Dracula in Istanbul

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Dracula in Istanbul
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Serdar Kilic

DRACULA IN ISTANBUL

Schatten des Orients

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Der Anfang

Vlad Draculas Kindheit und Jugend

Liebesgeschichte auf dem Markt Taksim

Die Vermählung des Prinzen Mustafa mit Aysenur, der Tochter des Großkalifen

Besuch beim Sultan auf den Prinzeninseln

Van Helsings Ankunft und die Fahrt nach Erlangen, Bayern

Draculas Ankunft in der Türkei

Die Nervenklinik in Istanbul – Verlies der verlorenen Seelen

DER ANFANG

12. März 1853.

Es regnete kräftig, es donnerte, der Wind peitschte durch die Bäume und wühlte das Meer auf. Istanbul stand unter Wasser, die Einkaufsgassen waren überflutet, der berühmte Kapali Carsi, der große Basar, mussten schließen und jeder verbarrikadierte sich zu Hause. Mehmet schaute aus dem Fenster seines bescheidenen Zimmers im zweiten Stock des Turms direkt auf das Meer und auf das Schloss Kiz Kulesi. Er träumte wieder von der schönen Tochter des Sultans, die vor langer Zeit mit einem Fluch belegt worden war. Eine Wahrsagerin sagte dem Sultan voraus, dass seine Tochter von einem Schlangenbiss getötet würde. Daraufhin ließ der Sultan für seine Tochter eine Burg mitten auf dem Meer erbauen, damit sie weit entfernt von Schlangen lebte. Mit einem kompletten Heer und Dienern zog die Prinzessin auf die Burg, doch nach nur wenigen Wochen verstarb sie an den Folgen eines Schlangenbisses. Als Gemüse und Obst vom Land ins Schloss gebracht worden waren, lauerte eine Schlange in einem Korb und diese schlich sich eines Abends unbemerkt aus der Küche durch die Korridore der Burg hinauf in das Gemach der Prinzessin. Die nichtsahnende Prinzessin, die gerade dabei war sich bettfertig zu machen und ihre Haare vor dem großen Spiegel kämmte, wurde von der sich von hinten anschleichenden giftigen Schlange in den Fuß gebissen, sodass sie binnen Sekunden eines qualvollen Todes starb. Die Schönheit der Sultanstochter, die mit nur achtzehn Jahren starb, war weltweit bekannt: schneeweiße Haut, pechschwarze Haare so dunkel wie die Nacht, saphirgrüne Augen. Sah man ihr lang und tief in die Augen, schaute man in das Paradies, so sagte man. Seitdem, so erzählte man weiter, könne man des Nachts ihre Schreie und ihren Gesang vernehmen, wenn man sich auf dem Meer befand und sich der Burg näherte.

Mehmet war einundzwanzig Jahre alt und ein sehr gut aussehender, junger, lediger Mann mit dunkelbraunen Augen. Er trug schulterlanges schwarzes Haar, war von normaler Statur und kleidete sich im westlichen Stil, was zu jener Zeit als modern galt. Er studierte Architektur an der Universität in Istanbul, wo sein Onkel Sahin Hodscha Medizin, Theologie und Geschichte lehrte. Sahin Hodscha war Ende fünfzig, knochendürr, fast zerbrechlich. Seine grauen Haare versteckte er unter einem Fez – eine osmanische Kopfbedeckung –, und er trug immer ein grünes Seidentuch um den Hals, egal, ob es Winter oder Sommer war. Er galt als weiser Mann, der viel von der Welt gesehen hatte. In den Kriegen des Osmanischen Reiches diente er als Berater und Wissenschaftler dem Sultan Mehmed. Dazu sprach er fließend fünf Fremdsprachen – Arabisch, Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch. Die Leute sagten, er habe nicht alle Tassen im Schrank. Er verschwand einst spurlos für ein Jahr in Rumänien, und die Mehrheit der Leute erklärte ihn damals für tot. Er gelangte jedoch wieder nach Istanbul und erzählte mysteriöse Dinge von blutsaugenden Menschen, die fliegen können, sowie von Untoten. Der Sultan wusste über alles Bescheid und unterstützte ihn, stellte Sahin Hodscha sogar eine Einheit zur Verfügung, doch von den sieben Männern kehrten lediglich drei zurück. Das Unternehmen blieb ein Geheimnis des Sultans, der jedem, selbst Mehmets Onkel, verbot, je darüber zu sprechen; er verhängte sogar die Todesstrafe darauf. Von den Dreien, die zurückkamen, nahmen sich im Laufe der Jahre zwei das Leben und Sahin Hodscha war auch nicht mehr derselbe.

