinnen, Araberinnen oder Jüdinnen im Gegensatz zu den ‚Französinnen‘, eine globale Einheit, deren Homogenität die besondere Freundschaft überschritt, die mit jeder von ihnen geschlossen werden konnte. Denn die Französinnen erdrückten uns mit ihrer Verachtung. Selbst wenn wir ihre Arroganz nicht akzeptierten, zweifelten wir nicht an ihrer Überlegenheit.

Denn erstens waren sie blond, mit langen, glatten Haaren, die mit einer eleganten Kopfbewegung zurückgeworfen werden konnten. Angesichts dieser fast engelhaften Natur bereitete uns die masochistische Betrachtung der schwarzen und lockigen Haare, die unseren Kopf schmückten, ungeheure Schmerzen.

Außerdem gingen sie zur Kommunion. Mit Brautkleidern, mit Tüll und Schleier, mit einem Messbuch in der Hand und einer Fülle frommer Bilder. […] Wer von uns, Muslimas und Jüdinnen, die dieselbe Dunkelheit teilten, träumte nicht einmal in ihrer Kindheit davon, Katholikin zu sein, um dieses Märchen zu erleben? […]

Vor der sechsten Klasse mussten wir wählen, welche zweite Sprache wir lernen wollten. Für meine Eltern war die Frage einfach: Wir waren zwar Juden, aber zuallererst Tunesier: also Arabisch. Nachdem sie meine Anmeldung gelesen hatte, rief meine Lehrerin mich zu sich: ‚Wie schade, dass Sie kein Englisch gewählt haben!‘, rief sie aus. Ich erinnerte mich lange an ihre traurige Stimme, die den kulturellen Rückschritt beklagte, zu dem ihre gute Schülerin verurteilt wurde.“1

In ihrer Erinnerung beschreibt BessisBessis, Sophie mehrere charakteristische Aspekte der kolonialen Kultur: Die tunesischen Kinder zweifelten nicht an der Überlegenheit der Französinnen. Diese Überlegenheit hatte körperliche, äußerliche Gründe (die Haare), kulturelle und religiöse Aspekte (die Erstkommunion, die Sprache) sowie wirtschaftliche und soziale Merkmale: „Die Französinnen machten Urlaub ‚in Frankreich‘“2. Dieses mythische, von den Urlaubsheimkehrerinnen als paradiesisch beschriebene Land war durch einen tiefen Abgrund von den tunesischen Mädchen entfernt. „Die bloße Tatsache, zu dieser Welt zu gehören […], verlieh [den Französinnen] einen legitimen Vorrang“3. Die eigene Identität hingegen wird konsequent abgewertet („Dunkelheit“, „Rückschritt“), wie es auch dem pädagogischen Ideal des kolonialen Schulsystems entspricht. Deswegen kommentiert sie: „Wir lernten, dass es wenig ruhmreich war, das zu sein, was wir waren.“4

Erst viel später, als die Autorin als Erwachsene Frankreich bereisen konnte, zeigte sich für sie endgültig, dass der gefühlte Abgrund, die Unterscheidung, die Hierarchisierung zwischen den französischen und den tunesischen Schülerinnen nicht selbstverständlich war, sondern ein Produkt ihres kolonialen Kontextes.

Frantz FanonFanon, Frantz, einer der Vordenker des Postkolonialismus und der Entkolonisierung, beschreibt in einer Erinnerung seine ersten Erfahrungen in Frankreich. In seinem Geburtsland Martinique war er sich zwar seiner Hautfarbe bewusst, aber nicht darauf vorbereitet, wie diese Hautfarbe im Blick weißer Menschen aussehen würde:

„‚Sieh mal, ein Neger!‘ Das stimmte. Ich amüsierte mich. ‚Sieh mal, ein Neger!‘ Langsam zog sich der Kreis zusammen. Ich amüsierte mich unverhohlen. ‚Mama, schau doch der Neger da, ich hab’ Angst!‘ Angst! Angst! Man fing also an, sich vor mir zu fürchten. Ich wollte mich amüsieren, bis zum Ersticken, doch das war mir unmöglich geworden.“5

Erst im Blick der anderen, die ihn ihm den „Neger“ sehen, erkennt er den Rassismus, dem er unterworfen ist, die gedanklichen und emotionalen Assoziationen, die offenbar mit seiner Hautfarbe verbunden sind:

„Ich war verantwortlich für meinen Körper, auch verantwortlich für meine Rasse, meine Vorfahren. Ich maß mich mit objektivem Blick, entdeckte meine Schwärze, meine ethnischen Merkmale – und Wörter zerrissen mir das Trommelfell: Menschenfresser, geistige Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe.“6

