Frostige Gefühle

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Frostige Gefühle
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Sigrid Uhlig

Mit dem Schreiben von Gedichten begann sie in der achten Klasse. Berufsausbildung, Studium und die Familie waren wichtiger als Hobbys. 1982 zogen sie von Mecklenburg/Vorpommern nach Dessau.

Seit 1984 gehört sie dem Zirkel „Schreibende Arbeiter“ der ehemaligen Maschinenfabrik und Eisengießerei unter der Leitung der Dessauer Autorin Ursula Hörig an. Dieser Zirkel arbeitet noch immer.

Bisherige Veröffentlichungen:

Anthologien und regionale Presse,

„Teneriffa-Märchen“ im Projekte-Verlag,

„Wehre dich deiner Haut“ im Engelsdorfer Verlag.

Sigrid Uhlig

FROSTIGE GEFÜHLE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2019

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Cover: „Wachsmalerei“ von Sigrid Uhlig

Künstlerische Beratung: Brunhilde Wagner, Blankenburg/Harz

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Das Treffen der Elemente

Zuhause

Im Unbekannten Land der Frommen

Unterwegs

Dorf Eins

Dorf Zwei

Dorf Fünf

Dorf Vier

DAS TREFFEN DER ELEMENTE

Im größten Canyon unserer Welt trafen sich unweit eines lautstarken Wasserfalls seltsame Gestalten. Mehrere standen, andere schwebten hin und her oder im Kreis, und der Rest lagerte auf weichen Moospolstern. Eine Unterhaltung war nicht möglich, da die Wassermassen mit ganzer Kraft wirbelnd und laut auftrumpfend in die Tiefe stürzten, um im Flussbett allmählich Ruhe zu finden.

Langsam wurde es dunkel. Der Mond hatte sein Gegenüber, die Sonne, verlassen und war vom Himmelszelt herabgestiegen. Da noch nicht alle Eingeladenen anwesend waren, vertrieb er sich die Wartezeit, in dem er auf dem Rand des Canyons entlang rollte. Leise kichernd gab er sich ganz diesem Vergnügen hin.

Jetzt warteten alle nur noch auf die Sonne, die noch einige Zeit brauchte, um ihre Umlaufbahn zu beenden. Inzwischen war der Mond auf die Idee gekommen, nicht nur über die kleinen Felsspalten, sondern von einer Seite des Canyons auf die andere zu springen. Seine Fröhlichkeit war ansteckend und drang sogar durch das Tosen des Wasserfalls bis auf den Boden der Schlucht.

Nun war auch die Sonne eingetroffen. Den ganzen Tag schien sie vom wolkenlosen Himmel und war ziemlich erschöpft und blass, so dass es ihr keine Mühe bereitete, auch ihre vorwitzigsten und neugierigsten Finger, die wir Menschen als Strahlen wahrnehmen, schlafen zu schicken.

Mutter Erde hatte die Elemente und Wandler eingeladen. Damit keine Unbefugten sie sehen oder gar belauschen konnten, hatten die Dunkelheit und der Wind die Menschen weit fortgetrieben. Der Nebel verschloss die Sicht von oben mit einer dicken Watteschicht. Während ihm alle zusahen, wie er sein Werk vollendete, erhob sich eine Gestalt und berührte mit eisiger Hand das sprudelnde Wasser. Sofort erstarrte es und bizarre Eisformen bildeten sich.

Die tiefen Furchen auf der Stirn von Mutter Erde zeigten ihren Ärger an. „Dazu hattest du keinen Auftrag!“

Frau Kälte warf ihr einen verächtlichen Blick zu und schwieg. Die Sonne schenkte dem Eis ein Lächeln. Sofort schmolz es, und nur noch sanft flüsternd fielen die Wassertropfen vom Berg.