Als Mehmets Eltern bei einem Schiffsunglück ums Leben kamen, gab es nur diesen Onkel, der sich fortan um Mehmet kümmern musste. Die beiden lebten in einem Turm, gemütlich ausgestattet mit einem Kamin im ersten Stock des Wohnbereiches neben einer kleinen Sitzecke. Daneben eine provisorische, offene Küche mit einem Waschbecken und drei Regalen, die an der Wand befestigt waren, wo sich wenige Teller und Gläser stapelten. Frisches Trinkwasser holten sie aus dem Brunnen, der direkt an den Turm angrenzte. Im zweiten Stock befanden sich das stille Örtchen und das Badezimmer mit einer großen Wanne. Im dritten Stock fand man zudem zwei Gästezimmer vor. In Sahin Hodschas Schlafgemach standen ein schlichter, zweitüriger Kleiderschrank aus massivem Kiefernholz, ein Bett und ein Stuhl. Sein Schreibtisch war mit Büchern übersät. Mehmets Zimmer war ähnlich spartanisch eingerichtet. Seine architektonischen Zeichnungen von Gebäuden und Brücken, die ihrer Zeit voraus waren, hingen überall an der Wand. Vor dem Bett stand eine Truhe aus Kiefernholz, in der er die Sachen seiner verstorbenen Eltern aufbewahrte, die sein Onkel hineingelegt hatte: eine Schreibfeder, ein Anzug, eine goldene Taschenuhr seines Vaters, die nicht mehr funktionierte, ein Diamantring und ein Block voller Gedichte der Mutter. Im obersten Stock des Turms gab es eine bescheidene Bibliothek. Im Hintergrund hörten sie die Stimmen der Wellen, die unermüdlich gegen die alten Mauern prallten.

In jener Nacht 1853 wachte Sahin Hodscha schreiend und schweißgebadet auf. Mehmet der noch wach war, lief direkt in dessen Zimmer.

»Hattest du wieder einen Albtraum von diesem Dracula?«, fragte er seinen Onkel.

»Diesmal war es mehr als das! So real, so echt! Ich konnte fühlen, dass er immer näher kommt.«

»Schlaf wieder ein! Wir müssen im Morgengrauen aufstehen.«

Mehmet deckte den verschreckten Sahin zu.

»Er wird bald hier sein!«, flüsterte Sahin verwirrt.

Mehmet ging schmunzelnd zur Tür hinaus.

13. März, der Regen ließ nach, aber die Straßen blieben überflutet. Man konnte nicht vor die Tür treten. Mehmet entzündete das Feuer im Kamin, setzte Wasser für Tee auf und er und sein Onkel begannen zu frühstücken. Nur selten verbrachten sie solche innigen und gesprächigen Tage miteinander. Später am Abend dann bat Sahin Hodscha Mehmet zu sich in die Bibliothek und zeigte ihm Aufzeichnungen und Fotos aus den alten Zeiten. Er erzählte seinem Neffen, wieso er beinahe ein Jahr als spurlos verschwunden galt.