Im Gegensatz zu der Selbstverständlichkeit, mit der er in der Karibik seine Hautfarbe betrachtete, interpretiert er den in Europa erfahrenen Rassismus als scheinbar „objektiven Blick“, als „ethnisches Merkmal“. Differenzen zwischen heller und dunkler Hautfarbe sind kein Grund, sich zu amüsieren, sondern Anlass für Angst. Sie stellen eine mentale Verbindung her zu Kannibalismus, Aberglaube und Unterwerfung. Diese Verbindung ist nicht per se vorhanden; sie wird vom Rassismus geschaffen und vom Kolonialismus aufrechterhalten. Sie überdauert auch die staatliche Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien von den europäischen Mächten.

Das dritte Beispiel verweist auf die vielfältigen Möglichkeiten des Widerstands gegen den Kolonialismus und seine Kultur prägende Macht. Nicht zufällig ist es dem Bereich der christlichen Religion entnommen, denn einerseits war diese Religion ein wichtiges Element der Stabilisierung kolonialer Herrschaft, andererseits enthielt sie immer auch Potenziale für den Widerstand und die kreative Ausgestaltung kolonialer und postkolonialer Kontexte. Damit wird auch bereits das Hauptthema dieses Buches transparent.

Die feministische und postkoloniale Theologin → KwokKwok, Pui-lan Pui-lan (Hongkong / USA) erzählt von einer Geschichte, die sie vor längerer Zeit in einem Archiv gefunden hatte („Ich habe längst vergessen, wo ich diese Geschichte gelesen habe“7). Eine Missionarin vom Beginn des 20. Jahrhunderts berichtete von einer chinesischen Frau, „die kaum lesen konnte“, aber mit Hilfe einer Nadel Verse aus der Bibel ausstach, um sie zu entfernen. Es waren die Verse, in denen der Apostel PaulusPaulus – der überlieferten Interpretation nach – „Frauen anwies, gehorsam zu sein und in der Kirche zu schweigen“8.

Trotz der kolonialen und missionarischen Situation, in der sie sich befand, war diese Frau weder unterwürfig noch verhielt sie sich passiv der aus Europa kommenden religiösen Unterweisung gegenüber.

„Anstatt sich der sexistischen Ideologie des PaulusPaulus anzuschließen, machte diese Frau von der Freiheit Gebrauch, auszuwählen und das, was sie als schädlich für Frauen ansah, zurückzuweisen.“9

Postkoloniale Theologie besteht für KwokKwok, Pui-lan nicht nur in der Erinnerung an solche Frauen und ihre kreative Aneignung bzw. Zurückweisung europäischer Herrschaftsansprüche auch innerhalb der christlichen Religion, sondern auch in einer Fortschreibung dieser Praxis, indem

„postkoloniale feministische Kritikerinnen und Kritiker […] die unzähligen Arten und Weisen [aufdecken], in denen Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftler, unter ihnen auch FeministInnen, entweder an Kolonialismus und Neokolonialismus beteiligt gewesen sind oder sich des Kolonialismus und Neokolonialismus nicht bewusst waren.“10

Darüber hinaus reflektieren postkoloniale Theologien auch das spirituelle Potenzial, das im Christentum entdeckt oder verwirklicht werden kann, um dem Anspruch von Herrschaft, Ausbeutung und Entfremdung, mit dem das europäisch-koloniale Christentum auftritt, zu widerstehen.

Menschen, die heute in postkolonialen Gesellschaften leben, können häufig selbst solche Geschichten von der Persistenz des Kolonialismus und des Widerstands gegen ihn erzählen. Sie finden sich in ihnen unmittelbar wieder. Auch MigrantInnen in Deutschland, People of Colour und Menschen, die in langen Auslandsaufenthalten interkulturelle Erfahrungen gesammelt haben, können sich hierzulande oft schneller damit identifizieren als ein großer Teil der bundesdeutschen Bevölkerung, der solchen Erfahrungen nicht dieselbe Bedeutung zumisst. Postkoloniale Theologien und Theorien werden daher in der Zukunft sicher auch in unseren Breiten eine wachsende Bedeutung in der theologischen Diskussion entfalten, teils Zustimmung finden und teils Ablehnung erfahren.