Mutter Erde begann zu sprechen: „Mit Absicht habe ich zu diesem Treffen eingeladen und nicht die verantwortlichen Götter, denen ihr untersteht. Wie ausreichend bekannt ist, sind beim letzten Mal viele wichtige Hinweise gar nicht oder verstümmelt bei den Adressaten angekommen. Aber ich will keine langen Vorreden halten und auch niemanden für das Misslingen verantwortlich machen. Wichtig ist nur, wir lernen aus den Fehlern. Es geht wieder einmal um das Zusammenleben zwischen uns und den Menschen. Beide Seiten schaffen es nicht, miteinander zufrieden zu sein.“

Kaum war der letzte Ton von Mutter Erde verklungen, begann eine rege Diskussion. Untereinander beschwerten sie sich, was die Menschen doch für undankbare Geschöpfe seien.

Nichts könne man ihnen recht machen. Sie glaubten, alles zu wissen. Dabei wüssten sie gar nichts. Ständig forschen sie und behaupten, uns schützen zu wollen. Als ob wir ihren Schutz nötig hätten! Ohne sie wären wir viel besser dran.

Bevor noch jemand seinen Unmut kundtun konnte, schaltete sich Mutter Erde in die Debatte ein. „Stopp, stopp, meine Lieben! Gäbe es bei den Menschen zum gleichen Thema eine Versammlung, was sagten sie wohl über uns?“

Bestürztes Schweigen trat ein. „Genauso wie wir jetzt“, sagte Mutter Erde. „Sie geben uns oder zusammengefasst der Natur die Schuld. Immer wieder muss ich feststellen, dass wir alle sehr vergesslich sind. Ohne unser Dazutun spazierten die Menschen nicht auf mir herum. Wollen wir sie vernichten?“

Jedes Jahr sterben Menschen durch die Elemente und Wandler, durch Erfrieren, Hitze, Ertrinken, Erdbeben, Lavaausbrüche, Sturm. Nicht etwa, dass einige von ihnen Unschuldsengel wären. Aber alle Menschen? Dem Wasser fiel sogleich ein, wie glücklich Peter im Närrischen Meer badete. Diesen liebenswerten Jungen sollte er ertrinken lassen? Auch andere Menschen, die er sehr gern mochte und mit denen er oftmals nicht gerade höflich umgegangen war, sollten sterben? „Nein!“, schrie es verzweifelt. Eine riesige Welle stürzte in den Fluss. Selbst der Nebel konnte den Aufschrei nicht dämpfen, und alle erschraken auf das Heftigste. Dieses „Nein“ hing wie das Damoklesschwert über den Anwesenden.

Die Kälte klirrte vor Empörung über das Wasser. Die Sonne stimmte in das „Nein“ ein. Da der Mond seine schöne Schwester nie im Stich lässt, unterstützte er das „Nein“.

„Gut“, sagte Mutter Erde, „dann sollen die Menschen leben. Etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet.“

„Wie kommst du darauf?“, unterbrach sie das Feuer. „Weder ich noch der Wind, die Luft, der Nebel und die Kälte haben zugestimmt. Wir sind fünf, also die Mehrzahl.“

„Ich stimme für „Nein“, mischte sich der Nebel ein, „und die Meinung von Mutter Erde haben wir eben gehört.“

Die Kälte enthielt sich ihrer Stimme.

Der Wind entschied sich für „Nein“. Die Menschen sollten nicht sterben. Es war doch lustig, den Mädchen und Frauen unter die Kleider zu fahren, sie hinter den davonfliegenden Handtaschen oder Hüten her laufen zu lassen und sie ungestraft überall berühren zu dürfen. Er trieb aber nicht nur Unfug. Erhitzen Gemütern kühlte er die glühenden Gesichter. Die trocknende Wäsche umgab er mit seiner unnachahmlichen Frische.

Die Luft bewegte sich wie auf einem Schaukelstuhl. Wippte sie nach vorn, sagte sie „Ja“. Ging der Schwung nach hinten, sagte sie „Nein“.

Nach einigen Minuten machte Mutter Erde dem Spiel ein Ende. Alle wussten, dass von der Luft keine Entscheidung kommen werde.