»Damals, 1821, geschahen in Transsylvanien unheimliche Morde an jungen Frauen. Die rumänische Polizei stand dem machtlos gegenüber. Der Tod kam in der tiefsten Dunkelheit und hinterließ Spuren der Verwüstung und Trauer. Die Mädchen verschwanden nachts, manche fand man, viele nicht. Diejenigen, die man gefunden hatte, wirkten meist verstört und verwirrt. Sie schienen nicht mehr von dieser Welt zu sein, sondern fern der Realität. Sie alle wiesen die gleichen Verletzungen auf: zwei Bisse am Hals oder am Handgelenk. Jemand hatte ihnen offenkundig das Blut ausgesaugt und nur so viel übrig gelassen, dass die Frauen überlebten. Die rumänischen Ärzte waren ratlos und brachten die Opfer in den städtischen Irrenanstalten unter. Der König Rumäniens bat kurzerhand türkische und englische Wissenschaftler und Mediziner um Hilfe. Und so geschah es, dass ich eingeladen wurde. Ich war zweiunddreißig jener Zeit und bereits ein erfolgreicher Wissenschaftler, einer der besten im Osmanischen Reich und ein enger Freund des Sultans. Eines Tages bestellte er mich zu sich in den Topkapi Palast und erteilte mir den Befehl, den Fall der aufgefundenen, verstörten Mädchen, die allesamt die gleichen Bisswunden am Hals trugen, aufzuklären. Neben mir trafen am 14. Dezember drei weitere Wissenschaftler, zwei Ärzte sowie eine spezielle Leibgarde des Sultans mit dem Schiff über das Kaspische Meer in Bukarest ein. Die Angelegenheit sollte kein Aufsehen erregen, weshalb wir uns mit den Engländern im BukarVilk – einem Bauernhotel, das außerhalb der Stadt lag – trafen. Wir diskutierten die ganze Nacht und kamen zu keinem Ergebnis. Wir stellten uns vor, welchen Kummer dieses Land zu erwarten hätte.

 

Einer der Engländer namens Van Helsing sprang plötzlich auf und schlug mit geballter Faust auf den Tisch.

›Ich kenne das Grauen! Ich war vor sechs Jahren schon einmal hier wegen der gleichen Geschichte. Allerdings in Gerogan im Süden Rumäniens‹, rief er sichtlich aufgebracht. Seine Hand und seine Stimme zitterten gleichermaßen und die Angst blitzte in seinen Augen auf. ›Er ist halb Mensch, halb Tier. Er kann fliegen, hat scharfe Zähne und bewegt sich flinker als der Schatten. Mit bloßer Hand hat er all meine Leute umgebracht, indem er ihre Körper mit seinen scharfen Zähnen durchbohrte. Er schien überall gleichzeitig zu sein, und nachdem er den Tod gebracht hatte, flog er davon. Er ließ mich am Leben, damit ich der Nachwelt von ihm, dessen Angesicht ich niemals gewahr wurde, berichte.‹

Ich und die anderen belächelten Van Helsing, der in unseren Augen Schwachsinn erzählte.

›Ihr werdet noch sehen, wartet ab!‹, schnaufte er wütend.

Van Helsing, damals ein vierzigjähriger, ernsthafter, stämmiger Wissenschaftler, Arzt und Theologe mit grimmigen Gesichtszügen und schulterlangen weißen Haaren, entstammte einer wohlhabenden Familie aus Yorkshire, England und ursprünglich war er ein angesiedelter Holländer. Er sprach sechs Sprachen fließend, darunter auch türkisch. Er lehrte an der Universität in Oxford, einer der renommiertesten Bildungseinrichtungen weltweit. Er war weit gereist, hatte viel gesehen und galt als einer der führenden Okkultisten in Europa.

Im Morgengrauen begaben wir uns mit zwei Kutschen auf den Weg nach Transsylvanien, wo sich die Geschehnisse am meisten häuften. Die anstrengende Fahrt zwischen Hügeln, Gebirgen und unheimlichen, geisterhaften Landschaften dauerte mehrere Tagesritte. Kommissar Igor, der verantwortliche Polizist, und seine Männer würden uns erwarten. Wir sollten uns im Gasthof Lukar in der Gemeinde Bucau treffen, einem kleinen Ort in Transsylvanien mit gerade einmal fünfzig Einwohnern. Im Ort lebten nur alte Menschen – weder Kinder noch junge Erwachsene. Doch als wir kurz vor Morgengrauen dort ankamen, sahen wir schon von weitem die Leichen von Männern und Frauen. Ihre Gliedmaßen lagen überall verteilt im Schnee, den das Blut tränkte, zerfleischt wie von Wölfen – darunter auch Kommissar Igor und seine Leute. Das komplette Dorf wurde ausgelöscht, kein Einziger überlebte. In der Luft hing der Geruch des Todes und eine beängstigende Stille sorgte für Unruhe.