1.2 Postkoloniale Studien: Geschichte und Begriff

Im deutschsprachigen Raum gibt es bereits sehr gute Einführungen in die postkolonialen Studien, auf die hier verwiesen werden kann. Die wichtigste Sekundärliteratur wird im Anschluss an diesen Abschnitt vorgestellt. Der Überblick über Geschichte und Begriff des Postkolonialismus kann daher an dieser Stelle relativ kurz ausfallen. Theoretische Konzepte und Inhalte der postkolonialen Studien werden dann in den zentralen Kapiteln dieses Buches anhand ihrer Rezeption in die Theologie vorgestellt und diskutiert. Für eine vertiefte Befassung mit einzelnen AutorInnen und Begriffen der postkolonialen Studien muss auf die entsprechende Literatur verwiesen werden.

Postkoloniale Theorien wachsen aus der Vorgeschichte eines vielschichtigen Widerstands gegen die koloniale Herrschaft während der Kolonialzeit. Dieser Widerstand konnte sich im Alltag ereignen, auf juristischer oder philosophischer Ebene, im militärischen oder zivilen Bereich. Auch im religiösen Bereich sind zahlreiche verschiedene Formen des Widerstands bezeugt. Auf diesen Praktiken und Erfahrungen bauen die theoretischen Arbeiten des Postkolonialismus auf. Die starke Fokussierung postkolonialer und dekolonialer Theorien auf Diskurse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte diese Geschichte des Widerstands und des prophetischen Widerspruchs in all seiner Vielschichtigkeit nicht verdecken.

 

Für die postkolonialen Studien im engeren, heute gebräuchlichen Sinn des Wortes gab die staatliche Unabhängigkeit asiatischer und afrikanischer Kolonien in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst den Anstoß zu kritischen Untersuchungen in englischsprachigen Geschichts- und Literaturwissenschaften, in denen der Einfluss der kolonialen Macht auf die Interpretation Verbindung von kolonialer Macht und Wissensproduktionvon Geschichte und Literatur aufgedeckt wurde: Die Darstellung und Interpretation historischer Ereignisse und sowohl die Inhalte wie auch die Erzählweise und die Interpretation literarischer Werke gehorchten in vieler Hinsicht den Machtinteressen der Kolonialherren, auch nach dem Ende ihrer politischen Macht. Durch kritische Analysen und alternative Erzählungen konnte ein alternativer, befreiender Blick auf scheinbar bekannte Tatsachen entwickelt werden. Schnell wurde diese kritische Perspektive auf die Verbindung von kolonialer Macht und Wissensproduktion auch in anderen akademischen Disziplinen aufgegriffen. Der Fokus auf Texte, der den Literatur- und Geschichtswissenschaften eigen ist, bleibt den postkolonialen Studien jedoch bis heute als Erbe erhalten, das teils auch kritisch angefragt wird.

Als ein Schlüsselereignis der Entwicklung der postkolonialen Theorien gilt weithin die Veröffentlichung der Studie „Orientalismus“ des palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward W. SaidSaid, Edward 19781. Said zeigt nicht nur an literarischen Werken und wissenschaftlichen Arbeiten aus der Kolonialzeit, sondern auch an Gebrauchstexten wie Reisebeschreibungen und bürokratischen Texten, dass in allen diesen Bereichen das Wissen über die Gegenden, die als Orient bezeichnet werden, mit der Intention konstruiert wurde (und wird), die Menschen, die dort leben, besser beherrschen zu können und ihre Ausbeutung zu legitimieren.

Etwa gleichzeitig befasste sich die Subaltern Studies Group – ein Zusammenschluss südasiatischer WissenschaftlerInnen um den indischen Historiker Ranajit GuhaGuha, Ranajit – mit einer Kritik der europäischen (v.a. britischen) Geschichtsschreibung über Indien und historisch verbundene Staaten. Mit dem Begriff des/der ‚Subalternen‘ griff die Gruppe ein Konzept von Antonio GramsciGramsci, Antonio auf, das in den postkolonialen Theorien prägend wurde, um Menschen zu bezeichnen, die in verschiedener oder sogar vielfacher Weise unterworfen und ausgebeutet sind.2 Ein wichtiges Mitglied dieser Gruppe war die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty SpivakSpivak, Gayatri. Sie brachte nicht nur den französischen Poststrukturalismus in die Debatte ein, für den sie als Expertin galt, seit sie 1976 De la grammatologie von Jacques DerridaDerrida, Jacques ins Englische übersetzt und mit einer vielbeachteten Einleitung versehen herausgegeben hatte. Sie vertritt auch eine konsequent feministische Position im Postkolonialismus und integriert kritisch-marxistisches Denken.3

SpivakSpivak, Gayatri Epistemische Gewaltmacht auch darauf aufmerksam, dass die ↗ epistemologischen Voraussetzungen des Kolonialismus und die Ideen und Vorstellungen, mit denen er seine Herrschaft durchsetzt, nicht nur Gewalt nach sich ziehen, sondern als ↗ „epistemische Gewalt“4 bereits selbst beinhalten. Das scheinbare Wissen, das im Kolonialismus (und um seinetwillen) erzeugt wird, übt selbst Gewalt aus, da es konkrete Menschenbilder hervorbringt, durch die Menschen auf- und abgewertet werden und Herrschaft begründet wird.