Mürrisch prasselte das Feuer: „Dann soll es eben so sein, mögen die Menschen leben. Hoffentlich rauben sie jedem Einzelnen von euch ganz brutal den Nerv.“

„Mutter Erde, ich möchte daran erinnern, dass Vollmond ist. Du weißt sicher schon, wie es weitergehen soll?“

„Ja, in der Tat. Alle Elemente und Wandler sollen in Extreme verfallen, nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. Die Kälte beginnt. Ist diese Periode überwunden, wird die Sonne den Planeten zum Glühen bringen. Schauen wir mal, wie die Menschen darauf reagieren und was sie zu tun gewillt sind, um das Gleichgewicht wieder her zu stellen. Ihr werdet euch selbstverständlich gegenseitig unterstützen. Und noch eines ist mir wichtig! Bestraft nicht immer die Ärmsten der Armen. Lasst ihnen ihre Hütten. Nehmt die, die das Sagen haben. Macht die Paläste zeitweilig unbewohnbar, damit sie lernen, wie wertvoll Hütten sind.“

„Ich nehme an, der Vorschlag von Mutter Erde ist einstimmig angenommen“, und ohne eine Antwort abzuwarten, stieg der Mond mit Siebenmeilenstiefeln zum Himmel empor. Dort nahm er sein aus dem Flaum der Himmelsschäfchen gewebtes Tuch und putzte die Nebelfeuchtigkeit von seinem Körper. Dann schickte er einen Strahl in Peters Zimmer und kitzelte ihn an der Nase.

 

„Hatschi“, nieste Peter und schlief weiter.

Der Mond lächelte und begab sich auf seine Himmelstour. „Hoffentlich sitzen sie im Canyon nicht noch ewig“, dachte er. „Es wird Zeit für die Flut. Dazu brauche ich das Wasser.“

Dem Mond war nicht entgangen, dass die Furchen im Gesicht von Mutter Erde noch tiefer geworden waren, als die Kälte den Wasserfall abstellte. Er betrachtete das Wasser als das Blut der Erde, während das Feuer behauptete, es sei das Blut der Erde. „Warum sollte Mutter Erde bei ihrer Größe nicht zwei unterschiedliche Blutbahnen haben?“, überlegte der Mond.


ZUHAUSE

hatte Peter von seinen Erlebnissen erzählt. Oft waren auch Marions und seine Clique dabei. Dann wurde eifrig gestritten, ob ein anderes Wort gleichen oder ähnlichen Inhaltes gereicht hätte, um in den nächsten Kreis zu gelangen. Die älteren Jugendlichen waren der Meinung, sie hätten dieses oder jenes anders gemacht. Marion glättete die Wogen und gab zu bedenken, dass nicht sie, sondern Peter die Aufgaben lösen musste und er fünf bis sechs Jahre jünger sei als sie.

Meistens hörten die Eltern schweigend zu. Anfangs konnte Peter seine Enttäuschung über Hillarius nicht verbergen.

„Auch wenn du enttäuscht bist“, sagte der Vater. „Hillarius hat pflichtbewusst gehandelt. Du weißt doch, dass ich von meinen Soldaten oft Unmögliches verlangen muss, was du als normal betrachtest. Du tust es nur, weil du Einiges über meine Arbeit weißt. Was aber weißt du über die Arbeit von Hillarius? Und sei mal ehrlich: Bringst du für andere immer die Geduld auf, die du für dich erwartest?“

Peter wurde sehr nachdenklich. „Vielleicht hätte ich den Garten nicht umzugraben brauchen, hätte ich es erkannt und ‚Pflichtbewusstsein‘ gesagt.“

„Ob es so war oder nicht, werden wir nie erfahren. Verlangst du nicht zu viel von dir? Denke an dein Alter. Auf Grund dessen fehlen dir die Erfahrungen, die du erst im Laufe deines Lebens erwerben wirst.“

Nach einiger Zeit trat Ruhe ein. Alle „Aber“, „Täte“, „Hätte“, „Könnte“, „Würde“ waren von allen Seiten behandelt und ausdiskutiert worden. Die Familie führte ein ganz normales Leben.