›Dafür sind Dracula und seine Wölfe verantwortlich! Er weiß, dass wir kommen. Er hat sich an den Menschen in diesem Dorf gerächt, weil sie uns hierher bestellt haben. Auch wir werden sterben‹, sagte Van Helsing leise mit zittriger Stimme.

Die Leibgarden zogen plötzlich die Schwerter und Gewehre heraus, es herrschte Panik. Etwas Schwarzes flog durch die Luft, das aussah wie eine monströse Fledermaus. Wir konnten nichts erkennen, hörten nur die Wölfe heulen. Mir stehen heute noch die Haare zu Berge. Die Wolken schoben sich rasch zusammen und verdeckten das wenige Sonnenlicht, das über die Wipfel schien. Es wurde immer dunkler, fing an leicht zu schneien und mit den Flocken kehrte das Wesen zurück. Wir rannten zu den Kutschen und die Kreatur schnappte sich einen Mann nach dem anderen aus der Leibgarde. Wir ritten los, und als ich nach hinten schaute, sah ich, wie die Männer nacheinander aus der zweiten Kutsche herausgezerrt und zehn Meter weit in die Luft geschleudert wurden. Ihre Schreie werde ich nie vergessen. In der vorderen Droschke saßen außer mir zwei Kollegen und Van Helsing. Ich merkte, dass sich die Fahrt verlangsamte. Ich wollte herausfinden, warum, und sah nach. Der Kutscher saß nicht an seinem Platz, sondern war offensichtlich auch hingeschlachtet worden von dem grauenvollen Wesen. Ich musste unbedingt den Kutschersitz erreichen, um den Wagen zu lenken. Während ich mich unter höchster Anstrengung nach vorne begab, wären wir beinahe einen Abhang hinuntergestürzt, aber wir prallten gegen einen Baum und steckten im Schnee fest, was unser Leben rettete. Wir lagen alle zerstreut auf dem Boden, und als ich nach oben blickte, sah ich diese scheinbar menschliche Gestalt auf mich zufliegen. Die Kreatur wollte mich schnappen. Doch auf einmal schrie sie auf und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Die Wolken verzogen sich allmählich und das Sonnenlicht brach wieder hervor. Da ahnten wir, dass sich das Wesen vor der Helligkeit fürchtete. Wir liefen durch den Wald und gelangten in das nächste Dorf. Professor Yusuf, Doktor Yahya, Van Helsing und ich versteckten uns sechs Monate in einem rumänischen Kloster. Dies war der längste Winter meines Lebens. Es schneite ununterbrochen. Hätten wir uns auf den Weg gemacht, wären wir alle grausam erfroren oder den Wölfen zum Opfer gefallen. Wir vertrieben uns die Zeit im Kloster, indem wir den Mönchen beim Holzhacken und sonstigen Arbeiten halfen. Der oberste Geistliche hieß Mönch Radu, ein sehr frommer Katholik. Wir beobachteten das Zusammenleben der Ordensbrüder hinter den Mauern in ihren bescheidenen Räumlichkeiten, wie sie gemeinsam beteten, arbeiteten und aßen. Unsere beiden Religionen, der Islam und das Christentum, unterschieden sich kaum voneinander. Wir glaubten an den gleichen Gott, glaubten an das Gute wie an das Böse. Sechs Monate lang nahmen wir nur Bohnen, Wasser Reis und Brot zu uns. So auch die Mönche – trotzdem konnte man keine Unzufriedenheit in ihren Gesichtern erkennen. Sie waren ungemein nett zu uns und hilfsbereit, und ohne sie wären wir längst tot. Wir durften ihre mannigfaltige Bibliothek benutzen und machten uns mit den Familien und der Geschichte des Landes vertraut. Ich weiß nicht, wie viele Bücher ich gelesen habe und wie viele Nächte ich in der Bibliothek verbracht habe.

Eines Nachts hörte ich ein Schreien und Stöhnen einer Frau. Ich folgte der Stimme, die mich zum Ende des Verlieses der alten Gemäuer führte. Vor der Tür stand ein Mönch, der mir sagte, ich dürfe nicht hineingehen. Plötzlich öffnete sich die Tür, und ich sah eine junge besessene Frau ans Bett gefesselt. Ihr Gesicht war gezeichnet von Narben und Verletzungen und sie kam einem verfaulten Leichnam gleich. Ihre Augen waren blutrot, die Zähne spitz und ich sah vereiterte, dunkle Flecken auf der linken Halspartie. Sie sagte etwas mit tiefer, veränderter Tonlage in einer mir unbekannten Sprache. Radu bat mich, hineinzukommen. Verängstigt und vorsichtig betrat ich das Zimmer. Die Mönche redeten auf sie mit Gebeten ein: ›Verlass ihren Körper, du Dämon! Geh fort!‹ Aber es brachte nichts, das Geschöpf lachte nur laut und verschmähte die Mönche. Sie sah mir tief in die Augen. Ich konnte den Blick nicht abwenden und war wie in Hypnose erstarrt.

›Du wirst auch sterben, Sahin! Du und deine Gefolgsleute, ihr werdet alle sterben!‹, sagte sie.

Ich war erstaunt und fragte sie, woher sie meinen Namen kenne, doch sie lachte nur hämisch.

›Ich weiß alles über dich.‹ Dabei verdrehte sie die Augen und schlug den Kopf schnell, kaum sichtbar, nach links und rechts. Sie versuchte, einen Mönch zu beißen, der sich anschickte, ihre Fesseln wieder strammer zu ziehen. So etwas Dämonisches hatte ich nie zuvor in meinem Leben gesehen, es war äußerst angsteinflößend. Radu bemerkte, dass ich mich nicht wohlfühlte, und brachte mich vor die Tür. Er erzählte mir, dass sie das letzte überlebende Bauernmädchen in dieser Gegend sei. Man habe sie vor zwei Tagen kraftlos und verstört vor dem Kloster vorgefunden. Ich fragte, wieso man sie nicht in ein Krankenhaus bringe. Radu sagte daraufhin, es seien andere Mächte am Werk. Kein Arzt der Welt könne diesem seelenlosen Geschöpf helfen.

›Wenn Gott es nicht kann, kann es keiner, nicht einmal ihr Wissenschaftler, auch wenn ihr diesem Land helfen wollt, wofür ich euch dankbar bin. Die Mädchen, die in Krankenhäusern und Irrenanstalten untergebracht wurden, sind längst tot, weil sie frisches, warmes Blut brauchen. Bekommen sie es nicht binnen drei bis fünf Tagen, sterben sie.‹

Ich fragte wieder, was mit diesem Mädchen passieren werde. Radu erwiderte daraufhin: ›Wenn wir den Dämon aus ihr nicht rauskriegen, wird sie heute oder morgen sterben. Danach verbrennen wir ihren Körper, bis er zu Asche wird.‹

So geschah es auch, sie starb noch am gleichen Abend und ihre Leiche wurde vor dem Klosterfriedhof eingeäschert. Sie war nicht die erste Leiche, die hier verbrannt wurde. Wir lernten noch viel voneinander. Die Mönche hassten diese Gestalt ebenso wie wir. Sie nannten ihn Drac, Teufel, den Fürsten der Finsternis. Keiner von ihnen hatte je das Gesicht dieses Unheils gesehen, und wer es doch tat, der war schon gewiss im Jenseits. Mitte Mai besserte sich das Wetter, die Straßen konnten wieder befahren werden. Die Eistäler waren geschmolzen. Das Wasser, das über die Flüsse übergeschwappt war und die Straßen unter sich begraben hatte, ging wieder zurück. Danach kam jeden ersten Tag des Monats ein Kutscher aus dem nahegelegenen Dorf mit Fleisch, Käse und Tinte fürs Kloster. Er nahm uns schließlich mit in die Stadt. Wir verabschiedeten uns und bedankten uns bei den Mönchen für ihre Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit. Wir brachen im Morgengrauen auf. In den sechs Monaten, die wir in der Abtei verbracht hatten, sahen wir Drac nicht ein einziges Mal. Er mied das Kloster und seine Umgebung, weil der Ort gesegnetes Land war, so die Mönche. Lediglich die Wölfe umkreisten das Gelände Nacht für Nacht und heulten bis zum Morgengrauen. Es war zum Verrücktwerden und wir alle bekamen Albträume, die so real waren, dass sie mich jetzt noch ab und zu verfolgen. Dieses Land war verflucht, es machte andere Menschen aus uns, wir alle ließen einen Teil unseres Lebens zurück. Ein paar Tage später erreichten wir Bucaresti. Ich blieb mit meinen türkischen Kollegen ein paar weitere Wochen dort in der osmanischen Botschaft. Schließlich bestiegen wir in der Hafenstadt Varna ein Schiff, um nach Hause zu fahren. Van Helsing und ich versprachen uns, zurückzukommen, um das Ding zu töten. Ich machte mich dann auf den Weg zu deinem zweitältesten Onkel Yusuf nach Giresun am Schwarzen Meer, um in meinem Heimatdorf darüber nachzudenken, was ich aus meinem Leben machen sollte. Wollte ich weiterhin als Wissenschaftler arbeiten und nach Istanbul zurückkehren? Nach reiflicher Überlegung reiste ich doch wieder nach Istanbul, wo deine Eltern vier Jahre später verstarben, als du gerade mal acht Monate alt warst. Als Folge bist du in mein Leben getreten«, sagte Sahin Hodscha voller Stolz und beendete seine Ausführungen.

»Es ist spät geworden«, sagte Mehmet, den die Worte seines Onkels zwar berührten, dennoch stand er dessen Erzählung skeptisch gegenüber. Für ihn kam das Gehörte einer Gutenachtgeschichte gleich.

»Du wirst noch sehen, kleiner Neffe, du wirst noch sehen«, sagte Sahin Hodscha. Mehmet ging hoch in sein Zimmer, sah auf die Kiz Kulesi und schlief ein. Er wachte erschrocken auf, als er einen Wolf heulen hörte. So laut, dass die Leute vor Schreck in jedem Haus die Kerzen anzündeten. Die Stadt erhellte sich förmlich im Schein des Kerzenlichts. Mehmet lief panisch in das Zimmer seines Onkels.

»Hast du das gehört?«

»Natürlich!«, antwortete der Professor aufgeregt. »Er ist hier! Dracula ist hier! Hier in Istanbul!«

Mehmet schüttelte ungläubig den Kopf und ging wieder in sein Zimmer. Die Wölfe heulten erneut und ängstlich zog er sich die Decke bis zum Mund, schaute nach links und rechts und schlief nach einer Weile ein.

14. März, das Wasser zog sich zurück. Sahin Hodscha und Mehmet machten sich auf den Weg zur Universität. Sie gingen nach Beyazit und durchschritten den großen Basar, Kapali Carsi, der sich über einunddreißigtausend Quadratmeter erstreckte und rund zweitausend Geschäfte mit den verschiedensten Angeboten beherbergte. Hier konnte man frische Fische aus dem Bosporus, Gemüse und Obst aus dem eigenen Land, Gewürze aus dem Orient sowie exotische Früchte aus aller Welt erwerben, da die Osmanen noch einige wichtige Seelinien kontrollierten. Jeder musste Steuern an sie entrichten – eine finanzstarke Zeit für die Türken. Mitunter erhielten sie auch Waren wie Ledergewänder Seide oder Gewürze als Steuerersatz.

Als die beiden an der Universität ankamen, war die Stimmung vor Ort aufgebracht. Die Universität in Istanbul war im 19. Jahrhundert die meistgefragte in Europa und Asien; junge Männer aus aller Welt studierten dort. Gegenwärtig standen Polizisten und Mitarbeiter des Geheimdienstes des Sultans vor dem Gebäude und befragten die Studenten. Der Polizeichef und der Direktor eilten zu Professor Sahin Hodscha und baten ihn, mitzukommen zu den Schlafsälen der Studenten, welche sich im dritten Stock der Universität befanden, um eine Leiche zu inspizieren. Ein indischer Schüler namens Amar hatte einem Zimmergenossen die Kehle aufgeschlitzt. Auf dem Körper des Opfers waren okkulte, satanische Zeichen zu erkennen, überall war Blut. Sämtliche Spuren wiesen auf ein Opferritual hin. Amar saß auf seinem Bett und starrte kalt und leer in eine Richtung. Als die Polizisten und der Professor ihn befragten, antwortete er: »Die Ankunft des Meisters naht. Es ist bald so weit, es ist bald so weit.«

 

Der Polizeichef fragte stirnrunzelnd: »Wovon redest du? Was für ein Meister?« Aber Amar wiederholte immer wieder dieselben Worte. Daraufhin wurde er verhaftet und vorläufig in die Irrenanstalt gebracht, bis vom Gericht entschieden würde, was mit ihm geschehen sollte.