Die Bereiche der interkulturellen Beziehungen und auch der Psychoanalyse wurden durch den indischen Literaturwissenschaftler Homi K. BhabhaBhabha, Homi mit den neomarxistischen und poststrukturalistischen Theorien des Postkolonialismus verknüpft. Durch BhabhaBhabha, Homi werden auch vielfältige, teils auch unbewusste Formen des Widerstands in kolonialen Beziehungen beschreibbar. In kritischer Rezeption der Orientalismusthese von SaidSaid, Edward macht BhabhaBhabha, Homi darauf aufmerksam, dass Identitäten niemals eindeutig und statisch sind, sich vielmehr in ↗ Hybridisierungsprozessen bilden und verändern.5

Ein wichtiger Vorläufer der postkolonialen Bewegung war der Psychiater und Autor Frantz FanonFanon, Frantz, der in der französischen Kolonie Martinique in der Karibik geboren wurde, in Frankreich und Nordafrika lebte und auf diese Weise das französische Kolonialsystem aus sehr unterschiedlichen Perspektiven kennenlernte, nicht zuletzt im zweiten Weltkrieg und in den algerischen Befreiungskriegen. Sein 1952 publiziertes Werk „Schwarze Haut, weiße Masken“6 (aus dem oben ein narrativer Zugang zitiert wurde) ist ein einflussreicher Bezugspunkt für das Thema des Rassismus innerhalb kolonialer Beziehungen.

Die Auseinandersetzung mit dem RassismusRassismus ist auch eines der zentralen Anliegen von Achille Mbembes „Kritik der schwarzen Vernunft“7 aus dem Jahr 2013. Der kamerunische Politikwissenschaftler MbembeMbembe, Achille und FanonFanon, Frantz zeigen, wie der Rassismus alle Ebenen des europäischen Kolonialismus durchzieht, prägt und legitimiert. Weder die Entstehung und historische Ausprägung des Kolonialismus noch seine nachhaltigen Konsequenzen in der Gegenwart sind ohne diesen Rassismus denkbar. Umgekehrt erfährt auch rassistisches Denken und Handeln durch den sich etablierenden Kolonialismus einen signifikanten Aufschwung. Die Analyse der Konstruktion von Machtverhältnissen zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe gehört daher auch zum Kernbestand postkolonialen Denkens.

Lateinamerikanische Dekoloniale TheorieTheorien, die sich kritisch mit kolonialen Machtbeziehungen auseinandersetzen, werden häufig unter das Stichwort ‚dekolonial‘ gefasst. Diese lateinamerikanischen AutorInnen distanzieren sich immer wieder von den postkolonialen Studien asiatischer und nordamerikanischer Prägung. Sie üben Kritik daran, dass im Postkolonialismus die ökonomischen und politischen Aspekte der Analyse schwächer ausgeprägt seien und dass die postkolonialen Studien sich stark an europäischen poststrukturalistischen Diskursen orientierten. Diese Kritik ist ernst zu nehmen, darf dabei aber auch nicht verallgemeinert werden. Sie sollte vor allem nicht dazu führen, die berechtigten Anliegen der verschiedenen postkolonialen Strömungen nicht in fruchtbarer Weise miteinander in Dialog zu bringen.8 In dieser Einführung stehen diese kritischen Aspekte – so berechtigt sie im Einzelnen sein mögen – daher auch nicht im Vordergrund, ebenso wenig wie die verschiedenen Kritiken, die es jeweils innerhalb der lateinamerikanischen und der anglophonen Forschungen gibt. Das Ziel dieses Buches ist es vielmehr, die Bandbreite und Wirkmächtigkeit post- und dekolonialen Denkens und ihre Konsequenzen in der Theologie vorzustellen.