Ein Schuljahr war vorbei. Das nächste hatte begonnen. Bereits Mitte September wurde es empfindlich kalt. Auch der Oktober brachte keine warmen Herbsttage mehr. Der Sommer glitt von einem Tag auf den anderen in den Winter über. Die Menschen stürmten die Geschäfte nach warmer Kleidung. Selbst die sehr alten Leute konnten sich nicht an eine so langanhaltende extreme Kälte erinnern. Das alte Jahr ging zu Ende. Das neue war bereits zwei Monate alt. Jeder hatte gehofft, dass es Ende Februar endlich wärmer werde. Nichts geschah.

Die Eltern betrachteten Peter mit Besorgnis. Ständig sah er blass und erschöpft aus. Sogar Marion fragte: „Sag mal, Kleiner, bist du krank?“

„Könntest dir das endlich mal abgewöhnen, bin genauso groß wie du“, knurrte er.

Gemeinsam hatten sie sich zu einem Parkspaziergang durchgerungen. Vor einem Teich blieben sie stehen. Marion und Peter waren traurig, wenn es Winter ohne Kälte gab und sie auf ihm nicht Schlittschuhe laufen konnten. Obwohl er in diesem Jahr sicher bis auf den Grund zugefroren war, verspürten sie bei den Temperaturen nicht die geringste Lust dazu.

„Ich schließe mich Marion an“, sagte der Vater. „Du siehst wirklich schlimm aus. Warum redest du nicht mit uns über deine Sorgen oder Probleme?“

Ständig diese lästige Fragerei!

„Ob es wichtig ist, weiß ich nicht“, meinte Peter einlenkend. „Ich schlafe schlecht und träume fast jede Nacht den gleichen Traum. Bestimmte Personen aus dem Land der Gefühle rufen dauernd um Hilfe. Wie soll ich da hinkommen?“ Er hob ratlos die Schultern. Das Eis schien zu bersten. Dicke Schollen wurden vom Grund hochgeschoben. Peter und Bella waren verschwunden.

„Bitte, bitte, nicht schon wieder! Warum können wir keine ganz normale Familie sein?“ Den Tränen nah, sah die Mutter Marion und ihren Mann fragend an.

IM UNBEKANNTEN LAND DER FROMMEN

Dunkelheit umgab Peter. Er schien zu schweben. Neben ihm winselte Bella. Bei dem Versuch, wieder Boden unter den Füßen zu bekommen, wollte er nach dem Arm des Vaters greifen. Doch er griff in Bellas Fell. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkle. Bella und er befanden sich in einer durchsichtigen Luftblase. Daneben tauchte Prinzesschen auf und winkte ihnen zu. Mit einem kräftigen Schwanzschlag schwamm sie an ihnen vorbei, ergriff ein Seil, das an der Blase angebunden war, und zog sie wie ein Luftballon hinter sich her. Die Reise schien Stunden zu dauern. Versuchte Peter, Halt zu finden, beulte die Hülle aus, und er griff ins Leere. Endlich, endlich war mit dem Erscheinen des Tageslichtes das Ende der Reise in Sicht.

Vorsichtig wurde die Blase aus dem Wasser auf einen Laufsteg gehoben. Die Kälte nahm sie sofort in Besitz, und sie platzte. Helfende Hände befreiten Peter und Bella vom Rest. Peter sah sich um. Es war der Steg zum Unbekannten Land der Frommen. Prinzesschen winkte ihnen zu und tauchte ab.

Bella hatte ihre Begrüßungszeremonie bereits beendet. Vier Männer umringten Peter. „Da seid ihr ja endlich. Hätten wir noch länger warten müssen, wären wir erfroren.“

Hillarius kam ihnen entgegen. „Kommt schnell ins Warme.“ Sie betraten das Kloster. In einem Raum standen auf einem Tisch sechs Tassen, aus denen Dampf stieg. Der Koch schnupperte: „Ingwertee, der wärmt durch.“

Nachdem alle ihre Handschuhe ausgezogen hatten und die Hände an den Tassen wärmten, sagte Hillarius: „So, Peter, jetzt können wir dich begrüßen. Den Kapitän, den Koch und die beiden Matrosen kennst du ja. Das Närrische Meer trägt eine dicke Eisschicht. Das Schiff gibt es nicht mehr. Der Frost hat es in einzelne Planken zerlegt. Die vier waren verantwortlich, den Anlegesteg eisfrei zu halten, damit du und Bella hier anlanden konntet. Du hast selbst gemerkt, wie kalt es hier ist, viel kälter als bei dir Zuhause. Du warst noch nicht lange weg, als diese unsägliche Kälte über uns hereinbrach. Seitdem konnten wir nicht säen und nicht ernten. Reserven an Lebensmitteln sind kaum noch vorhanden. Alles Wasser ist metertief gefroren, so dass es immer erst aufgetaut werden muss. Die Menschen sind in ihrem Wesen so kalt geworden wie die Umgebung draußen. Natürlich musst du erst wieder durch die Quarantänestation.“

„Hillarius, welche Strafe hast du dir diesmal für mich ausgedacht? Ich gestehe dir ganz freimütig, sie hat nicht gewirkt. Ich helfe sehr gern, obwohl mir im Augenblick noch nicht klar ist, wie. Aber irgendwann möchte ich nur noch nach Hause. Schade, dass Gina nicht da ist.“

„Peter, wir vier würden dir sehr gern helfen. Vielleicht nimmst du uns als Ersatz für Gina mit?“, bot der Kapitän an.

„Käpt’n, das darf ich nicht zulassen. Gegen die Gesetze darf nicht verstoßen werden“, ermahnte ihn Hillarius.

„Ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen“, widersprach der Kapitän. „Würdest du unsere Hilfe annehmen, Peter?“

„Selbstverständlich!“

Hillarius schüttelte den Kopf. „Was macht ihr mit mir? Obwohl ich euch persönlich kenne, müsst ihr durch die Quarantänestation, wenn ihr Peter begleiten wollt.“

„Dann fang gleich mit mir an“, forderte der Koch. „Zur Feier des Tages möchte ich heute was Vorzügliches auf den Tisch bringen.“

Während Hillarius und der Koch in die Behandlungsräume verschwanden, begaben sich die anderen in ihre Zimmer.

Peter und Bella liefen, nein, sie rutschten und schlitterten durch den Wald. Bella versuchte mit ihren Krallen Halt zu finden. Als sie erneut ausglitt, bellte sie wütend dieses kalte Etwas an und versuchte hineinzubeißen. Ein kleines Eisstück hatte sie zwischen den Zähnen, auf dem sie krachend herumkaute, bis es schmolz. Die Kälte schien ihr nichts auszumachen. Peter hatte über seine Mütze die Kapuze weit ins Gesicht gezogen und die Hände tief in die Taschen seines Parkas geschoben. Trotz der widrigen Wegverhältnisse versuchte er, zügig voranzukommen.

Der Koch war aus der Quarantänestation zurück.

Aus dem Wenigen, das er vorfand, hatte er eine schmackhafte Suppe gezaubert. Er hatte sich nicht geirrt. In der Vorratskammer fand er viele getrocknete Kräuter, die er bis auf ganz wenige alle kannte.

Es hätte ihn auch gewundert, gäbe es in einem Klostergarten keine Kräuter. Im Topf blieb nicht ein Tröpfchen Suppe zurück. Nach dem Essen blieb man bei Ingwertee noch zusammen. „Hat dich Hillarius auch richtig unter die Lupe genommen?“, versuchten die Matrosen den Koch auszuhorchen. Er schwieg.

„Hab dich nicht so“, sagte Rubens.

Hillarius erklärte ihm, dass er darüber nicht reden dürfe. „Warum nicht, wir werden doch alle untersucht?“

„Vielleicht verläuft sie bei dir ganz anders“, erklärte Hillarius. Wenn du so neugierig bist, kannst du gleich morgen drankommen.“

„Ich dachte, ich bin morgen dran“, warf Peter ein.

„Nein, du bist diesmal der Letzte!“

„Sehen die Wege im Land überall so aus wie im Klosterwald? Die Regentropfen müssen beim Auftreffen auf den Boden sofort gefroren sein. Seltsam das Ganze. Nicht eine Schneeflocke gibt es.“

„Was ist daran seltsam, Peter?“, fragte Hillarius.

„Weil der Boden kälter gewesen sein muss als die Luft. Sonst hätte es nicht geregnet, sondern geschneit oder gehagelt. Die Regentropfen hatten keine Zeit, zu zerplatzen oder zu zerlaufen. Deshalb sind die Wege so teuflisch. Die Regentropfen sind …“, er suchte nach dem richtigen Ausdruck, „sie sind erstarrt.“

Der Tisch begann zu tanzen. Die Tassen verrutschten. Die Wände des Klosters erzitterten. Das Eis im Närrischen Meer krachte ohrenbetäubend. Alle waren von den Stühlen gesprungen. Bella drückte sich schutzsuchend gegen Peters Beine, auf denen er sich durch die schwankenden Bewegungen des Raumes kaum selbst halten konnte.

„Ein Erdbeben?“

Das Entsetzen stand jedem Einzelnen ins Gesicht geschrieben. Hillarius gelang es, seine flache Hand auf den Tisch zu legen. „Ruhe, bitte Ruhe. Peter hat das Lösungswort für den Weg genannt. Es tut mir sehr leid Peter, bevor nicht alle Untersuchungen abgeschlossen sind, darf ich keinen gehen lassen. Ob das Lösungswort dann noch gilt, weiß ich nicht.“

Eine schmerzhafte Stille trat ein. Nach dem sie sich etwas von dem Schreck erholt hatten, sagte der Koch: „Für heute reicht es mir. Ich gehe schlafen.“

„Gute Nacht“, murmelte ein jeder und schlich mit immer noch zitterten Gliedern in sein Zimmer.

Die Untersuchungen waren abgeschlossen. Der erste Tag verging, auch der zweite, ohne dass Hillarius die Auswertungen vornahm. Am dritten Tag fragte Peter, wann es sein werde.

„Wenn alle Ergebnisse vorliegen“, antwortete Hillarius.

Es klopfte. Bevor jemand „herein“ sagen konnte, ging die Tür auf. Peter sprang von seinem Stuhl. „Gina!“

„Peter, mein Menschensohn!“

Sie umarmte ihn, schob ihn von sich weg, um ihn genau zu betrachten und wieder in die Arme zu nehmen. Dann schob Gina Peter erneut einige Schritte weg. „Bist du groß geworden, fast schon ein Mann“, stellte sie fest.

„Nun übertreib nicht“, brummte der Kapitän in seinen Fünftagebart. „Wir sind auch noch da.“

Ehe Gina den Herrn des Klosters und die Seeleute begrüßen konnte, war Bella der Ansicht, sie sei zu erst dran. Jeder für sich nahm es schmunzelnd zur Kenntnis. Damen lässt man den Vortritt!

Peter konnte nicht mehr an sich halten. Er prustete los vor Lachen. „Entschuldige Gina, aber in deinem Watteanzug siehst du wirklich zum Totlachen aus.“

„Bevor das passiert, kommst du lieber gleich mit mir, Gina. Darf ich bitten!“ Hillarius gab sich ganz als Kavalier.

Nun war klar, warum es noch keine Auswertungen gegeben hatte. Wie konnte es Peter nur vergessen? Bei ihm wurde die Dreieinigkeit im Land der Gefühle verlangt, „Mensch, Tier, Maschine.“ Warum es bei anderen nicht so war, darauf hatte er noch keine Antwort gefunden und von niemandem eine erhalten. Morgen würde es die Auswertungen geben. Dann konnten sie übermorgen das Kloster verlassen. Als Peter das erste Mal hier war, brauchten sie bei idealem Wetter zwei Tage bis zum ersten Dorf. Mit den Seeleuten stand er im Gerätehaus.

 

„Haben wir wirklich nichts vergessen, Käpt’n?“, fragte Peter. Ein riesiger Berg an Material lag vor ihnen. Gefunden hatten sie aber nur drei Schlitten. Die Kunst war nun, alles zu verstauen. Die Matrosen fertigten Kisten an und schraubten sie auf die Schlitten. Zu schwer durften sie nicht werden. Andererseits mussten sie damit rechnen, eine nicht absehbare Zeit unterwegs zu sein. Der Kapitän legte seine schwere Pranke auf Peters Schulter: „Wir schaffen es!“

Natürlich. Sie mussten es schaffen. Der Kapitän und seine Mannschaft waren ein Leben lang auf dem Närrischen Meer rumgeschippert. Sie wussten nichts vom Land.

„Wie viele Paar Socken haben wir?“, fragte Peter.

„Für jeden sechs Paar“, antwortete Rubens.

„Mehr nicht?“

„Da waren noch welche. Aber die müssen Riesen getragen haben!“

„Die sind genau richtig. Hole sie bitte. Wir ziehen sie über die Stiefel.“

„Socken über die Stiefel?“ Rubens und Freddy lachten. Der Kapitän würgte mit einer Handbewegung die Fröhlichkeit ab.

„Peter entschuldigt eure Unwissenheit. Ist es sehr glatt und man hat nicht solche Spikes wie Gina, dann zieht man Socken über die Schuhe oder Stiefel. Sie bremsen den Rutscheffekt. Bei diesen Wegen werden sie nicht lange halten. Also nehmt alles mit, was vorhanden ist.“

Die beiden stoben davon. Als sie mit einem prallen Beutel zurückkamen, trugen sie Socken über ihren Stiefeln.

„Hillarius hat mir erzählt, dass wir vom Schlimmsten ausgehen müssten. Alles, was ich bisher über Kälte im Fernsehen gesehen habe oder mir mein Vater erzählt hat, sei nichts dagegen, was wir im Land antreffen könnten. Und was machen wir mit Bella? Sie hat jetzt schon eine wunde Pfote. Hillarius reibt sie mit seiner Spezialsalbe ein. Den Rest gibt er uns mit. Damit muss äußerst sparsam umgegangen werden.“

„Leder hilft bei der Glätte nicht. Verbandsmaterial haben wir sehr wenig. Aber ich kann stricken. Wolle und Nadeln habe ich immer dabei. Bella wird so viele Strümpfe bekommen, wie ich bis zu unserer Abreise schaffe. Irgendwo habe ich Fellreste gesehen. Damit kann ich sie auspolstern. Kommt, helft mir suchen“, forderte Rubens sie auf.

Am nächsten Tag waren die Auswertungen. „Die Damen zuerst.“ Lange blätterte Hillarius in seinen Papieren. Dann sah er Gina an. „Du bist energischer geworden. Das muss aber kein Fehler sein. Die Damen dürfen gehen.“ Wieder blätterte er ewig. Die Spannung war kaum noch zu ertragen. Jedem einzelnen sah er streng ins Gesicht. „Die Herren sind alle durchgefallen. Peter, du mit deinem Heimweh und ihr? Hilfe ist verboten! Und was macht ihr? Ihr brennt vor Begeisterung, Peter helfen zu dürfen.

Macht bloß, dass ihr morgen verschwindet, bevor ich es mir anders überlege.“

Ein Jubelschrei erfüllte den Raum.

Der Tag ging viel zu schnell zu Ende. Eben hatte Peter den letzten Posten auf der Liste durchgestrichen. Alles war verpackt und mit Seilen gesichert. Es wurde eine kurze Nacht.

Woher Hillarius zum Frühstück Salzkartoffeln mit Rührei und Speck hatte, blieb sein Geheimnis. Mit vollem Bauch, körperlich gut durchgewärmt und mit den besten Wünschen von Hillarius verließen sie das Kloster. Bella musste erst von der ungewohnten Fußbekleidung überzeugt werden. Als sie dem Kontrolleur die Papiere geben wollten, öffnete er in einem Fenster eine winzige Luke. „Schiebt sie durch den Schlitz.“ Dann nuschelte er noch etwas, dass sich anhörte wie: „Müsst ganz schön verrückt sein, in die Eiswüste zu gehen“, und schon war die Luke wieder zu.

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