Sahin Hodscha wusste genau, was mit den verwirrten Worten des Studenten gemeint war. Ihm stockte der Atem, er wurde blass im Gesicht und stand kurz vor einer Ohnmacht. Die Beamten hielten ihn am Arm fest und setzten ihn auf einen Stuhl. Der Direktor Osman Bey fragte ihn, ob alles in Ordnung sei.

»Mein Kreislauf ist wohl zu niedrig und ich bin nicht mehr der Jüngste. Mein Alter macht sich bemerkbar. Ich kann heute nicht lehren und bleibe lieber zu Hause«, antwortete Sahin Hodscha.

»Selbstverständlich«, meinte der Direktor.

»Komm mit, wir müssen gehen«, flüsterte Sahin Hodscha zu Mehmet. Seine Stimme klang angstvoll und versagte ihm fast.

»Aber wohin Onkel?«, wollte Mehmet wissen.

»Komm einfach!«

Es regnete kräftig und donnerte. Sie liefen zum großen Hafen. Sahin Hodscha stolperte vorwärts und schien nervös zu sein. Als Mehmet ihn fragte, was los sei und ihn aufforderte, endlich zu sprechen, sagte dieser nur: »Beeil dich!«

An der Anlegestelle wandte sich Sahin Hodscha an einen Gemicibasi, Schiffsaufseher, eine Person, die alle Schiffe kontrollierte und die Ankunftspläne koordinierte. Sahin Hodscha fragte den Schiffsaufseher, ob ein Schiff aus Europa hierher unterwegs sei, und gab ihm zwei Silbermünzen.

»Ja, gleich morgen Früh erwarten wir ein Schiff aus Venedig in Italien und eins aus Frankreich.«

»Nicht Rumänien?«

»Nein, denn das wüsste ich als Erster«, antwortete der Hafenmitarbeiter.

Sie bedankten sich und gingen. Sahin Hodscha blieb trotz erkennbarer Erleichterung skeptisch. Das alles ergab für ihn keinen Sinn.

»Was soll das Ganze? Erzählst du mir endlich, was los ist? Was für ein Schiff aus Rumänien? Dachtest du etwa, Dracula kommt, nur weil der Schüler irgendeinen Unfug erzählt hat? Das war ein verwirrter, vom Teufel besessener, kranker Mensch! Morde passieren überall auf der Welt«, sagte Mehmet.

»Diesen Unfug habe ich damals oft vernommen, und zwar von den Leuten, die Bisswunden aufwiesen, und die wir als geistesgestört ansahen, exakt die gleichen Worte! Wir müssen wachsam bleiben, Augen und Ohren offen halten.«

Mehmet schüttelte den Kopf und schmunzelte.

»Wir müssen unverzüglich ein paar Vorkehrungen treffen«, sagte Sahin Hodscha mit besorgniserregender Stimme.

Sie begaben sich auf den Heimweg, kehrten unterwegs kurz in der Botschaft ein. Sahin Hodscha schickte ein Telegramm nach London zu Van Helsing mit der Nachricht: Er ist hier in Istanbul, komm bitte so schnell du kannst.

Mehmet war verwirrt, langsam wusste er nicht mehr, was er glauben sollte, und tat nur noch das, was ihm gesagt wurde. So kauften er und sein Onkel bei einem bekannten Schreiner Mengen an Holz, woraus sie unermüdlich die ganze Nacht spitze Pfähle schnitzten. Sahin Hodscha erklärte Mehmet, dass man Dracula nur mit einem Pfahl, den man ihm in das Herz rammen musste – am besten mit Silber – töten konnte, sowie durch das Sonnenlicht. Dracula hasse zudem Knoblauch, weil er in der türkischen Gefangenschaft dazu gezwungen wurde, ihn als Strafe für seine Aufmüpfigkeit zu essen.