Die lateinamerikanische dekoloniale Theorietradition speist sich aus den dependenztheoretischen Arbeiten der 1960er und 70er Jahre, der Weltsystem-Theorie von Immanuel WallersteinWallerstein, Immanuel und der interkulturellen Befreiungsphilosophie von Enrique DusselDussel, Enrique. Hier bestehen auch wichtige Berührungspunkte mit der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung. Da viele der ‚dekolonialen‘ AutorInnen in den USA leben und arbeiten, wird der Diskurs über diese theoretischen Ansätze sowohl in spanischer als auch in englischer Sprache geführt.

Einen streng kolonialismuskritischen Akzent erhielt die Diskussion mit der Einführung des Begriffs der ↗ ‚Kolonialität‘ durch den peruanischen Soziologen Aníbal QuijanoQuijano, Aníbal9, der in einem 1992 erschienenen Aufsatz damit die durchgängige Prägung der Denkweise ehemals kolonisierter Staaten und Kulturen bezeichnet, auch wenn die staatliche Unabhängigkeit – wie im Fall Lateinamerikas – schon seit zwei Jahrhunderten vollzogen ist. Für QuijanoQuijano, Aníbal ist diese Denkweise grundlegend im Rassismus begründet und zieht konkrete Auswirkungen auf wirtschaftliche Ausbeutung und soziale Exklusion nach sich. Später wurde der Begriff der Kolonialität in vielfacher Weise auch auf andere postkoloniale Beziehungen erweitert.10 Eine transdisziplinär arbeitende Arbeitsgruppe von WissenschaftlerInnen in Lateinamerika vertiefte unter dem Stichwort „Modernidad/Colonialidad“ oder „Modernität/KolonialitätModernität/Kolonialität“ die wechselseitigen Beziehungen zwischen der europäischen Moderne, dem Kolonialismus und der Kolonialität sowie ihre vielfältigen Konsequenzen in zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Bereichen.11

Einer der profiliertesten Vertreter dieser Gruppe, der argentinische Literaturwissenschaftler Walter D. MignoloMignolo, Walter, verweist in seinen Arbeiten auf das prägend kolonialistische Erbe im europäischen Denken seit der Moderne und ruft zum „epistemischen Ungehorsam“12 auf. Darunter versteht er ein Denken über die von der kolonialen ↗ Epistemologie vorgegebenen Grenzen hinaus. Zahlreiche dekoloniale TheoretikerInnen greifen daher auf indigenes und afroamerikanisches Denken zurück und konstruieren von dort aus Kritiken an europäischen und kolonialen Denksystemen.13

Nicht nur in Lateinamerika ist das postkoloniale Denken sehr stark vom FeminismusFeminismus beeinflusst. Zahlreiche AutorInnen weltweit analysieren die wechselseitigen Beziehungen von Kolonialismus und Sexismus, in denen beide sich wechselseitig bestärken und aufgrund derer das koloniale Denken sich bis heute in besonderer Weise im Geschlechterverhältnis äußert. Die argentinische Anthropologin Rita SegatoSegato, Rita untersucht beispielsweise die komplexe Interdependenz zwischen Kolonialismus, Sexismus und Rassismus im Leben indigener Völker.14 Dass ein postkolonialer feministischer Diskurs auch nichtsprachliche Elemente einschließen muss, zeigt die bolivianische Soziologin Silvia Rivera CusicanquiRivera Cusicanqui, Silvia, die unter anderem Bilder, Theater, Webarbeiten und das Teilen von Essen in ihre soziologischen Arbeiten integriert.15

Heterogenes und differenziertes FeldNicht nur diese letzten Beispiele machen bereits deutlich, dass es sich bei den postkolonialen Studien um ein äußerst vielschichtiges, heterogenes und differenziertes Feld handelt. Es befindet sich auch in der Gegenwart immer noch in der Entwicklungsphase und verändert sich in dynamischer Weise. Diese Unübersichtlichkeit ist durchaus verständlich, denn die postkoloniale Kritik bezieht sich ausdrücklich auf bestimmte konkrete Kontexte, die von ihrer jeweiligen Geschichte, Kultur und Politik geprägt sind. Dass die Ergebnisse dann sehr unterschiedlich ausfallen, muss geradezu erwartet werden. Auch dass zwischen VertreterInnen postkolonialer Theorien bisweilen heftige Konflikte ausbrechen oder bestehen, kann nicht verwundern. Denn keine dieser Theorien kommt ohne einen – wie auch immer gearteten – Bezug auf die europäische Geistesgeschichte aus, während diese von ihnen ja zugleich aufs Schärfste kritisiert wird. Der indische Historiker Dipesh ChakrabartyChakrabarty, Dipesh nennt dies ein „postkoloniales Dilemma“: